Ototoxizität nach Cisplatingabe

Die Chemotherapie mit Cisplatin hat einen hohen Stellenwert in der pädiatrischen Onkologie, vor allem zur Behandlung von Osteosarkomen, Hirntumoren, Neuroblastomen und Keimzelltumoren. Nebenwirkung aus pädaudiologischer Sicht ist vor allem die Ototoxizität, deren Inzidenz in der Literatur in einer Spannbreite von 7–100% angegeben ist [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7], abhängig von der Höhe der Fallzahl und Definition des Hörverlustes. Diskutierte Einflussfaktoren sind z. B. Alter, Tumorart, Therapieregime, kumulative Gesamtdosis, Art der Applikation sowie zusätzliche Strahlentherapie [1, 2, 3, 4, 5]. Die Schädigung zunächst der basokochleären äußeren Haarzellen führt zu im Hochtonbereich beginnender sensorineuraler Schwerhörigkeit. Schädigungen der Stria vascularis [8, 9, 10] sind beschrieben, auch neurale Schädigungen werden vermutet [11]. Weiterhin kann es zu Tinnitus [11, 12], seltener zu Schädigungen des peripheren Gleichgewichtsorgans [13, 14, 15] kommen. Insbesondere bei Kindern kann eine Hörstörung im Hochtonbereich erhebliche negative Auswirkungen für die Sprachentwicklung haben [16].

Pädaudiologisches Monitoring

Aus klinischer Sicht

Aus der Ototoxizität ergibt sich die Notwendigkeit des pädaudiologischen Monitorings unter Cisplatintherapie. Klinisch ist es obligat, um Hörstörungen früh zu erfassen, Eltern und Patienten aufzuklären und zu beraten, bei auftretenden Hörstörungen Rückmeldung an die Onkologen geben zu können und, falls notwendig, eine Hörgeräteversorgung einzuleiten.

Aus wissenschaftlicher Sicht

Darüber hinaus sind die audiologischen Kontrollen von großem wissenschaftlichem Interesse. Forschungsgegenstand sind z. B. Zusammenhänge mit Therapieregime, Begleitmedikation, Elektrolythaushalt und Nierenfunktion, individueller Toleranz und genetischer Prädisposition. Hierfür sind eine Früherfassung der Ototoxizität und eine Klassifikation im Hinblick auf das Ausmaß und die betroffenen Frequenzbereiche im Verlauf der Behandlung von grundlegender Bedeutung.

Pädaudiologische Hörprüfverfahren

Zur klinisch-audiologischen Kontrolle sowie zur wissenschaftlichen Verlaufsdokumentation ist die Tonschwellenaudiometrie am besten geeignet: Das Hörvermögen kann seitengetrennt und frequenzspezifisch beurteilt, Hörverluste im Hochtonbereich können frühzeitig erkannt werden. Die Tonschwellenaudiometrie erfolgt konventionell zwischen 125 und 8000 Hz. Sie ist mit einem speziellen Kopfhörersystem auch im erweiterten Hochfrequenzbereich bis 16 kHz möglich, diese Erweiterung wird teilweise auch gefordert [16].

Zur Früherkennung der Ototoxizität erscheint die nicht allgemein verfügbare Hochfrequenzaudiometrie theoretisch ideal. Problematisch sind jedoch das Fehlen von Normwerten und die Altersabhängigkeit bislang erhobener Hochtonhörschwellen bei hörgesunden, insbesondere jüngeren Kindern [17]. Inter- und intraindividuelle Streuung sind deutlich größer und gewinnen mit zunehmender Frequenz an Bedeutung. Bei jüngeren Kindern kann die Compliance beeinträchtigt sein, bei älteren Kindern können Vorschäden durch Umwelteinflüsse (z. B. Walkman) bestehen.

Die Sprachaudiometrie ist für wissenschaftliche Fragestellungen bezüglich der Ototoxizität nicht bedeutsam. Entsprechend dem Alter und Sprachentwicklungsstand des Kindes werden verschiedene Testbatterien angewendet, was intra- und interindividuelle Vergleichbarkeit einschränkt; der Hochfrequenzbereich wird nicht direkt erfasst.

Auch otoakustische Emissionen werden im Monitoring der Cisplatin-Ototoxizität eingesetzt, insbesondere die frequenzspezifischen Distorsionsprodukte otoakustischer Emissionen (DPOAE). Der Nachweis von DPOAE im erweiterten Hochfrequenzbereich ist messtechnisch sowohl von Seiten der Reizapplikation als auch hinsichtlich der Antwortaufzeichnung sehr anspruchsvoll und nicht allgemein etabliert. Die Messung der DPOAE liefert keine Hörschwellen. Extrapolierte DPOAE-Wachstumsfunktionen [18] könnten, wenn auch nur bis zu einem Hörschaden von ca. 50 dB, eine Annäherung an die Hörschwelle bieten, sind aber nicht allgemein verfügbar und somit noch keine Alternative zum Tonschwellenaudiogramm.

WHO-Einteilung der Schwerhörigkeit

Die WHO-Einteilung der Schwerhörigkeit [19] beurteilt alle Hörstörungen anhand der konsekutiven Kommunikationsbeeinträchtigung unabhängig von Lokalisation, Frequenzverlauf und Ätiologie. Sie mittelt die Hörverluste von 500, 1000 und 2000 Hz der Luftleitungskurve des seitengetrennten Tonschwellenaudiogramms und unterteilt in 4 Schweregrade je nach Ausmaß des mittleren Hörverlusts. Für die Beurteilung der Ototoxizität ist die WHO-Klassifikation ungeeignet, da nur bis 2000 Hz bewertet und somit der Hochtonbereich nicht erfasst wird.

Hochton-Klassifikationen nach Brock et al. und Khan et al.

Die Einteilungen nach Brock et al. [3] und Khan et al. [20] versuchen, die Lücke der WHO-Einteilung zu schließen.

Die Einteilung nach Brock et al. wurde 1991 anhand der tonaudiometrischen Daten von 41 Kindern mit Hörverschlechterung unter Cisplatintherapie bei verschiedenen Tumoren entwickelt. Brock et al. berücksichtigen den typischen Verlauf der Hörstörung mit Beginn im Hochtonbereich und das Fortschreiten auf mittlere Frequenzen, indem Hörverluste ≥40 dB ab 8000 (Grad 1), 4000 (Grad 2), 2000 (Grad 3) und 1000 Hz (Grad 4) unterschieden werden. Eine Hörverschlechterung unter Therapie ist so gut darstellbar. Vorteilhaft ist die einfache Anwendbarkeit: 4 Grade, 4 Frequenzen, ein Grenzwert für den Hörverlust. Dieser erscheint mit 40 dB für wissenschaftliche Fragenstellungen kritisch hoch.

Khan et al. publizierten ihre Skala 1982 anhand der tonschwellenaudiometrischen Daten von 14 Kindern mit Hirntumoren, die neben einer operativen und Strahlentherapie eine Behandlung mit Cisplatin erhielten, was für die Entwicklung einer Klassifikation erhebliche Probleme aufwirft. Hörverluste ab 20 dB gelten als pathologisch. Unterteilt wird in Tinnitus ohne Hörverlust (Grad 1), Hörverluste ab 20 dB ab 4000 Hz (Grad 2), Hörverluste ab 20 dB unter 4000 Hz (Grad 3) sowie die nicht näher charakterisierte „schwere Taubheit“ (Grad 4). Der Hochtonbereich wird berücksichtigt.

20 dB als Grenzwert machen diese Einteilung „empfindlicher“ als die Klassifikation von Brock, Hörverluste werden früher erfasst. Die beiden Extreme Tinnitus ohne Hörverlust (Grad 1) und „schwere Taubheit“ (Grad 4) sind nach Cisplatintherapie eher selten, sodass in praxi nur die beiden mittleren Schweregrade (2 und 3) zur Verfügung stehen. Somit ist eine Verlaufsbeurteilung schwierig.

Wünschenswert für wissenschaftliche Fragestellungen wäre eine Einteilung, die Hörverluste insbesondere im Hochtonbereich früh erfasst und Progredienzen gut abbildet. Eine Klassifikation, die sowohl nach betroffenen Frequenzen als auch nach der Quantität des Hörverlustes innerhalb der einzelnen Frequenzen unterscheidet, verspricht am ehesten, dies zu leisten. Mit der Entwicklung einer eigenen Klassifikation haben wir versucht, dies zu realisieren, und die Vorteile der bestehenden Einteilungen nach Khan und Brock zu verbinden.

Patienten und Methoden

Eigene Klassifikation der Hochtonschwerhörigkeit

Wir haben anhand eigener Erfahrungen, Literaturrecherchen und der audiometrischen Daten von 55 am Universitätsklinikum Münster mit Cisplatin therapierten Kindern in Anlehnung an die WHO unter Einbezug des Hochtonbereichs eine eigene Klassifikation anhand des Tonschwellenaudiogramms entwickelt (Tabelle 1):

Tabelle 1 Münsteraner Klassifikation der Hochtonschwerhörigkeit

Zur Einteilung wird das Frequenzspektrum von 1000–8000 Hz für beide Ohren getrennt bewertet. Bei isolierten Schallleitungskomponenten im Hoch- oder Tieftonbereich wird die Knochenleitungskurve beurteilt. Es werden 4 Grade der Hörschädigung unterteilt. Hörverluste von 15 und 20 dB in mindestens einer Frequenz sowie Tinnitus ohne Hörstörung fassen wir zu Grad 1 (beginnende Schädigung) zusammen. Hörverluste >20 dB im Hochtonbereich (ab 4000 Hz und darüber) gelten als mäßige Schädigung und werden nach Ausmaß in Grad 2a (>20 bis 40 dB), 2b (>40 bis 60 dB) und 2c (>60 dB) unterschieden. Grad 3 (Beeinträchtigung, kompensierbar mit Hilfsmitteln) stellt das Übergreifen auf mittlere und tiefe Frequenzen dar: Hörverluste unterhalb 4000 Hz >20 dB werden analog Grad 2 in 3a, 3b und 3c unterteilt. Grad 4, der nach Cisplatintherapie seltene Funktionsausfall, umfasst mittlere Hörverluste unterhalb 4000 Hz, gemittelt aus 500, 1000 und 2000 Hz, ab 80 dB.

Mit der Einteilung in Hörverluste unter- und oberhalb von 4000 Hz wird das Übergreifen in den Mitteltonbereich erfasst, die weitere Progredienz im Mittel- und Tieftonbereich wird durch die Abstufung des Ausmaßes (a–c) berücksichtigt. Eine genauere Erfassung von Mittel- und Tieftonbereich (wie dies die WHO-Einteilung leistet) ist zur klinischen Beurteilung notwendig, aber nicht Ziel einer Einteilung, die die Hochtonschwerhörigkeit als Maß der Ototoxizität für wissenschaftliche Fragestellungen klassifiziert. Der Tieftonbereich (125, 250, 500 Hz) wurde nicht berücksichtigt: Die Cisplatin-Ototoxizität spielt in diesem Frequenzbereich keine wesentliche Rolle, die Messung dieser Frequenzen liefert vor allem bei jüngeren Kindern nicht immer zuverlässige Resultate und könnte somit leicht zu fehlerhafter Klassifikation führen.

Vergleich der Klassifikationen nach Khan et al., Brock et al. und Münster

Retrospektive Auswertung der Tonschwellenaudiogramme von 55 Kindern

Die 55 Kinder (32 m., 23 w., mittleres Alter bei Therapiebeginn 9,59 Jahre, SD 4,06 Jahre, 3,58–17,75 Jahre), deren Audiogramme retrospektiv ausgewertet wurden, erhielten zwischen 1999 und 2004 eine cisplatinhaltige Chemotherapie an der Klinik für Pädiatrische Hämatologie und Onkologie des Universitätsklinikums Münster (UKM). Die Audiogramme wurden in der Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie des UKM erstellt. Es wurden jeweils Tonaudiogramm, Tympanogramme, Messungen transitorischer otoakustischer Emissionen, ggf. Sprachaudiogramm sowie eine ärztliche Spiegeluntersuchung inklusive ohrmikroskopischer Befundung durchgeführt.

Beurteilt wurden: ein Audiogramm vor Therapiebeginn, ein Verlaufsaudiogramm zum Zeitpunkt eines tonaudiometrisch erstmalig dokumentierten Hörverlusts ab 15 dB in mindestens einer Frequenz oder Tinnitus (entsprechend Grad 1 der Münsteraner Klassifikation) sowie ein Abschlussaudiogramm 6–8 Wochen nach Abschluss der Chemotherapie. Das Ausmaß der Hörstörung wurde, für beide Ohren getrennt, in unserer Einteilung den Einteilungen nach Khan et al. und Brock et al. gegenübergestellt. Tabelle 2 zeigt eine Übersicht der verschiedenen Klassifikationen.

Tabelle 2 Klassifikationen der Hochtonschwerhörigkeit im Vergleich

Berechnung von Sensitivität, Spezifität und Effizienz

Eine Klassifikation soll Hörstörungen schon im Verlaufsaudiogramm erkennen, sie soll sensitiv sein. Patienten ohne Hörstörung nach Therapie sollten im Verlaufsaudiogramm unauffällig beurteilt worden sein, die Einteilung soll spezifisch sein. Die Effizienz, von Sensitivität und Spezifität abhängig, gibt den korrekt klassifizierten Anteil der untersuchten Population an. Beurteilt man das Verlaufsaudiogramm mit den 3 Klassifikationen, ergeben sich für jede Klassifikation (=Testverfahren) Testpositive (Audiogramm auffällig) und Testnegative (Audiogramm unauffällig).

Die Kriterien für eine gesicherte Hörstörung nach Therapie sind festzulegen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Grenzwerte verwendet werden. Unsere Einteilung bewertet Hörverluste ab 15 dB (oder Tinnitus) als pathologisch, Khan et al. verwenden 20 dB (oder Tinnitus) und Brock et al. 40 dB als Grenzwert. Für Hörstörungen im Abschlussaudiogramm ab 20 dB auf dem schlechteren Ohr in mindestens einer Frequenz (Abschlussaudiogramm nach Münster und Khan et al. pathologisch) und auch für Hörstörungen ab 40 dB (nach allen 3 Hochtonklassifikationen pathologisch) lassen sich Sensitivität, Spezifität und Effizienz berechnen: Die Beurteilung des Verlaufsaudiogramms erzeugte Testpositive und Testnegative in den jeweiligen Klassifikationen. Anhand des Abschlussaudiogramms wurden richtig Positive (Testpositiv und nach Therapie Hörstörung ab 20 bzw. 40 dB), richtig Negative (Testnegativ und nach Therapie keine entsprechende Hörstörung) sowie analog falsch Positive und falsch Negative für jede einzelne Klassifikation ermittelt. So sind Sensitivität [= richtig Positive/(richtig Positive + falsch Negative)], Spezifität [= richtig Negative/(richtig Negative + falsch Positive)] und Effizienz [= (richtig Positive + richtig Negative)/Gesamtzahl Testteilnehmer] zu berechnen.

Ergebnisse

Tonschwellenaudiometrische Ergebnisse im Therapieverlauf (n=110 Ohren)

Vor Therapiebeginn zeigten sich nach unserer Einteilung 109 unauffällige Ohren und ein Ohr mit beginnendem Hörverlust (Grad 1). Bei diesem lag bei 2000 Hz eine Senke von 20 dB einseitig vor. Nach Khan waren bei Therapiebeginn 109 Audiogramme unauffällig, das Hörvermögen des nach unserer Einteilung als Grad 1 klassifizierten Ohres entsprach nach Khan Grad 3. Nach Brock waren alle Audiogramme zu Therapiebeginn unauffällig.

Bei Beurteilung der Verlaufsaudiogramme sahen wir nach Münsteraner Klassifikation keinen Hörverlust bei 19, beginnenden Hörverlust (Grad 1) bei 32, mäßiggradigen Hörverlust (Grad 2 a–c) bei 53 und eine kompensierbare Schädigung (Grad 3a–c) bei 4 Ohren. 22 Ohren waren nach Khan unauffällig, 2 zeigten Hörverlust Grad 1, 74 Grad 2 und 12 Grad 3. Nach Brock beurteilt waren 57 Ohren unauffällig, 29 zeigten Hörverlust Grad 1 und 24 Grad 2.

Am Ende der Therapie zeigten nach unserer Klassifikation 8 Ohren keine, 5 eine beginnende Schädigung. Eine mäßige Schädigung (Grad 2a–c) war bei 73, eine mit Hilfsmitteln kompensierbare Beeinträchtigung (Grad 3a–c) bei 24 Ohren festzustellen. Nach Khan waren gleichfalls 8 Ohren unauffällig, kein Ohr zeigte Grad 1, 68-mal trat eine Hörstörung Grad 2 und 34-mal Grad 3 auf. Nach Brock waren 23-mal keine Hörstörung und 23-mal Hörverlust Grad 1 vertreten. Grad 2 trat 52-mal, Grad 3 bei 11 und Grad 4 bei einem Ohr auf. Abbildung 1 zeigt die Aufteilung nach den verschiedenen Klassifikationen im Überblick, Abb. 2 veranschaulicht die detaillierte Aufteilung in den 9 Gruppen der Münsteraner Klassifikation.

Abb. 1
figure 1

Abschlussaudiogramme nach Münster, Khan et al., Brock et al.

Abb. 2
figure 2

Detaillierte Klassifikation der Abschlussaudiogramme nach Münster

Abbildung der Hörverschlechterung bei 45 Patienten

45 Patienten zeigten nach allen Hochtonklassifikationen (Münster, Khan, Brock) pathologische Abschlussaudiogramme auf mindestens einem Ohr. Alle 45 zugehörigen Verlaufsaudiogramme waren nach Münsteraner Klassifikation auffällig, nach Khan waren 43 und nach Brock 31 Verlaufsaudiogramme pathologisch. Bei 6 Patienten war das Abschlussaudiogramm nach Münster und Khan auffällig, nach Brock nicht. Diese 6 zeigten nach Münster und Khan pathologische Verlaufsaudiogramme, 2 davon auch nach Brock. Vier Tonaudiogramme waren nach Abschluss der Therapie nach allen 4 Klassifikationen beidseits unauffällig, auch die entsprechenden Verlaufsaudiogramme waren nach allen Einteilungen regelrecht.

Nach der Münsteraner Klassifikation verschlechterte sich das Hören bei 45 Patienten auf mindestens einem Ohr zwischen Verlaufs- und Abschlussaudiogramm (ein höherer Klassifikationsgrad wurde erreicht). Nach Khan ergab sich eine Hörverschlechterung bei 30, nach Brock bei 38 Patienten. Nach Abschluss der Therapie wiesen nach unserer Einteilung 4 Kinder keine Hörstörung auf. Zwei Patienten zeigten eine beginnende Hörstörung (Grad 1), 49 Patienten (89,1%) eine Hörstörung ≥Grad 2a auf mindestens einem Ohr, davon 48 (87,1%) auf beiden Ohren. Bei 17 Patienten (30,9%) lag eine Hörstörung ≥Grad 3a auf mindestens einem Ohr (prinzipiell hörgerätepflichtig) vor.

Sensitivität, Spezifität und Effizienz

Für die Vorhersage eines Hörverlusts nach Therapieende aus dem Verlaufsaudiogramm wurden Sensitivität, Spezifität und Effizienz der Klassifikationen errechnet: 51 Patienten zeigten im Abschlussaudiogramm Hörverluste ab 20 dB. Die Münsteraner Klassifikation zeigt für die Vorhersage eines Hörverlusts ab 20 dB aus dem Verlaufsaudiogramm (Tabelle 3) eine Sensitivität von 1, die Sensitivität der Klassifikation von Khan et al. folgt mit 0,96. Die Klassifikation von Brock et al. weist mit 0,61 eine deutlich geringere Sensitivität auf. Alle Einteilungen zeigen eine Spezifität von 1.

Tabelle 3 Hörverluste ab 20 dB und ab 40 dB nach Therapie, Vorhersage durch Verlaufsaudiogramm. Richtig Positive (RP), richtig Negative (RN), falsch Positive (FP) und falsch Negative (FN); Sensitivität, Spezifität und Effizienz

Ein Hörverlust ab 40 dB im Abschlussaudiogramm (nach allen 3 Hochtonklassifikationen pathologisch) lag bei 45 Patienten vor. Die Sensitivität der Münsteraner Klassifikation für die Vorhersage eines Hörverlusts ab 40 dB liegt bei 1 (bei den Einteilungen nach Khan et al. 0,95, nach Brock et al. 0,62). Mit 0,8 erreichte die Klassifikation von Brock et al. eine deutlich höhere Spezifität als Münster und Khan et al. mit 0,4 (Tabelle 3). Die Effizienz der Münsteraner Klassifikation für die Erkennung von Hörstörungen ab 20 dB ist mit 1,0 der Einteilung von Khan et al. knapp (0,96) und der Einteilung von Brock et al. (0,64) deutlich überlegen. Auch für die Erkennung von Hörstörungen ab 40 dB zeigt unsere Klassifikation die höchste Effizienz (0,89), dann folgen Khan et al. (0,85) und Brock et al. (0,65).

Diskussion

Eine Klassifikation der Hochtonschwerhörigkeit als Grundlage für wissenschaftliche Arbeiten zur Cisplatin-Ototoxizität sollte die Komplexität der Informationen des Tonschwellenaudiogramms reduzieren, ohne dass relevante Aussagen, insbesondere die Darstellung des Hochtonbereiches, verloren gehen. Veränderungen des Hörvermögens unter der Therapie sollen frühzeitig erkannt und in ihrem Verlauf präzise beschrieben werden. Wünschenswert wäre, wenn das Ausmaß der zu erwartenden Hörstörung aus dem individuellen Verlauf vorhersagbar werden könnte. Die Klassifikation sollte keine regelrechten Audiogramme als pathologisch klassifizieren, und sie sollte praktisch anwendbar sein.

Die Münsteraner Klassifikation zeigte vom Anfangs- bis zum Abschlussaudiogramm eine zunehmende Zahl sowie ein zunehmendes Ausmaß von Hörstörungen. Vom Verlaufs- bis zum Abschlussaudiogramm beschrieb sie bei 45 Patienten eine Hörverschlechterung. Alle im Verlaufsaudiogramm auffälligen Patienten zeigten ein pathologisches Abschlussaudiogramm. Die Sensitivität zur Erkennung von Hörstörungen im Verlauf ist mit 1 höher als bei beiden anderen Klassifikationen. Die Spezifität ist abhängig vom Ausmaß der Hörstörung bei Ende der Therapie, ab 20 dB ist sie mit 1 maximal. Für Hörstörungen ab 40 dB (Münster 0,4) ist die Einteilung nach Brock mit 0,8 spezifischer. Die Effizienz der Münsteraner Klassifikation als Gütekriterium, das Sensitivität und Spezifität berücksichtigt, ist höher als bei beiden anderen Einteilungen, und zwar sowohl zur Erkennung von Hörstörungen ab 20 dB als auch ab 40 dB.

Unsere Klassifikation umfasst 5 Stufen und 6 Unterstufen, stellt somit an den Anwender höhere Anforderungen als die anderen (5-stufigen) Skalen. Für die Zielsetzung einer verbesserten Einteilung zur wissenschaftlichen Beurteilung der Ototoxiziät erscheint dies gerechtfertigt.

Die Klassifikation nach Khan et al. stellte die Häufigkeit von Hörstörungen im Verlaufs- und Abschlussaudiogramm ähnlich der Münsteraner Klassifikation dar. Sensitivität und Spezifität sind nur wenig schlechter. Die Einteilungen verwenden ähnliche bzw. gleiche Grenzwerte hinsichtlich Frequenz und Ausmaß der Hörstörung, die Unterteilung bei 4000 Hz ist von Khan et al. übernommen. Allerdings kennen Khan et al. mit 20 dB nur eine Quantität des Hörverlusts. So verteilten sich die Hörstörungen nach Therapieabschluss auf 3 Schweregrade (0, 2, 3), nach der Münsteraner Klassifikation auf 8 Schweregrade (0, 1, 2a–c, 3a–c). Hörverschlechterungen wurden schlechter abgebildet, die Progredienz wurde nur bei 30 gegenüber 45 Patienten (Münster) erkannt.

Nach Brock et. al wurden — aufgrund des mit 40 dB höheren Grenzwerts — im Verlauf und bei Therapieabschluss weniger auffällige Audiogramme gesehen als bei den vorangehenden Einteilungen. Die Sensitivität des Verlaufsaudiogramms war geringer (0,61 bzw. 0,62), auch für Hörstörungen ab 40 dB, die Spezifität zur Erkennung von Hörstörungen ab 40 dB entsprechend erhöht. Die Progredienz der Hörstörung wurde bei 38 von 45 Patienten erkannt: Verschlechterungen werden — vermutlich durch die viergeteilte Frequenzeinteilung — besser abgebildet als nach Khan et al. Dies führt zu einer zuverlässigen Einteilung des klinisch-audiologischen Ausmaßes der Hörstörung. Für eine wissenschaftliche Beurteilung der Ototoxizität erscheint aber der Grenzwert von 40 dB zu hoch, die Sensitivität ist nicht ausreichend.

Fazit für die Praxis

Für wissenschaftliche Untersuchungen zur Ototoxizität infolge einer Cisplatintherapie sind eine Früherfassung der ototoxischen Schädigung und eine Klassifikation bezüglich des Ausmaßes und der betroffenen Frequenzbereiche im Therapieverlauf von grundlegender Bedeutung. Anhand der tonschwellenaudiometrischen Daten von 55 Patienten haben wir eine Klassifikation entwickelt, die sich als Grundlage für wissenschaftliche Fragestellungen zur Cisplatin-Ototoxizität anbietet. Sie ist hinsichtlich der Früherkennung der Ototoxizität und der Darstellung von Hörverschlechterungen besser geeignet als die bestehenden Einteilungen (Khan et al. und Brock et al.).