Die Nahrungsaufnahme (und damit „Essen“) gehört zu den primären menschlichen Bedürfnissen; trotzdem manifestieren sich in der Kindheit und v. a. der Adoleszenz zahlreiche Störungen des Essverhaltens, die häufig mit anderen psychischen Störungen vergesellschaftet sind oder mit einem erhöhten Risiko für Adipositas, Essstörungen und anderen psychischen Störungen im Erwachsenenalter einhergehen. Auch die körperlichen Folgen von Essstörungen, insbesondere der Anorexia nervosa (AN), sind gravierend. Früherkennung und Frühintervention sind von großer Bedeutung, da die Heilungschancen in der Jugend deutlich höher als im Erwachsenenalter sind. Hierzu können die Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin einen wichtigen Beitrag leisten.

Für die Früherkennung bietet sich z. B. die J1 an, die während des Hauptmanifestationsalters der Essstörungen durchgeführt wird. Allerdings nehmen zu wenige Jugendliche an dieser Untersuchung teil. Trotzdem sollte in diesem Rahmen und bei „Routine“-Arztbesuchen nach der Symptomatik von Essstörungen gefragt werden.

Der vorliegende Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, die wichtigsten Essstörungen in der Adoleszenz – Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN) und verwandte unspezifische Essstörungen – vorzustellen sowie neue Entwicklungen in ihrer Konzeption, Klassifikation und Epidemiologie aufzuzeigen. Darüber hinaus erfolgt eine Einführung in die eher in der Kindheit auftretende vermeidend-restriktive Essstörung, die „Binge-eating“-Störung („binge eating disorder“, BED) sowie in die Bedeutung und Prognose gestörten Essverhaltens, das nicht alle Kriterien einer definierten Essstörung erfüllt.

Symptomatik und Klassifikation

Die ausgeprägte Angst vor dem Dickwerden sowie eine krankhafte, übermäßige Beschäftigung mit Körpergewicht und der Figur sind AN und BN gemeinsam. Der Wert der eigenen Person hängt vornehmlich von der Wahrnehmung des eigenen Körpers ab, und der Alltag wird durch Gewichtskontroll- und auffällige Essenspraktiken bestimmt.

Anorexia nervosa

Die Kriterien der neuen Ausgabe des amerikanischen Klassifikationsschemas Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5, [1]) verweisen auf eine Veränderung der Einstellung bezüglich des Krankheitskonzepts der AN. Während das DSM-IV [2] der Patientin aktive und absichtliche, die Erkrankung fördernde Verhaltensweisen in seinen diagnostischen Kriterien unterstellte (z. B. „Weigerung, das Minimum des für Alter und Körpergröße normalen Körpergewichtes zu halten“), sind die Formulierungen des DSM-5 symptombeschreibend und neutral (z. B. Kriterium A: „eine in Relation zum Bedarf eingeschränkte Energieaufnahme, welche … zu einem signifikant niedrigen Körpergewicht führt“ [3]. Zu dieser Konzeptionsänderung haben neurobiologische (u. a. genetische) Erkenntnisse der letzten Jahre sowie auch die von Betroffenen und Angehörigen wahrgenommene Stigmatisierung beigetragen (z. B. [22]).

Formulierungen des DSM-5 zur AN sind symptombeschreibend und neutral

Die Formulierung von Kriterium B „dauerhaftes Verhalten, das einer Gewichtszunahme entgegenwirkt, trotz des signifikant niedrigen Gewichts“, wird insbesondere kindlichen PatientinnenFootnote 1 gerecht, die vielfach keine Körperschemastörung oder ausgeprägte Gewichtsphobie erleben.

Im Gegensatz zu dem Gewichtskriterium für die Erwachsenen [Body-Mass-Index (BMI) ≤ 18,5 kg/m2] definiert das DSM-5 für Kinder und Jugendliche keinen Schwellenwert. In den deutschen S3-Leitlinien für die Diagnostik und die Behandlung von Essstörungen wird die 10. BMI-Perzentile empfohlen, die dem oben genannten Wert für das Erwachsenenalter entspricht. Der Entwurf für die Kriterien der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme schlägt die 5. Perzentile vor (ICD-11, http://www.who.int/classifications/icd/revision/en/). Dabei ist nicht nachzuvollziehen, warum trotz der gravierenden Konsequenzen eines chronischen Hungerzustands bei Kindern und Jugendlichen ein niedrigerer Schwellenwert als bei Erwachsenen mit möglichen krankenversicherungsrechtlichen Konsequenzen gewählt wird.

Sowohl in DSM-5 als auch in ICD-11 wird auf das Amenorrhö-Kriterium verzichtet, weil dies bei prämenarchalen Mädchen, Mädchen und Frauen unter Kontrazeptivaeinnahme sowie beim männlichen Geschlecht nicht anzuwenden ist und auch bei Hungerzuständen anderer Ursache vorkommt.

Bei der AN wird ein restriktiver Typus von einem Binge-eating-/ „Purging“-Typus unterschieden. Der Letztere ist meist mit gravierenderen medizinischen Komplikationen verbunden. In ca. einem Fünftel der Fälle geht die AN in eine BN über; der umgekehrte Verlauf ist sehr selten.

Bulimia nervosa

Im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, dass das kennzeichnende Kriterium der BN das Erbrechen sei, sind Heißhungerattacken mit Kontrollverlust das pathognomonische Merkmal. Im Gegensatz zu den diagnostischen Kriterien des DSM-IV (2-mal wöchentliches Auftreten der Symptomatik) fordert das DSM-5 nur noch ein einmal wöchentliches Auftreten von Heißhungerattacken und kompensierenden Verhaltensweisen. In mehreren Studien wurde aufgezeigt, dass sich Schweregrad und Prognose der Erkrankung bei höher- oder niederfrequenter Symptomatik nicht unterscheiden (u. a.: [5, 8]). Meistens beginnt die BN mit Fastenepisoden, die durch Heißhungerattacken unterbrochen werden. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme werden kompensierende Methoden wie Erbrechen, Laxanzien- oder Missbrauch anderer Medikamente (z. B. Schilddrüsenhormonpräparate, Diuretika), in selteneren Fällen auch extensiver Sport angewendet. Zu Beginn der Störung treten Heißhungerattacken oft bei Stress oder emotionalen Belastungen auf; im Verlauf der Erkrankung verselbstständigen sich diese jedoch häufig und werden regelhaft in den Tagesablauf eingeplant.

Je häufiger die Essattacken auftreten, umso häufiger sind somatische Folgestörungen.

Im Gegensatz zu früheren Befunden, bei denen die BN meistens mit einem normalen oder normal-niedrigen Gewicht verbunden war, tritt sie in den letzten Jahren zunehmend häufiger bei übergewichtigen oder adipösen Mädchen auf.

„Binge-eating“-Störung

Durch das DSM-5 und durch die zukünftige ICD-11 hat/wird BED einen eigenen Stellenwert erhalten. Binge-eating“-Störung bezeichnet ähnlich wie BN das regelmäßige Auftreten von Heißhungeranfällen, die mit Kontrollverlust einhergehen, jedoch nicht durch gewichtsreduzierende Maßnahmen (wie z. B. Erbrechen) kompensiert werden. Aus diesem Grund ist BED fast immer (aber nicht grundsätzlich) mit Übergewicht oder Adipositas vergesellschaftet. Viele Forscher weisen darauf hin, dass die exakte Konzeptualisierung der BED in Kindheit und Jugend schwierig ist. Die Definition einer Heißhungerattacke ist bei Kindern und Jugendlichen einer hohen Subjektivität unterworfen (z. B. die Auffassung, ob 3 Stücke Kuchen für einen 12-jährigen Jungen zu viel sind). Darüber hinaus kann die Nahrungsmenge durch die Eltern beschränkt werden, sodass das wahre Ausmaß des Heißhungers nicht deutlich wird. Einige Kinder beschreiben auch eine verminderte Aufmerksamkeit für die von ihnen aufgenommene Nahrungsmenge.

Kontrollverlust beim Essen ist im Kindes- und Jugendalter das wesentliche BED-Kriterium

Als wesentliches Kriterium für die BED im Kindes- und Jugendalter wird daher eher der Kontrollverlust beim Essen angesehen („loss of control“, [32]), der auch bei kleineren Speisen auftreten kann und sich – mehr als große Nahrungsmengen – als prädiktiv für späteres Übergewicht sowie die Entstehung von Depressionen und anderen psychischen Störungen erwiesen hat [30], s. unten).

Störung mit Vermeidung oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme

Diese Störung ist im Säuglings- und Kleinkindalter nicht selten und hat ebenfalls Eingang in das DSM-5 gefunden. Ungefähr 5–10 % der in Essstörungsambulanzen behandelten Kinder erfüllen die Kriterien [26]. Sie tritt vornehmlich im Kindes- (einschließlich Säuglings-)Alter auf und ist durch verschiedene restriktive Verhaltensweisen gekennzeichnet, die zur unzureichenden Nahrungsaufnahme mit nachfolgendem Untergewicht und häufigen emotionalen Störungen führen. Hierbei kann es sich z. B. um ein ausgeprägt wählerisches Essverhalten oder um Ängste vor dem Schlucken bzw. eine Emetophobie handeln. Hingegen beinhaltet die Störung im Gegensatz zur AN keine Angst vor einer Gewichtszunahme oder eine Körperschemastörung. Eine entsprechende Störung wird z. B. auch nach längerfristiger nasogastrischer Ernährung beobachtet.

Epidemiologie

Die höchste Inzidenz für die AN findet sich in der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen; ungefähr 40 % aller Neuerkrankungen treten in diesem Alter auf ([29]; Tab. 1). Während sich zwischen den 1980er und 1990er Jahren ein deutlicher Anstieg der Inzidenz der adoleszenten AN fand, bleibt sie nach derzeitigen Befunden im letzten Jahrzehnt auf hohem Niveau konstant. Allerdings liegen keine deutschen Daten vor. In der oben genannten epidemiologischen Studie aus Großbritannien, die auf einem Krankenregister der Primärversorgung durch praktische Ärzte beruht, betrug die jährliche AN-Inzidenz für die 10- bis 14-jährigen Kinder 24/100.000 [24]. Sowohl Daten aus England als auch aus Deutschland zeigen einen Anstieg der stationären Aufnahmen von kindlichen Patientinnen mit AN (http://www.hscic.gov.uk; Statistisches Bundesamt 2014, https://www.destatis.de, https://www.gbe-bund.de). Bisher ist nicht klar, ob es sich um einen tatsächlichen Inzidenzanstieg oder um eine verbesserte Diagnostik handelt.

Bei 9- bis 12-Jährigen mit Gewichtsverlust sollte nach Ausschluss anderer somatischer Faktoren das Vorliegen einer AN erwogen werden.

Tab. 1 Epidemiologie der Essstörungen bei Adoleszenten

Mit Wegfall des Amenorrhö-Kriteriums in den neuen Klassifikationsschemata ist von einem Anstieg der Inzidenz- und Prävalenzraten der AN auszugehen.

Im Vergleich zur AN beginnt die BN in der späteren Adoleszenz. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheinen die Inzidenzraten stabil zu bleiben; einige Studien gehen auch hier von einem eher jüngeren Manifestationsalter aus [11].

Inzidenzraten für die BED im Jugendalter liegen nach Wissen der Autoren des vorliegenden Beitrags nicht vor. Jüngste Prävalenzraten aus den USA nehmen 1–5 % an; die Prävalenz ist in den USA aufgrund der Häufigkeit von Übergewicht wahrscheinlich höher als in Europa. Das Geschlechtsverhältnis zeigt – im Vergleich zu AN und BN – eine höhere Betroffenheit des männlichen Geschlechts; genaue Zahlen liegen aber nicht vor.

Unspezifische Essstörungen, bei denen nicht alle Kriterien für die oben genannten „klassischen“ Essstörungen erfüllt werden, nehmen in ihrer Inzidenz zu [24]. Hierbei handelt es sich um die häufigste Essstörungsform überhaupt. In Großbritannien sind 5–10 % der adoleszenten Mädchen von einer Essstörung betroffen; zwischen 2003 und 2009 war die Häufigkeit der Essstörungen um 13 % gestiegen. In Deutschland ist die Zahl der von einer Essstörung betroffenen Jugendlichen ähnlich hoch (deutscher Kinder- und Jugendgesundheitssurvey, KiGGS; [16, 18]).

Ätiologie

Die Ursachen der Essstörungen sind bis heute nicht geklärt; es ist anzunehmen, dass die Risikofaktoren zwischen den einzelnen Störungen variieren. Die meisten Erkenntnisse liegen zur AN vor, sodass hierauf genauer eingegangen werden kann. Am ehesten ist von einer multifaktoriellen Genese bei genetischer und biologischer Prädisposition sowie Umwelt- und soziokulturellen Einflüssen auszugehen.

Genetische Disposition

Genetische Ursachen spielen eine wesentliche Rolle; das Risiko für ein weibliches Familienmitglied von Patientinnen mit AN oder BN, selbst an einer Essstörung zu erkranken, ist 7- bis –12-mal höher als für Angehörige gesunder Kontrollpersonen. Zwillingsuntersuchungen an großen Populationen lassen auf eine Heritabilität von 40–60 % für AN, BN oder BED schließen. Rezente genomweite Assoziationsstudien bei AN lassen keine ausreichenden Rückschlüsse auf Kandidatengene zu [6]. Im Gegensatz zu aussagekräftigeren Studien bei Adipositas, die auf ca. 250.000 Probanden beruhen und auch nur 6–11 % der Varianz aufklären konnten [31], müssen Untersuchungen bei AN und anderen Essstörungen aufgrund der niedrigeren Prävalenz der Störungen auf wesentlich geringeren Probandenzahlen aufbauen. Die genetischen Faktoren sind u. a. an der Ausprägung von bestimmten Persönlichkeitsfaktoren, die zu der Entstehung von Essstörungen beitragen, beteiligt.

Andere pränatale Faktoren

Ein pränataler Testosteroneinfluss, z. B. bei einer Schwangerschaft mit geschlechtlich unterschiedlichen Zwillingen, scheint einen protektiven Einfluss zu haben [9], während Schwangerschafts- oder Geburtskomplikationen – wie auch bei anderen psychischen Störungen – als Risikofaktor anzusehen sind.

Persönlichkeitsfaktoren

Individuen mit AN zeichnen sich oft schon vor ihrer Erkrankung durch introversives Verhalten und Störungen aus. So werden viele Patientinnen in ihrer Kindheit als ängstlich, perfektionistisch und zwanghaft charakterisiert, während Betroffene mit BN häufig extrovertierter und impulsiver sind. Aber auch bei der BN werden zwanghafte Persönlichkeitszüge beschrieben [13].

Kulturelle Faktoren

Oft lassen sich genetische von kulturellen Faktoren schwer trennen. Bei schwarzafrikanischen Bevölkerungen werden AN und BN kaum beobachtet, während BED häufiger ist. In einer Untersuchung auf Curacao konnte gezeigt werden, dass es keine an AN Erkrankten unter der schwarzen Bevölkerung gab, wohl aber in der zahlenmäßig geringen weißen und gemischten Bevölkerung [17].

Die Betroffenen hatten fast immer intensiven Kontakt mit der westlichen Kultur.

Diese bestanden z. B. in Auslandsaufenthalten oder Medienkonsum. Ähnliche Einflüsse finden sich in der letzten Zeit in China. Eine große Untersuchung konnte aufzeigen, dass das Risiko für Untergewichtigkeit stark vom Geburtsjahrgang abhing. Die jüngsten Frauen hatten ein deutlich höheres Risiko, untergewichtig zu sein, als die älteren [7]. Der Einfluss der sozialen Schicht spielt in den westlichen Ländern weiterhin eine wichtige Rolle: In Schichten mit höherem Bildungsniveau tritt AN häufiger auf [12].

Einfluss der Familie

Während lange Zeit familiäre Faktoren für die Entstehung von AN und BN verantwortlich gemacht wurden, wird heute neurobiologischen Faktoren eine größere Bedeutung beigemessen. Trotzdem lässt sich in der Laienpresse, aber auch bei Ärzten, Psychologen und Lehrern weiterhin eine Stigmatisierung von Eltern und Familien essgestörter Patienten finden. „Es gibt heute keinerlei wissenschaftliche Erkenntnisse, dass familiäre Faktoren die einzige oder primäre Ursache von Essstörungen sind. Verallgemeinernde Behauptungen, dass familiäre Interaktionsstörungen die Hauptursache sind, sollten daher unterlassen werden“ [20]. Selbstverständlich sind problematische Interaktionsformen oder geringe soziale Unterstützung als unspezifische Risikofaktoren zu betrachten.

Bedeutung der Pubertät

Obwohl auch die Essstörungen bei Kindern zunehmen (s. Abschn. „Epidemiologie“), ist ihr Hauptmanifestationsalter die Zeit um die Pubertät („Pubertätsmagersucht“) bzw. frühe oder mittlere Adoleszenz. Hier greifen wahrscheinlich mehrere Faktoren ineinander, die aus Tab. 2 hervorgehen. Der Anteil des Fettgewebes an der Gesamtkörpermasse nimmt bei 6-jährigen Mädchen von ca. 20 % auf 25–40 % bei 11-jährigen Mädchen zu, während er bei Jungen weitgehend konstant bleibt. Hormonelle Einflüsse spielen wahrscheinlich eine wichtige Rolle: Frühe Pubertät und fortgeschrittene pubertäre Entwicklung sind mit der Entstehung von Essstörungen assoziiert. Ausgehend von Zwillingsuntersuchungen scheint sich das genetische Risiko u. a. mit dem pubertätsbedingten Östrogenanstieg zu manifestieren [19]. Darüber hinaus spielen soziokulturelle Faktoren wie Medieneinflüsse und der Einfluss der Peergroup in diesem Lebensalter große Rollen. Die Bedeutung des Schlankheitsideals nimmt in der Pubertät zu.

Tab. 2 Pubertätsbedingte Risikofaktoren für die Manifestation von Essstörungen

Folgen

Somatische Folgeerkrankungen

Die somatischen Folgen der Starvation hängen vom Ausmaß und von der Geschwindigkeit des Gewichtsverlusts, dem Schweregrad des Untergewichts, der Dauer der Essstörung (bei chronisch Erkrankten findet eine Habitualisierung an den Hungerzustand statt) sowie der Häufigkeit und der Intensität von Purging-Maßnahmen (Erbrechen und Laxanzienabusus) ab. Kinder sind aufgrund ihres geringeren Körperfettgehalts durch die Starvation mehr gefährdet als Adoleszente.

Akute und chronische Effekte der Starvation

Durch die Starvation bedingte körperliche Veränderungen sind in Tab. 3 dargestellt. Hinzu kommen bei AN endokrinologische Veränderungen wie Low-T3-Syndrom, erhöhte Kortisol- und erniedrigte Sexualhormonkonzentrationen, einschließlich einer Erniedrigung der Gonadotropinkonzentrationen. Ähnliche Veränderungen lassen sich, wenn auch nicht so ausgeprägt, bei BN nachweisen.

Tab. 3 Essstörungsbedingte körperliche Veränderungen

Im akuten Hungerzustand findet sich bei Patientinnen mit AN sowohl eine Reduktion der weißen als auch der grauen Substanz des Gehirns. Letztere ist bei adoleszenten Patientinnen stärker als bei Erwachsenen ausgeprägt. Nach Remission der Essstörung findet sich in den meisten Studien eine Normalisierung des Hirnvolumens; es herrscht Unklarheit darüber, ob eine Restitutio ad integrum stattfindet [28].

Den hormonellen Veränderungen bei AN kommt besondere Bedeutung zu.

Das Wachstum bestimmter Hirnregionen, z. B. von Hippocampus und Amygdala, in der Adoleszenz ist von ausreichenden Konzentrationen der Sexualhormone abhängig [23]. Bei Patienten mit fortbestehender Amenorrhöe lassen sich kognitive Einschränkungen z. B. der Gedächtnisfunktionen und der mathematischen Fähigkeiten nachweisen.

Anorexia nervosa in der Adoleszenz ist mit einem 2- bis 7-fach erhöhten Frakturrisiko im späteren Leben verbunden. Ursache hierfür ist die Osteopenie/Osteoporose, die durch Sexualhormondefizite, erhöhte Kortisolkonzentrationen, Verminderung von „insulin-like growth factor“(IGF)-1, Leptin etc. zustande kommt. Die orale Östrogenzufuhr in Form von Kontrazeptiva schafft hier keine Abhilfe, sondern möglicherweise eine Verschlechterung [21]. Jüngste Untersuchungen weisen darauf hin, dass die transdermale Östrogenzufuhr zur Verbesserung der Knochendichte in der Adoleszenz führen kann [25]; diese Studien bedürfen aber einer Replikation.

Prognose

Essstörungen

Bei AN sind die Auswirkungen der Starvation gravierend; diese ist auch für Spätfolgen im Erwachsenenalter verantwortlich. Die standardisierte Mortalitätsrate (beobachtete Todesfälle im Vergleich zu den erwarteten) beträgt 5,86 (die von BN 1,93, die der unspezifischen Essstörungen 1,92; [4]). Es findet sich ein signifikanter Zusammenhang mit dem Alter der Patientin, aber nicht mit dem BMI, d. h., Patientinnen mit lang dauernder Essstörung sind besonders gefährdet. Es erfolgen 20 % der Todesfälle durch Suizid.

Bei jüngeren Patientinnen ist die Prognose deutlich besser als im Erwachsenenalter: Hier finden sich in neueren Studien Heilungsraten zwischen 70 und 80 %. Allerdings scheint die Prognose der AN bei Kindern schlechter als die bei Jugendlichen zu sein.

Die psychischen Folgen einer AN in der Adoleszenz können beträchtlich sein.

Knapp 40 % der von einer AN Betroffenen hatten in einer schwedischen Untersuchung noch 18 Jahre nach Beginn der Erkrankung eine psychische Störung im Vergleich zu 16 % der Kontrollgruppe; die häufigste Störung war eine Depression. Aufgrund dieser psychischen Störungen oder einer fortbestehenden Essstörung waren 25 % der nachuntersuchten Individuen arbeitslos im Vergleich zu 2 % der gesunden Kontrollgruppe [33].

Bei BN ist die Heilungsrate höher: Nach 12 Jahren hatten 70 % der erwachsenen Patientinnen ihre Essstörung überwunden. Allerdings lässt sich auch hier eine hohe Prävalenz von anderen psychischen Störungen im späteren Lebensalter nachweisen; dies gilt insbesondere für Angst- und affektive Erkrankungen, aber auch Drogen- und Alkoholmissbrauch.

Gestörtes Essverhalten in der Adoleszenz

Auch gestörtes Essverhalten (ohne alle Kriterien für eine definierte Essstörung zu erfüllen) zeigt vielfach einen ungünstigen Verlauf. In der Studie Befragung zum seelischen Wohlbefinden und Verhalten (BELLA), dem Modul „Psychische Gesundheit“ des KiGGS [27], wurden in der Altersgruppe der 11- bis 18-Jährigen ca. 1700 Kinder und Jugendliche mithilfe eines Screeningverfahrens für gestörtes Essverhalten untersucht (absichtliches Erbrechen, Kontrollverlust beim Essen, Gewichtsverlust, Körperschemastörung, überproportionale Bedeutung von Essen; [14]). An der Folgeuntersuchung nach 6 Jahren nahmen 45 % der ehemaligen Probanden teil. Obwohl die Prävalenz von gestörtem Essverhalten insgesamt zurückgegangen war, zeigte sich eine hohe Korrelation zwischen Auffälligkeiten in Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter. Auch nach statistischer Kontrolle für den BMI des Patienten und dem seiner Eltern hatten Probanden mit auffälligen Screening-Scores ein höheres Risiko als junge Erwachsene, übergewichtig oder adipös zu sein. Darüber hinaus wies die Gruppe mit gestörtem Essverhalten in der Adoleszenz eine größere Häufigkeit an depressiven Symptomen im Erwachsenenalter auf.

Behandlungshinweise für den Kinder- und Jugendmediziner

Die Prognose bei AN hängt sehr stark vom Gewicht bei Krankenhausaufnahme und -entlassung ab. Insofern ist die Früherkennung von besonders großer Bedeutung. Berichten die Eltern oder die Patientin selbst von einer kürzlichen Gewichtsabnahme oder klagt eine Jugendliche über ausgeprägte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, sind regelmäßige Gewichtskontrollen in kurzen Zeitabständen angebracht. Auch eine Gewichtsabnahme bei 10- bis 12-Jährigen sollte an AN denken lassen. Ein Teil der Patientinnen kommt immer noch in stark reduziertem Ernährungszustand in die klinische Betreuung, obwohl sich in der letzten Zeit ein im Vergleich zu früheren Jahren höherer BMI findet.

Bei Aufnahme „unter 4 Augen“ mit der Patientin sprechen

Es empfiehlt sich immer ein Gespräch unter 4 Augen mit der Patientin, um ihr die Gefährdung durch die Erkrankung zu verdeutlichen. Nicht selten sind die Jugendlichen in Abwesenheit der Eltern ehrlicher. Bei weiterem Gewichtsverlust muss eine kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung bzw. sogar eine Einweisung in die stationäre Behandlung in Erwägung gezogen werden. Kriterien für die stationäre Behandlung gehen aus Tab. 4 hervor. Zentren, die über große Erfahrung in der Behandlung von Essstörungen verfügen, erbringen bessere Ergebnisse. Die stationäre Behandlung sollte ein multimodales Therapiekonzept mit Ernährungsberatung, strukturierter Gewichtszunahme, Psychotherapie und intensiver Einbeziehung der Eltern umfassen. Bei jugendlicher nichtchronischer AN sollte das Entlassungsgewicht zwischen der 20. und 25. BMI-Perzentile liegen, da viele Untersuchungen gezeigt haben, dass die Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens der Menstruation bei diesem Gewicht hoch ist [10]. Bei prämenarchalen Patientinnen ist die Dauer der Amenorrhö mit den entsprechenden Folgen oft wesentlich länger.

Tab. 4 Indikationen zur stationären Behandlung bei Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa

Die medikamentöse Therapie bei AN hat sich als nichtausreichend wirksam erwiesen; bei BN kann die zusätzliche Gabe eines Serotonin-Wiederaufnahmehemmers hilfreich sein. Nach kurzer stationärer Behandlung erweist sich eine tagesklinische Behandlung bei AN als effektiv, die ähnlich gute, in Bezug auf die psychische Entwicklung der Jugendlichen sogar bessere Erfolge als die vollstationäre zeigt [15]. Bei BN stellt ein stark entgleistes Essverhalten, insbesondere hochfrequentes Erbrechen und starker Laxanzienabusus, eine Indikation für die stationäre Aufnahme dar.

Auch bei der Rückfallprophylaxe ist der Kinder- und Jugendarzt eine wichtige Säule der Behandlung. Fast immer wird in der entlassenden Klinik ein Wiederaufnahmegewicht vereinbart, das i. Allg. nur geringfügig unter dem Entlassungsgewicht liegen sollte. Der Kinder- und Jugendarzt darf sich nicht „herunterhandeln“ lassen, auch wenn alle Laborwerte noch im Normbereich sind. Subsyndromale Essstörungen bedürfen aufgrund ihrer ungünstigen Prognose ebenfalls dringend der Beachtung der Pädiater und der Frühintervention. Hierzu sollten die Früherkennungschancen der J1 genutzt werden.

Fazit für die Praxis

  • Essstörungen gehören zu den häufigsten Störungen in der Adoleszenz. Die Prävalenz der AN bei Jugendlichen ist auf hohem Niveau konstant, während sich bei Kindern ein deutlicher Anstieg der stationären Behandlungen zeigt. Die größte Zunahme findet sich bei den unspezifischen Essstörungen.

  • Frühzeitige Erkennung und Behandlung verbessern die Prognose. Je niedriger das Körpergewicht einer an AN erkrankten Person bei der stationären Aufnahme ist, desto geringer ist der Heilungserfolg.

  • Als Ursache der Essstörungen wird ein Zusammenspiel von biologischen und Umweltfaktoren angenommen.

  • Bei Verdacht auf AN sind engmaschige Gewichtskontrollen angezeigt.

  • Unspezifische Essstörungen verdienen wegen des hohen Risikos für späteres Übergewicht und psychische Störungen ebenfalls Beachtung.

  • Die enge Kooperation von Kinder- und Jugendmediziner und Kinder- und Jugendpsychiater ist bei der gravierenden somatischen Komorbidität der Essstörungen sowie der Wichtigkeit von früher Intervention und Prävention von großer Bedeutung.