Fortschritte im Sepsisverständnis

„Eine Sepsis liegt dann vor, wenn sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, von dem konstant oder periodisch pathogene Bakterien in den Blutkreislauf gelangen, und zwar derart, daß durch diese Invasion subjektive und objektive Krankheitserscheinungen ausgelöst werden.“

Diese Definition der Sepsis des Hamburger Internisten H. Schottmüller aus dem Jahre 1914 hat nichts von ihrer Prägnanz verloren, sie hat jedoch wesentliche Erweiterungen erfahren (Abb. 1). Noch immer ist der infektiöse—meist bakterielle—Fokus Ausgangsort der systemischen Bakteriämie und Toxinämie, obwohl nur noch bei jedem 3. Sepsispatienten positive Blutkulturen gefunden werden [7, 20], als Konsequenz der frühzeitigen Antibiotikagabe.

Abb. 1
figure 1

Eckpfeiler der Sepsistherapie. (Aut. NS: autonomes Nervensystem. Erläuterungen s. Text)

Im Jahre 1992 wurden internationale Empfehlungen zur Sepsisdefinition erarbeitet, welche eine Schweregradeinteilung vorsehen [27, 30]:

  • „Sepsis“ (Letalität: gering),

  • „schwere Sepsis“ mit Organdysfunktion (Letalität 30–40%),

  • „septischer Schock“ (Letalität 60–70%).

Eine „Sepsis“ ist schnell erworben, z. B. mit einem grippalen Infekt, verbunden mit Fieber über 38°C und einer Tachykardie von >90/min. Die lebensbedrohlich erkrankten Sepsispatienten (Abb. 2a, b) auf unseren Intensivstationen haben dagegen meist eine „schwere Sepsis“ oder einen „septischen Schock“.

Abb. 2a, b
figure 2

Patient mit septischem Schock ohne Nachweis positiver Blutkulturen. a Patient mit hyperzirkulatorischem „warmem“ Schock, massiver Exsudation und Ödembildung, ARDS mit maschineller Beatmung, enteraler Ernährung mit Ernährungssonde und invasivem hämodynamischem Monitoring mittels Pulmonalarterienkatheter. b Ausgeprägtes Handödem mit flohstichartigen Blutungen

An der Verbesserung der Sepsisdefinitionen und -klassifizierung wird permanent gearbeitet. Die PIRO-Klassifizierung (Tabelle 1) ist Ausdruck des Bemühens um eine bessere Charakterisierung der Sepsis ähnlich der Tumorklassifizierung [23].

Tabelle 1 PIRO-Klassifizierungssystem der Sepsis. (Nach [17])

Toxin-Mediator-Netzwerk

Seit der Definition von Schottmüller 1914 hat sich unser Sepsisverständnis vor allem in quantitativer Hinsicht enorm erweitert: die in die Zirkulation freigesetzten Toxine—bei gramnegativer Sepsis vor allem das Endotoxin, bei grampositiver Sepsis ist die Situation noch viel weniger klar—schädigen nicht nur direkt die Organe des Patienten, sondern sie aktivieren auch dessen Immunzellen—Granulozyten, Monozyten und Makrophagen—, welche nun ihrerseits aggressive Mediatoren freisetzen, um Bakterien zu zerstören und Toxine zu inaktivieren.

Bei den primären Mediatoren handelt es sich um proinflammatorische Zytokine wie Tumornekrosefaktor α, Interleukin-1 (IL-1) und IL-6. Bei den durch diese primären Mediatoren in weiteren Zielzellen freigesetzten sekundären Mediatoren dominieren reaktive Sauerstoffverbindungen, Stickoxid (NO), Komplement, plättchenaktivierender Faktor (PAF) und Arachidonsäuremetabolite [30]. Die überschießende Produktion dieser aggressiven Entzündungsmediatoren zerstört nicht nur Bakterien und Toxine, sondern schädigt auch die Organe des Patienten und trägt damit entscheidend zur Schwere des Krankheitsverlaufes mit der Ausbildung des Multiorgandysfunktionssyndroms (MODS) bei (Abb. 1).

Mit zunehmender Sepsisdauer wird aus der „Toxinkrankheit“ eine mit Antibiotika allein nicht mehr beherrschbare „Mediatorkrankheit“, an der der Patient dann häufig verstirbt. Sowohl das angeborene als auch das erworbene Immunsystem „bemühen“ sich um die Abwehr dieses komplexen Sepsisgeschehens.

Neben der überschießenden systemischen Inflammationsreaktion bewirkt die Sepsis auch eine zunehmende Immunsuppression („Immunparalyse“), welche durch eine gesteigerte Produktion antiinflammatorischer Mediatoren wie IL-4, IL-10 und IL-13 provoziert wird. Das Konzept der Stimulation des Immunsystems zur Behandlung der „Immunparalyse“ hat bisher jedoch keinen Eingang in die klinische Sepsistherapie gefunden.

Eckpfeiler der Sepsistherapie

Die Behandlung der Sepsis besitzt 6 wichtige Komponenten (Abb. 1):

  • Fokuselimination,

  • antiinfektiöse Therapie, in den meisten Fällen Antibiotika,

  • supportive Therapie des MODS,

  • generelle Intensivmaßnahmen und Ernährung,

  • adjunktive Therapie: Versuche, in das Toxin-Mediator-Netzwerk modulierend einzugreifen,

  • Sepsisprophylaxe bei gefährdeten Patienten.

Dieser Beitrag fokussiert auf aktuelle innovative Entwicklungen in den jeweiligen Therapiebereichen. Eine ausführliche Systematik des derzeitigen evidenzbasierten Behandlungskonzeptes findet sich in [17, 20, 30].

Antiinfektiöse Therapie

Die antiinfektiöse Therapie basiert vorwiegend auf Expertenmeinungen!

Bei Einsatz des adäquaten Antibiotikums bzw. Antimykotikums kann die antiinfektiöse Therapie—als kausale Maßnahme—die Sepsis wirksam bekämpfen. Verfehlt man das effektive Antibiotikum, so ist das Risiko des Versterbens größer [22]. Die richtige Wahl ist allerdings nicht immer einfach, da man aufgrund des lebensbedrohlichen Zustandes häufig die Behandlung ohne Kenntnis des zugrundeliegenden Erregers beginnen muss („kalkulierte Antibiotikatherapie“).

Ebenso häufig als Sepsiserreger finden sich grampositive (40%) und gramnegative Erreger (35%), wesentlich seltener sind Pilzinfektionen (ca. 5%), polymikrobielle Infektionen (ca. 10%) und intraabdominelle anaerobe Sepsisformen (ca. 2%; [7, 20]). Bei der Wahl des richtigen Präparats zur kalkulierten und gezielten antiinfektiösen Therapie sind die Empfehlungen der Paul-Ehrlich-Gesellschaft sehr hilfreich [7, 20], wobei die zunehmende Resistenzentwicklung ein ernsthaftes Problem darstellt.

Überraschenderweise scheint das Antimykotikum Fluconazol (200 mg/Tag) bei bakteriellem septischem Schock—insbesondere bei intrabdomineller Sepsis—einen günstigen Effekt zu haben [18]: in einer kleinen Studie mit 71 Patienten konnte es die Letalität von 78% in der Plazebogruppe auf 46% senken (p=0,015). Der Fluconazolmechanismus ist unklar, diskutiert wird eine Steigerung der Leukozytenbakterizidie sowie eine Hemmung der Transmigration und Adhäsion von neutrophilen Granulozyten in Kapillaren.

Supportive Therapie des Multiorganversagens

Die supportive Therapie des MODS (Abb. 1; [20, 27]) beginnt mit der sofortigen und adäquaten Volumensubstitution als erstem entscheidenden und dokumentiert letalitätssenkenden Schritt [15, 29], häufig in Verbindung mit der erforderlichen maschinellen Beatmung des Patienten. Die supportive Therapie der weiteren Organdysfunktionen [27] ist je nach betroffenem Organ unterschiedlich effizient: das akute Nierenversagen kann mittels Hämo(dia)filtration nahezu „unbegrenzt“ ersetzt werden, zeitlich limitiert gilt dies für die Organdysfunktionen der Lunge [35], des Kreislaufs und des Herzens (septische Kardiomyopathie; [9, 13, 15, 29, 30]), des Gerinnungs-Fibrinolyse-Systems (s. unten), des Stoffwechsels sowie des Magen-Darm-Trakts inkl. der parenteralen und enteralen Ernährung (s. unten).

Relativ hilflos stehen die Intensivmediziner dem septisch bedingten Versagen der Leber, des Gehirns (septische Enzephalopathie), des peripheren und autonomen Nervensystems (Neuropathie des kritisch Kranken, autonome Dysfunktion) und der Skelettmuskulatur (Myopathie des kritisch Kranken) gegenüber. Neuro- und Myopathie sind für die häufig langwierige Beatmungsentwöhnung bei Sepsispatienten entscheidend mitverantwortlich.

Die wesentlichsten Fortschritte der supportiven Sepsistherapie wurden bei der Behandlung des akuten Atemnotsyndroms (ARDS), der relativen Nebennierenrindeninsuffizienz und des Herz-Kreislauf-Schocks erzielt.

Akutes Atemnotsyndrom

Bei 25–42% der Patienten mit schwerer Sepsis tritt ein ARDS auf [28]. Durch Anwendung einer lungenprotektiven Beatmung mit niedrigen Atemzugsvolumina (6 ml/kgKG), Begrenzung des oberen Plateaudrucks (30 mbar) und ausreichend hohem PEEP lässt sich die Sterblichkeit um ein Drittel von 40% auf 31% reduzieren [35]. Die Langzeitergebnisse sind allerdings nicht so erfreulich: 12 Monate nach überlebtem ARDS finden sich neben eher geringen pulmonalen Restschäden vor allem extrapulmonale Defizite wie Muskelschwund und Schwäche, welche in einer nicht therapierbaren Weise die Leistungsfähigkeit und Lebensqualität einschränken.

Relative Nebennierenrindeninsuffizienz

Im septischen Schock kann es zu einer relativen Nebennierenrindeninsuffizienz kommen—messbar als verminderte Cortisolproduktion im ACTH-Test, mit einer Abschwächung der antiinflammatorischen Wirkung des endogenes Cortisols, einem verminderten Ansprechen des Kreislaufs auf vasopressorische Katecholamine und wahrscheinlich auch mit einer erhöhten Sterblichkeit [3].

Ursachen der relativen Nebennierenrindeninsuffizienz ist einerseits das Versagen der Feedbackkontrolle der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) mit Verlust des pulsatilen Sekretionsverhaltens des Cortisols und andererseits eine Downregulation zellulärer Glukokortikoidrezeptoren mit Abnahme von Rezeptorzahl und Affinität. Da die Glukokortikoidrezeptorzahl in den Gefäßen mit dem mittleren arteriellen Blutdruck korreliert, trägt die Glukokortikoiddownregulation entscheidend zur hämodynamischen Instabilität im septischen Schock bei.

Bei Patienten mit septischem Schock und relativer Nebennierenrindeninsuffizienz können Stresshydrocortisondosen von 200–300 mg/Tag die erworbene Gluokortikoidresistenz überwinden, die Proinflammation im septischen Schock dämpfen und wahrscheinlich sogar die Letalität senken (Tabelle 2; [4]), letzteres wird derzeit in der europäischen Corticus-Studie mit 800 Studienpatienten überprüft. Es ist für den behandelnden Intensivmediziner beeindruckend zu sehen, wie unter dieser Hydrocortisongabe die Katecholaminansprechbarkeit der Gefäße wiederhergestellt und damit innerhalb weniger Tage eine drastische Einsparung von Katecholaminen möglich wird.

Tabelle 2 Niedrig dosierte Hydrocortisonbehandlung bei septischem Schock: Ergebnisse einer placebokontrollierten Studie [4]

Derzeit kann eine Therapie des septischen Schocks mit Hydrocortison zur Kreislaufstabilisierung und Einsparung von Katecholaminen nur empfohlen werden, wenn mit einem ACTH-Test eine relative Nebennierenrindeninsuffizienz gesichert ist [3, 28].

Zielorientierte frühzeitige Herz-Kreislauf-Therapie

Mit einer innerhalb der ersten 6 h auf der Notaufnahme begonnenen, an hämodynamischen Zielkriterien orientierten Volumen- und Katecholamintherapie lässt sich bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock die 28-Tage-Sterblichkeit im Vergleich zur „konventionellen Intensivtherapie“ von 49% auf 33% senken (Tabelle 3; [15, 29]). Neu an diesem im Vergleich zu früheren „Sauerstoff-zielorientierten“, erfolglosen Ansätzen ist der sehr frühe Beginn der Behandlung. Dennoch darf dieses „Erfolgsrezept“ nicht kritiklos von der Notaufnahme auf die Intensivstation übertragen werden: der noch nicht anbehandelte „Notfall-Sepsispatient“ unterscheidet sich hämodynamisch beträchtlich von dem klassischen „Intensivstation-Sepsispatienten“ (Tabelle 4). Einen die Früh- und die stabile Sepsisphase integrierenden Vorschlag zur Herz-Kreislauf-Therapie gibt Abb. 3 [9, 13, 15, 29, 30].

Tabelle 3 Zielorientierte Herz-Kreislauf-Therapie in der Notaufnahme (≤6 h) bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock. (Nach [21])
Tabelle 4 Sepsispatienten in der Notaufnahme und auf der Intensivstation im Vergleich
Abb. 3
figure 3

Zielorientierte Herz-Kreislauf-Therapie der schweren Sepsis und des septischen Schocks. Der Algorithmus orientiert sich an hämodynamischen Korridoren entsprechend aktueller Empfehlungen und validierter Studienergebnisse [9, 13, 15, 29, 30]. Werden die Zielkriterien nicht erreicht, so orientiert sich die weiterführende Katecholamintherapie am Herzindex (HI): bei HI >4,0 Gabe des primär vasopressorischen Noradrenalins, bei HI ≤4,0 Gabe des positiv inotropen Dobutamin. Bei koronarkranken Sepsispatienten sollte ein mittlerer arterieller Druck von 80 mmHg angestrebt werden, um das Risiko von Myokardischämien zu reduzieren. (ZVD: zentraler Venendruck [mmHg], MAP: mittlerer arterieller Druck [mmHg], SBP: systolischer Blutdruck [mmHg], Hkt: Hämatokrit [%], ScvO 2 : zentralvenöse Sauerstoffsättigung [%], PCWP: Pulmonalkapillardruck [mmHg], pH i : Magenmukosatonometrie, Diurese: Angabe in ml/kgKG/h)

Die langjährige Diskussion über die Wahl des Katecholamins ist in Deutschland auf Expertenebene zugunsten des Dobutamin (positiv inotrop) bzw. Noradrenalin (vasopressorisch blutdruckstabilisierend und in 2. Linie positiv inotrop) entschieden (Abb. 3; [9]), obwohl bei allen α-, β- und Dopaminrezeptoragonisten auch mit ungünstigen Wirkungen wie einer Steigerung der Bakterienadhärenz an die Darmmukosa gerechnet werden muss. Auf hohe Adrenalindosen sollte wegen Verschlechterung der Splanchnicusperfusion und des Shifts zum anaeroben Stoffwechsel (Laktatanstieg) verzichtet werden [12].

Die supportive Organunterstützung ist keine kausale Therapie!

Bei all diesen erfreulichen Fortschritten darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei dieser Behandlung lediglich um eine supportive, organunterstützende und nicht um eine kausale Therapie mit Ausheilung der Organschäden handelt: wird parallel zur supportiven Organtherapie die Sepsis nicht beherrscht, so bleibt die Prognose ungünstig: der Patient stirbt zwar nicht am MODS, sondern im MODS.

Sepsisprophylaxe

Je länger die Sepsis besteht, umso schwieriger ist bekanntermaßen eine erfolgreiche Therapie. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann sollte der Sepsisprophylaxe gefährdeter Patienten viel mehr Beachtung geschenkt werden, als dies bisher geschieht [31]. Allgemeine Hygienemaßnahmen auf der Intensivstation zur Vermeidung einer Kathetersepsis gehören hier ebenso dazu wie die Stressulkusprophylaxe der in der Regel beatmeten Sepsispatienten und die metabolische Kontrolle (s. unten). Ebenso zu beachten sind pflegerische Maßnahmen wie die optimale Dekubitusprophylaxe, um Druckulzera als bakterielle Streuquelle auszuschließen.

Bei infektgefährdeten Risikogruppen (Patienten nach schwerem Trauma, anerge herzchirurgische Patienten u. a.) und Risikooperationen (Zweihöhleneingriffe, große Bauch- und Thoraxeingriffe u. a.) kann eine mehrmalige Immunglobulingabe während der Gefährdungsphase die Infektionsgefahr deutlich vermindern und damit die Dauer des Intensivstations- und Krankenhausaufenthaltes verkürzen [38].

Generelle Intensivmaßnahmen und Ernährung

Generelle intensivmedizinische und intensivpflegerische Maßnahmen sind als wichtige Komponenten der Betreuung von Sepsispatienten nicht zu unterschätzen! Bei der Betrachtung der Letalitätszahlen publizierter Sepsisstudien (Abb. 4) ist über die letzten 20 Jahre ein erfreulicher Trend zu niedrigeren Sterblichkeitsraten zu erkennen. Dies dürfte weniger auf die Wirksamkeit eines einzelnen adjunktiven Medikamentes oder Therapieverfahrens (s. unten) zurückzuführen sein, sondern vielmehr auf die verbesserte generelle Intensivtherapie und -pflege.

Abb. 4
figure 4

Letalität von schwerer Sepsis und septischem Schock—Entwicklung der letzten hundert Jahre. Das Diagramm schildert die Letalität klinischer Sepsisstudien seit der Erstpublikation einer Serie mit gramnegativer Sepsis 1909. Die wesentlichen, bis 1999 durchgeführten placebokontrollierten Studien mit Substanzen zur Blockade der überschießenden Inflammationsreaktion sind mit offenen und geschlossenen Kreisen markiert, sie zeigten keinen signifkanten letalitätssenkenden Effekt. Bei der unter 2001 aufgeführten Studie handelt es sich um die PROWESS-Studie [6]

Die derzeit viel diskutierte „induzierte Hypothermie“ wird bei der Sepsis skeptisch betrachtet [5].

Immunonutrition

Die enterale Zufuhr von mehrfach ungesättigten Fettsäuren, Nukleotiden und Arginin sowie die parenterale Gabe von Glutamin—zur Verbesserung des Immunstatus kritisch Kranker scheint zurzeit eher bei Patienten mit ARDS und bei der Sepsisprophylaxe als in der schweren Sepsis günstige Effekte zu haben [34].

Intensive Insulintherapie

Die intensive Insulintherapie zur Erzielung einer Normoglykämie im Sinne einer Sepsisprophylaxe liefert bei postoperativen beatmeten Intensivpatienten erstaunlich günstige Ergebnisse (Tabelle 5): sowohl das Auftreten letaler septischer Multiorganversagen als auch die Ausbildung klinisch fassbarer Bakteriämien („Septikämien“) lässt sich durch eine konsequente Blutzuckereinstellung vermindern [15, 36]. Die metabolische Kontrolle—dokumentiert als Normoglykämie—scheint dabei der wesentliche Faktor zu sein und nicht ein spezifischer Insulineffekt [37].

Tabelle 5 Intensive Insulintherapie zur Erzielung von Normoglykämie bei beatmeten chirurgischen Intensivpatienten (prospektive Studie; N=1548; [28])

Fortschritte in der adjunktiven Sepsistherapie

Blockade der überschießenden Inflammation

Vielfältig waren in den letzten Jahren Versuche, die überschießende und damit auch für den Patienten deletäre Inflammation zu dämpfen (Abb. 4), durch Neutralisation, Antagonisierung und Synthesehemmung inflammatorischer, „zu viel produzierter“ Mediatoren mit Antikörpern und löslichen Zytokinrezeptoren (z. B. Antitumornekrosefaktor α, lösliche TNF-Rezeptoren), mit Rezeptorantagonisten (z. B. Interleukinrezeptorantagonist), und Stickoxidsynthasehemmern (z. B. Argininanaloga) und auch durch Antikörper gegen gramnegative Toxine [1]. Bei all diesen Therapiebemühungen—mehr als 20 Studien mit mehr als 7000 Studienpatienten—blieb jedoch bisher der durchschlagende Erfolg aus, die „Magic Bullet“ - wie von R.C. Bone formuliert—ist bisher noch nicht gefunden. Mediatorredundanz, Mediatorpleiotropie und das Fehlen einer gemeinsamen Endstrecke terminaler Mediatoren in der Sepsis sind anscheinend nur schwer überwindbare Hemmnisse einer jeden punktuellen antiinflammatorischen Therapie bei diesem Krankheitsbild [17, 20].

Dennoch künden sich bescheidene Erfolge an: In der MONARCS-Studie ließ sich mit einem Anti-TNF-α-Antikörper bei Patienten mit besonders schwerer Sepsis—denjenigen mit einem IL-6-Serumspiegel von >1000 pg/ml—die 28-Tage-Letalität von 48,4% auf 41,5% und damit um 6,9 Absolutprozente bzw. 14 Relativprozente senken. Günstige Effekte wurden kürzlich auch mit dem Einsatz der den Inflammationsmediator plättchenaktivierender Faktor (PAF) abbauenden PAF-Acetylhydrolase beschrieben.

Möglicherweise könnte zukünftig eine antiinflammatorische Differenzialtherapie günstigere Resultate liefern, wenn sie die geschlechts- und altersspezifisch unterschiedlichen Sepsisverläufe mit pro- und antiinflammatorischen Stadien sowie die zahlreichen Zytokingenpolymorphismen stärker berücksichtigen würde, als wir dies bisher tun.

Endotoxin- und Zytokinelimination

Die Standardhämofiltrationsrate bei akutem Nierenversagen liegt bei 1–2 l/h. Nicht bestätigt hat sich die Hoffnung, damit relevante Mengen deletärer Mediatoren eliminieren zu können. Auch die „High-Volume-Hämofiltration“ mit Durchsatzraten von 6 l/h kann diesbezüglich trotz Einsparung von Vasopressoren kaum überzeugendere Ergebnisse liefern [11].

Eine effiziente Endotoxinelimination bei Patienten mit gramnegativer Sepsis und mit Peritonitis ist mit dem auf Albuminbasis arbeitenden Matisse®-Adsorber (Fa. Fresenius) möglich [32]. In einer Phase-II-Studie mit 145 Patienten mit vermuteter gramnegativer Sepsis, davon 104 mit Peritonitis, führte die tägliche Endotoxinadsorption in den ersten 4 Tagen nach Diagnosestellung im Trend zu einer vorübergehenden Besserung des MODS (stärkerer Abfall des APACHE-II- und des SOFA-Score) und einer deutlicheren Senkung des Serumendotoxins. Die Letalität—nicht primäres Zielkriterium!—war mit und ohne Endotoxinabsorptionstherapie nicht unterschiedlich [32].

Für Aphereseverfahren [33] sind günstige Effekte bisher nur in Fallberichten und in relativ kleinen kontrollierten Studien beschrieben.

Sepsis und Gerinnung

Thromboembolieprophylaxe.

Sepsispatienten sind wie andere Intensivpatienten thrombemboliegefährdet und sollten deshalb auch eine entsprechende Prophylaxe mit Heparin erhalten. Ob die einmal tägliche subkutane Gabe eines niedermolekularen Heparins bei kritisch Kranken vergleichbar effektiv wie bei Nichtintensivpatienten ist, wird noch hinterfragt.

Verbrauchskoagulopathie und Purpura fulminans.

Die Aktivierung des Gerinnungssystems und der Fibrinolyse sind typische Befunde bei Patienten mit Sepsis [14], wobei das Ausmaß labortechnisch schwierig zu fassen ist [10] und klinisch von inapparenten bis zu schwersten Befunden (Abb. 5) reichen kann. Über Jahrzehnte wurde diese disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) in der Sepsis (Abb. 2a, 5, 6a) lediglich als isolierte „Organdysfunktion Gerinnung und Fibrinolyse“ behandelt. Zu deren Prophylaxe wurde und wird zwar Heparin in niedriger Dosierung gegeben, dessen Wirksamkeit ist bisher aber nicht überzeugend belegt. Dagegen lässt sich die manifeste DIC in der Sepsis mit Antithrombin erfolgreich behandeln [21].

Abb. 5
figure 5

Ausgeprägte flächenhafte Blutungen im Rahmen einer disseminierten intravasalen Gerinnung bei einem Patienten mit Pneumokokkensepsis bei Asplenie. Patient während der akuten Sepsisphase (links) und danach (rechts; aus [19])

Endothel, Gerinnung und Inflammation.

Die Endothelaktivierung in der Sepsis führt zur Inflammation, zur Prokoagulation und zur Hemmung der Fibrinolyse [8]. Dabei interagieren Gerinnungsneigung und Entzündungsreaktion miteinander und perpetuieren sich gegenseitig. Die Substitution mit in der Sepsis verbrauchten, die überschießende Gerinnung blockierenden Substanzen bietet demzufolge nicht nur die Möglichkeit, die DIC zu bessern, sondern darüber hinaus den Sepsisverlauf über eine zusätzliche antiinflammatorische Wirkung günstig zu beeinflussen.

Zwei Ansätze schlugen allerdings fehl: weder die Gabe von Antithrombin noch die von Tissue Factor Pathway Inhibitor (TFPI) waren in großen Studien in der Lage, die Sepsisletalität zu senken [21, 28]. Umso erfolgreicher war dagegen die PROWESS-Studie [6, 24]: in dieser Studie wurde die Wirksamkeit von aktiviertem Protein C (Drotrecogin α aktiviert) bei Patienten in der Frühphase einer schweren Sepsis untersucht. Wegen eindeutiger Überlegenheit des aktivierten Protein C gegenüber Placebo wurde die PROWESS-Studie nach Durchführung einer Interimanalyse und Einschluss von 1690 Patienten vorzeitig abgebrochen: der Einsatz von aktiviertem Protein C senkte signifikant die Letalität von 30,8% auf 24,7%, was einer absoluten Reduktion von 6,1% und einer relativen von 19,4% entsprach. Sieht man diesen Therapieerfolg unter dem Aspekt der Zahl der erforderlichen Behandlungen pro gerettetes Leben („numbers needed to treat“, NNT), so schneidet die Gabe von aktiviertem Protein C bei Sepsis (NNT 16) sogar besser ab als die Thrombolysebehandlung des akuten Herzinfarkts mit Streptokinase (NNT in der ISIS-2-Studie: 36).

Nicht alle Sepsispatienten scheinen in gleicher Weise zu profitieren [6, 21, 24, 28]: Pneumonie, Patientenalter >50 Jahre, APACHE-II-Score ≥25, Mehrorganversagen und Schock sind Faktoren, bei denen eine besonders erfolgreiche Behandlung erwartet werden kann, die prognostisch günstige Urosepsis und die nichtabominelle chirurgische Sepsis scheinen dagegen eher weniger anzusprechen. Demzufolge ist die Indikation in den USA auf den erwachsenen Patienten mit schwerer Sepsis und einem hohem Letalitätsrisiko (wie einem APACHE-II-Score ≥25) und in Europa auf den erwachsenen Sepsispatienten mit mindestens 2 Organversagen ausgerichtet [28].

Um nicht nur Statistik, sondern auch eine individuelle Patientin vorzustellen, ist in Abb. 6 der glückhafte Krankheitsverlauf einer jungen Patientin mit erfolgreich behandelter Meningokokkensepsis aufgezeigt.

Abb. 6a, b
figure 6

Patientin mit Verdacht auf Meningokokkensepsis. (Aus [16])

Die 24-jährige Patientin erkrankte akut mit hohem Fieber, Schock, Somnolenz und Meningismus, akutem Nierenversagen und Zeichen der Verbrauchskoagulopathie, mit disseminiert stehenden, z. T. flächenhaften Blutungen (Abb. 6a). Die Sepsis mit Mehrorganversagen ließ sich anhand des pathologischen Sepsisscore nach Elebute u. Stoner (Cut-off 12 Punkte) und des APACHE-II-Score objektivieren (Abb. 6b). Zusätzlich zur Standardtherapie wurde die Patientin aufgrund der Evidenzlage mit i.v.-IgG (Pentaglobin®, [38]) und aktiviertem Protein C (Drotrecogin α aktiviert, Xigris®) behandelt. Abb. 6b zeigt den Verlauf ausgewählter Krankheitsparameter unter Therapie.

Die beeindruckenden Ergebnisse der PROWESS-Studie sprechen dafür, dass die disseminierte intravasale Gerinnung in der Sepsis nicht nur Ausdruck einer gestörten „Organfunktion Gerinnung“ ist, sondern vielmehr Indikator einer engen Wechselwirkung von überschießender Inflammation und Gerinnung, mit der Möglichkeit zur Erzielung von Behandlungserfolgen mit gerinnungsaktiven Substanzen wie im Falle des aktivierten Protein C (Drotrecogin α aktiviert, Xigris®).

Wie teuer ist die Sepsistherapie?

Zu dieser im Hinblick auf die DRG-Entwicklung immer wichtiger werdenden Frage werden meist Informationen aus den Vereinigten Staaten herangezogen. Aber auch für Deutschland liegen aktuelle Zahlen vor [25, 26]: Eine Kostenrechnung von 3 Intensivstationen erbrachte für einen Patienten mit schwerer Sepsis durchschnittliche Fallkosten von 23.297±18.631 €. Bei einer geschätzten Gesamtzahl von 44.000–95.000 Patienten mit schwerer Sepsis jährlich in Deutschland ergeben sich demzufolge Behandlungskosten von jährlich 1–2 Mrd. €, 20–40% der Gesamtkosten der Intensivmedizin in Deutschland [26].

Erfolgreiche neue Therapieansätze erhöhen die Behandlungskosten der Sepsis: die Therapiekosten von Drotrecogin α (aktiviert; [2, 28]) lagen in der PROWESS-Studie bei 9800 US-$ pro Patient [2]. Für Sepsispatienten mit einem APACHE-II-Score ≥25 errechnen sich auf diese Weise Kosten von 27.400 US-$ pro gerettetes Qualitäts-Lebensjahr, die NNT beträgt für dieses Kollektiv nur noch 8. Die Autoren [2] folgern aus diesen Zahlen, dass der Einsatz von Drotrecogin α (aktiviert) bei schwerer Sepsis ein Kosten-Nutzen-Profil ähnlich dem vieler anderer akzeptierter Gesundheitskonzepte besitzt.

Synopsis

Die Sepsis ist nach wie vor ein lebensbedrohliches Krankheitsbild mit anhaltend hoher Letalität. Grampositive Erreger sind dabei qualitativ und quantitativ genauso bedeutsam wie gramnegative Keime. Fokuselimination und antiinfektiöse Therapie können nur initial kausal wirksam werden, denn mit zunehmender Sepsisdauer entwickelt sich die Krankheit immer mehr von der Infektions- bzw. Toxinerkrankung zur äußerst komplexen Mediatorerkrankung. Demzufolge dürfen wir von Weiterentwicklungen auf dem Antibiotikasektor nicht allzu viel für die Sepsisbehandlung erwarten.

Die supportive Therapie der Organdysfunktionen ist ein weiterer Eckpfeiler der Sepsistherapie, welcher auch in Zukunft ein wesentliches Potenzial besitzen wird, allerdings eben nur in supportiver und nicht in kausaler Weise. Die auf dem klassischen Pathophysiologiekonzept der überschießenden Entzündungsreaktion aufbauenden adjunktiven antiinflammatorischen Therapieansätze haben weitgehend enttäuscht, erfolgreiche klinische Behandlungsansätze zur Behebung der Immunparalyse sind derzeit ebensowenig in Sicht.

Überraschend erfolgreich als Sepsistherapie scheint dagegen die Modifikation der Gerinnungskaskade mit aktiviertem Protein C sowie die Substitution der relativen Nebennierenrindeninsuffizienz mit Hydrocortison zu wirken. Aber auch aktiviertes Protein C und Hydrocortison sind keine „Magic Bullets“, und das Problem der Sepsis ist damit nicht gelöst. Nötig sind Erweiterungen unseres Pathophysiologieverständnisses als Basis innovativer, effektiverer und in unterschiedliche Schädigungsmuster eingreifender multimodaler Behandlungsansätze. Bei einem dermaßen komplexen Krankheitsbild mit einer Sterblichkeit von „noch“ 30–60% können wir uns keinen Stillstand leisten!

Fazit für die Praxis

Bis vor Kurzem konnte der Intensivmediziner zwar mit Interesse die enttäuschenden Ergebnisse großer Sepsistherapiestudien in der Literatur verfolgen, praktische Auswirkungen auf die Behandlung seiner Patienten hatte dies jedoch nicht. Dies hat sich in den letzten beiden Jahren eindrucksvoll geändert: die lungenprotektive Beatmung, die Hydrocortisonbehandlung, die frühzeitige zielorientierte Herz-Kreislauf-Therapie und die Erzielung von Normoglykämie senken Sepsisrisiko und -letalität! Jeder Intensivmediziner ist damit heute in der Pflicht, diese evidenzbasierten und kostengünstigen Therapiekonzepte anzuwenden.

Allerdings sind nicht alle neuen Therapiekonzepte bei Sepsis so kostengünstig. Im Vergleich zu den geschätzten Fallkosten der Sepsis von ca. 25.000 € sind die zusätzlichen Kosten des aktivierten Protein C von derzeit 7500 € erheblich, selbst unter dem Aspekt, dass diese Behandlung die Überlebenschancen um 20 Relativprozent erhöht. Die Lösung dieses sozioökonomischen Konflikts kann die Gesellschaft nicht nur dem Arzt überlassen!

Unsere Sepsispatienten benötigen nicht nur medizinische Hilfe! Als Mitglied der Deutschen Sepsis-Gesellschaft kann jeder unserer Leserinnen und Leser dazu beitragen, dem Sepsispatienten in Zukunft eine bessere Chance zum Überleben zu geben.