Diese Empfehlung richtet sich an alle Berufsgruppen, die Schwangere vor und während der Geburt sowie Mütter und ihre Neugeborenen nach der Geburt betreuen. Sie wendet sich auch an die betroffenen Eltern und ist als Hilfe zu verstehen, um medizinisch, ethisch und rechtlich begründete Entscheidungen treffen zu können [1, 2, 3]. Diese Empfehlung betrifft die vor, während und unmittelbar nach der Geburt zu treffenden Entscheidungen zur Lebenserhaltung und Wiederbelebung bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit. Diese Entscheidungen müssen während der weiteren Behandlung in regelmäßigen Abständen überdacht und Therapieziele ggf. modifiziert werden. Diese späteren Entscheidungen sind nicht Gegenstand dieser Empfehlung.

Ethische Grundlagen

Entscheidungen über Maßnahmen zur Lebenserhaltung und Wiederbelebung bei extrem früh geborenen Kindern fallen in den Grenzbereich intensivmedizinischen Handelns. Durch den Einsatz von Intensivmedizin können Kinder zwar kurz- oder langfristig überleben, unter Umständen aber mit erheblichem Leiden. Die ethische Beurteilung muss die Erhaltung des Lebens des Kindes gegen die Vermeidung einer vermutlich aussichtslosen Therapie abwägen [4].

Eine ethische Reflexion des ärztlichen und pflegerischen sowie des elterlichen Handelns, die über die rechtliche Beurteilung hinausgeht, ist unerlässlich.

Das Kind – ein Individuum

Jedes neugeborene Kind hat ein Recht auf Leben. Jedes Kind muss respektiert und geachtet werden mit dem Anspruch auf eine Behandlung und Betreuung, die seinen individuellen Bedürfnissen angemessen sind. Unabhängig von seinen Lebens- und Überlebensaussichten hat es ein Recht auf Grundversorgung, bestmögliche Pflege und menschliche Zuwendung.

Wenn Stellvertreter für ein Kind entscheiden, müssen sie sich am individuellen Wohlergehen des Kindes orientieren und nach dem besten Interesse des Kindes entscheiden. Dabei ist eine selbstkritische Distanz zu den eigenen Wertvorstellungen einzunehmen. Maßstab ist, was dem Kind als dessen mutmaßlicher Wille unterstellt werden kann [5].

Der Lebenserhalt eines früh geborenen Kindes kann mit großen Belastungen und erheblichen Einschränkungen seines späteren Wohlbefindens verbunden sein. Diese können wegen des unterstellten Lebensinteresses ethisch gerechtfertigt sein. Dem besten Interesse des Kindes entspricht aber auch, dass eine aussichtslose Therapie vermieden wird. Das bedeutet, zum richtigen Zeitpunkt das Therapieziel von kurativ (heilend) auf palliativ (lindernd) zu ändern.

Extrem früh geborene Kinder können trotz adäquater kurativer Behandlung angeborene oder erworbene Schädigungen behalten. Das Risiko einer bleibenden Behinderung allein kann aber den Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen zum Zeitpunkt der Geburt ethisch nicht rechtfertigen.

Untersuchungen haben gezeigt, dass bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit eine individuelle Prognose unmittelbar nach der Geburt aufgrund der perinatalen Anamnese und des klinischen Zustandes so unzuverlässig ist, dass sie nicht Grundlage einer Entscheidung gegen die Lebenshilfe sein kann, außer bei Gesundheitsstörungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind [6, 7, 8, 9].

Zusammenfassend folgt aus diesen Überlegungen, dass grundsätzlich dann, wenn für das Kind die Chance zum Leben besteht, lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden sollen.

Die Einschätzung, ob für das Kind die Chance zum Leben besteht, ist dabei ärztliche Aufgabe. Ausnahmen von diesem Grundsatz können geboten sein, wenn eindeutige Gesundheitsstörungen bekannt sind, die nicht mit einem längeren Leben vereinbar sind. Auch bei Frühgeborenen mit extremer Unreife müssen nicht in jedem Falle lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden, weil der Ausgang des Behandlungsversuchs umso ungewisser ist, je unreifer das Kind ist. Insbesondere bei Kindern mit einem Alter von 22 bis 24 Schwangerschaftswochen ist es gegenwärtig nicht möglich, nach Schwangerschaftsalter oder Geburtsgewicht eine eindeutige Behandlungsgrenze zu ziehen.

Die Rolle der Eltern

Eltern haben das Recht, medizinischen Maßnahmen bei ihrem Kind zuzustimmen oder sie abzulehnen. Dies ergibt sich aus der besonderen Beziehung zu ihrem Kind und dem elterlichen Sorgerecht. Damit die Eltern dem Wohlergehen des Kindes entsprechen und verantwortungsvoll entscheiden können, müssen sie von ärztlicher Seite umfassend aufgeklärt werden.

Bei der Aufklärung sollte berücksichtigt werden, dass sich die Eltern in einer extremen Belastungssituation befinden. Ihre Entscheidungsautonomie kann daher nicht immer vorausgesetzt werden, sondern muss gestützt werden, ggf. mit psychologischer oder seelsorgerischer Hilfe. Die Bürde der Verantwortung darf keinesfalls den Eltern allein übertragen werden. Deshalb sollen die verantwortlichen Ärzte und die Eltern die Entscheidung über die Lebenserhaltung gemeinsam beraten. Es sollte mit den Eltern auch darüber gesprochen werden, dass nach der Geburt ggf. das Therapieziel geändert werden muss. Dabei soll darauf hingewiesen werden, dass es ärztliche Aufgabe ist, im Zweifel für das Leben zu entscheiden.

Eine bevorstehende Frühgeburt ist mit Ängsten und Sorgen der Eltern verbunden. Sie brauchen deshalb Begleitung in die gemeinsame Zukunft mit ihrem Kind, ggf. aber auch für den Abschied von ihrem Kind, das nicht leben kann.

Rechtliche Grundlagen

Die rechtlichen Fragen der Behandlung extrem früh geborener Kinder bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Lebensrecht des Kindes, ärztlichem Heilauftrag, Elternwille und Kindeswohl. Artikel 2 (2) GG schützt Leben und körperliche Unversehrtheit eines jeden Menschen, unabhängig von seinem gesundheitlichen Zustand und der zu erwartenden oder noch verbleibenden Lebensdauer. Anerkannt ist aber auch, dass es „keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt“. Nicht die Effizienz der Apparatur, sondern die an der Achtung des Lebens und der Menschenwürde ausgerichtete Einzelfallentscheidung bestimmt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Grenze ärztlicher Behandlungspflicht, sodass „Maßnahmen zur Lebensverlängerung... nicht schon deswegen unerlässlich (sind), weil sie technisch möglich sind“ [10]. Dementsprechend wird angenommen, dass die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung generell begrenzt ist, wenn es faktisch unmöglich ist, einen Behandlungserfolg herbeizuführen, wenn eine Behandlung unzumutbar ist, wenn der Patient dauerhaft unfähig zur Kommunikation ist oder wenn die Behandlung gegen die Menschenwürde verstoßen würde [11, 12, 13, 14]. Dies sind keine präzisen Kriterien, die zur Entscheidung eines Einzelfalls herangezogen werden können, sondern Eckpunkte, die Grenzen anzeigen.

Die Entscheidung darüber, ob ein extrem früh geborenes Kind mit unsicheren Überlebensaussichten bzw. nicht klar vorhersagbaren etwaigen Spätfolgen intensivmedizinisch behandelt wird oder nicht, steht zunächst den Eltern als Sorgeberechtigten zu [15], denn ebenso wie jeder andere ärztliche Heileingriff ist der Einsatz medizinischer Maßnahmen grundsätzlich an die Einwilligung des Patienten bzw. im Falle der fehlenden Einwilligungsfähigkeit an die seines gesetzlichen Vertreters gebunden. Der Arzt hat also kein Recht zur eigenmächtigen Heilbehandlung, auch nicht aufgrund seiner Garantenstellung gegenüber dem Kind, die sich auf den Behandlungsvertrag mit den Eltern oder ggf. auf faktische Übernahme gründet.

Das Recht der Eltern, über die ärztliche Behandlung ihres Kindes zu entscheiden und sich grundsätzlich auch gegen eine Therapieempfehlung des Arztes auszusprechen, ist aber durch das Kindeswohl begrenzt [16]. So wird die Verweigerung der Zustimmung zu einer „objektiv erforderlichen und gefahrlosen Operation“ als Sorgerechtsmissbrauch oder jedenfalls als unverschuldetes Versagen der Eltern [17, 18] gewertet werden mit der Folge, dass die Zustimmung zur Behandlung durch das Familiengericht ersetzt werden kann. Jenseits einer solchermaßen klaren Situation sind Gefahren und Erfolgsaussichten einer Therapie gegeneinander abzuwägen [18], wobei eindeutige rechtliche Kriterien fehlen; bisher gibt es keine Rechtsprechung in Bezug auf die elterliche Therapieverweigerung für extrem früh Geborene. Den Eltern wird aber ein Spielraum bei der Entscheidung zugestanden, der zum einen im Vorrang der elterlichen Sorge begründet ist sowie zum anderen – damit korrespondierend – darin, dass dem Familiengericht in Ausübung des staatlichen Wächteramts eine bloße Kontrollfunktion zukommt, die darauf beschränkt ist, „das Kind von nicht vertretbaren Risiken fernzuhalten“ [17, 19]. Auch wenn eine zu erwartende Behinderung des Kindes jedenfalls grundsätzlich nicht als Rechtfertigung zur Beendigung einer Therapie angesehen werden kann [9, 10], wird ein Familiengericht bei unsicherer Prognose bzw. dann, wenn Chancen und Risiken sehr nahe beieinander liegen, daher sehr zurückhaltend damit sein, eine Entscheidung der Eltern zu ersetzen, wenn diese eine vom Arzt empfohlene Therapie ablehnen [17, 18, 20, 21].

Wenn über die Einleitung oder Durchführung einer indizierten lebenserhaltenden Therapie bei einem extrem früh geborenen Kind kein Konsens mit den Eltern herbeigeführt werden kann und diese ihre Einwilligung endgültig verweigern, kann der Arzt das Familiengericht einschalten, um zu erreichen, dass die Entscheidung überprüft und den Eltern ggf. das Sorgerecht teilweise entzogen und die Einwilligung in die Behandlung ersetzt wird. Zu diesem Schritt ist der Arzt aufgrund seiner Garantenstellung auf der Basis des aktuellen medizinischen Standards gegenüber dem Kind je eher verpflichtet, desto unvernünftiger (vgl. Ulsenheimer [11]) eine Behandlungsverweigerung durch die Eltern erscheint.

Ist die Einwilligung der Eltern in unmittelbar erforderliche lebenserhaltende Maßnahmen nicht zu erlangen und ist es wegen der Dringlichkeit einer Entscheidung nicht möglich, Kontakt mit dem zuständigen Richter aufzunehmen, so kann der Arzt ausnahmsweise die zur Erstversorgung erforderlichen Maßnahmen ohne Einwilligung der Eltern vornehmen. Eine Entscheidung des Familiengerichts ist dann unverzüglich nachzuholen.

Die Fachgesellschaften empfehlen (s.u. allgemeines Vorgehen) in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Notwendigkeit der Verlegung in eine Spezialklinik (BGH, Urteil v. 22.9.1987 – VI ZR 238/86, NJW 1988, 763, 765; BGH NJW 1984, 1810, 1987, 2291) sowie unter Berücksichtigung der Vereinbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Neugeborenen (zuletzt geändert am 17. Oktober 2006), dass der Frauenarzt bei drohender Frühgeburt vor 29 SSW die Eltern über den Vorteil der vorgeburtlichen Verlegung der Schwangeren in ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe aufklärt und diese, wenn die Schwangere damit einverstanden ist, umgehend in die Wege leitet, weil nur dort die für diese Kinder notwendige Spezialbehandlung möglich ist.

Empfehlungen

Wird ein Kind an der Grenze der Lebensfähigkeit geboren, besteht große Unsicherheit im Hinblick auf sein Überleben und eventuelle Gesundheitsstörungen. Bei nicht genau bekannter Schwangerschaftsdauer ist eine Voraussage zusätzlich erschwert. Die Grenze der Lebensfähigkeit von Frühgeborenen hat sich in den letzten Jahrzehnten in immer frühere Schwangerschaftswochen verschoben. Die nachfolgend genannten Grenzen sind deshalb nicht absolut gesetzt und bei einer Verbesserung der Behandlungsergebnisse anzupassen.

Allgemeines Vorgehen

Bei drohender Frühgeburt vor 29 SSW hat der Frauenarzt und ggf. der zur Beratung hinzugezogene Kinderarzt die Eltern über den Vorteil der vorgeburtlichen Verlegung der Schwangeren in ein Perinatalzentrum der höchsten Versorgungsstufe mit der Struktur gemäß den Empfehlungen der Fachgesellschaften [23] und Erfahrung in der Betreuung extrem früh Geborener aufzuklären und diese umgehend in die Wege zu leiten [24]. Im Perinatalzentrum müssen die Eltern vor der Geburt über Vorteile und Risiken notwendiger Behandlungsmaßnahmen von Mutter und Kind informiert werden, gemeinsam von Geburtshelfern und Neonatologen. Die Beratung schließt einen Hinweis darauf ein, welchen Entscheidungsspielraum die Eltern bei dem Beginn und der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen für ihr ungeborenes und geborenes Kind haben. Das Ergebnis der Beratung über den Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen – vor, während und nach der Geburt – muss den zuvor ausgeführten ethischen und rechtlichen Maßstäben entsprechen und ist zu dokumentieren.

Nicht alle Eltern können sich unmittelbar nach einer solchen Beratung entscheiden. Den Eltern sollten eine Bedenkzeit und weitere Gespräche angeboten werden.

Bei der Beratung der Eltern sind die Behandlungsergebnisse des verantwortlichen Perinatalzentrums im Hinblick auf Sterblichkeit und neonatale Komplikationen sehr unreifer Frühgeborener zugrunde zu legen. Außerdem sind publizierte und – soweit vorliegend – eigene Daten zur langfristigen Prognose dieser Kinder mitzuteilen. Hinzuweisen ist auf die mögliche Ungenauigkeit solcher Angaben durch kleine Fallzahlen und besondere Bedingungen jedes Einzelfalls.

In jedem Fall ist zu prüfen, ob der Zustand des Kindes der vorgeburtlich erwarteten Reife entspricht. Bei offensichtlicher Diskrepanz ist eine vor der Geburt getroffene Entscheidung über lebenserhaltende Maßnahmen zu überdenken.

Spezielles Vorgehen

Die Fachgesellschaften empfehlen, dass bei einer Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes ein Neonatologe anwesend ist.

Frühgeborene vor 22 vollendeten Schwangerschaftswochen (p. m.)

Diese KinderFootnote 1 überleben nur in Ausnahmefällen [22]. In der Regel wird man auf eine initiale Reanimation verzichten.

Frühgeborene ab 22 bis 23 6/7 Schwangerschaftswochen (p. m.)

In dieser Zeitspanne der Schwangerschaft steigt die Überlebenschance behandelter Frühgeborener kontinuierlich bis auf ca. 50% an [22, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41]. Allerdings leiden 20–30% der überlebenden Kinder an schwerwiegenden Gesundheitsstörungen, die eine lebenslange Hilfe durch andere Personen notwendig machen [42, 43, 44, 45, 46, 47, 48]. Die Entscheidung über eine lebenserhaltende oder eine palliative Therapie hat in jedem Einzelfall den eingangs dargelegten ethischen und rechtlichen Grundsätzen zu entsprechen und sollte im Konsens mit den Eltern getroffen werden.

Frühgeborene ab 24 Schwangerschaftswochen (p. m.)

Die Überlebenschancen behandelter Frühgeborener erreichten in Deutschland von 2002 bis 2004 60% zwischen 24 0/7 und 24 6/7 Wochen sowie 75% zwischen 25 0/7 und 25 6/7 Wochen mit regionalen Unterschieden [22]. Bei diesen Frühgeborenen soll grundsätzlich versucht werden, das Leben zu erhalten.

Frühgeborene mit angeborenen oder perinatal erworbenen Gesundheitsstörungen

Bei Frühgeborenen, die zusätzlich schwerste angeborene oder perinatal erworbene Gesundheitsstörungen aufweisen, ist zu prüfen, ob im Interesse des Kindes intensivmedizinische Maßnahmen eingeschränkt werden sollten.

Ist zu erkennen, dass ein Kind sterben wird, soll es begleitet werden, dies möglichst in Anwesenheit der Eltern, die dabei unterstützt werden sollen.