Zehn Prozent aller Erwachsenen erleben während ihres Lebens Ohrgeräusche, die vorübergehenden Charakter haben; bei 0,5% der erwachsenen Bevölkerung entwickelt sich das Ohrgeräusch jedoch zur eigenständigen Tinnituserkrankung [5]. In den letzten Jahrzehnten sind intensive Studien zu den Ursachen und Auswirkungen des Tinnitus durchgeführt worden.

Pathogenese und Diagnostik

Man weiß heute, dass es sich bei einem Tinnitus um ein Ohrgeräusch handelt, welches in den meisten Fällen durch fehlerhafte Kodierung akustischer Information ohne adäquate äußere physikalische Reize entsteht und als eigenständiges Schallereignis wahrgenommen wird. Als Ursache für einen Tinnitus werden periphere oder zentrale Störungen der Hörbahn diskutiert, die auch in Kombination auftreten können. Eine Anhebung des Schweregrades erfolgt durch Einflüsse des limbischen Systems und des präfrontalen Kortex [8]. Der auditive Kortex ist mit dem limbischen System und dem präfrontalen Kortex als Zentrum für Verhalten verknüpft, wodurch sich der verstärkende Effekt von psychischer Belastung auf das Ohrgeräusch erklären lässt.

Eine rationale Diagnostik ist die wichtigste Grundlage der Therapie, da der objektive Nachweis des Ohrgeräusches die Last zur Legitimation für die Krankheit vom Patienten nimmt. Neben einer sorgfältigen Anamnese und apparativen Diagnostik, vor allem zur Charakterisierung einer begleitenden Hörstörung und zum Ausschluss organischer Ursachen für das Ohrgeräusch, sollte die Tinnituscharakterisierung durch psychoakustische Diagnostik erfolgen [23]. Psychologische Diagnostik ist sinnvoll, wenn das Ohrgeräusch als quälend beschrieben oder tagsüber als entnervend oder kontinuierlich vorhanden wahrgenommen wird.

Eine ausführliche Umfelddiagnostik dient zur Ermittlung von Einflussfaktoren auf das Ohrgeräusch, die sich therapeutisch beeinflussen lassen. Hierbei sind die Dopplersonographie der Halsgefäße und die manuelle Diagnostik der Wirbelsäulenfunktion einschließlich radiologischer Bildgebung für die Halswirbelsäule [9, 18] hervorzuheben. Biesinger [1] beschrieb 1989 die Bedeutung funktioneller Störungen der Halswirbelsäule für die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und forderte eine exakte Funktionsdiagnostik, insbesondere der oberen HWS. Bei einer jungen Patientin war ein Tinnitus durch Anspannung des M. levator scapulae provozierbar.

Begleitende funktionelle Störungen wurden von Terrahe bei Patienten mit Hörsturz berichtet; bei einem plötzlichen Hörverlust waren eine Blockierung des Segmentes C1/2, eine irreguläre Atlas-Axis-Segmentation sowie eine Verformung des rechten seitlichen atlantoaxialen Gelenkes zu finden [20]. Der Zusammenhang zwischen Halswirbelsäule und dem efferenten Teil des Hörsystems zeigt sich darüber hinaus in den klinisch eindeutig reflektorisch entstandenen Fällen von Tinnitus nach Manipulation an der Halswirbelsäule [3].

Aufgrund der bisherigen Beobachtungen [1, 3, 20] kann man zusammenfassend postulieren, dass die kraniozervikale Region störanfällig ist und auf schädigende Reize mit Symptomen aus der HNO-ärztlichen Praxis reagieren kann. Beschrieben sind in der Literatur Schwindel, Hörstörung, Kopfschmerz, Gesichtsschmerz, Otalgie, Dysphagie und Karotisschmerz. Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, dass immer wieder diskutierte Funktionsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule bei diesen Erkrankungen detaillierter untersucht und beschrieben werden, auch wenn der genaue pathophysiologische Zusammenhang bisher nur hypothetisch erklärt werden kann.

Funktionsstörungen der Gelenke

Gelenkfunktionsstörungen sind ein Aspekt der vielfältigen Störmöglichkeiten dieses Bewegungssystems, sie führen zu einer Bewegungseinschränkung, die in der allgemeinen klinischen Untersuchung als seitendifferenter Bewegungsumfang, in der manualtherapeutischen Untersuchung als Beeinträchtigung des Gelenkspieles imponiert [14]. Als biomechanische Grundlage der Gelenkfunktionsstörung wird die Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit bezeichnet, welche durch sehr diskrete Defizite des aktiven und passiven Gelenkspiels gekennzeichnet sind.

Das Gelenkspiel besteht dabei aus millimeterkleinen Translationsbewegungen unter Separation der Gelenkflächen [13]. Sind diese Bewegungen gestört, spricht man von einer funktionellen Blockierung, die durch eine reversible hypomobile Dysfunktion [19] charakterisiert ist. Lewit [11] beschrieb bereits 1968 das Fortbestehen des vorher diagnostizierten Blockierungsbefundes unter Narkose mit Myorelaxation, sodass man davon ausgehen kann, dass Blockierungen im Gelenk selbst ihre Ursache haben.

Emminger [6] stellte 1967 die Theorie auf, dass eine Einklemmung meniskoider Strukturen das Gleiten der Gelenkflächen behindert und somit Substrat für die Blockierung ist. Aufgrund der Funktionseinheit eines Gelenkes mit seinen Muskeln und nervalen Strukturen kommt es bei Gelenkfunktionsstörungen begleitend zu Muskelverspannungen in den entsprechenden Myotomen, welche dann als reflektorisch analgetische Krankheitszeichen bezeichnet werden. Diese sind durch Hyperalgesie der Haut, Hypertonie der segmentalen Muskulatur, Tendopathien der Sehnenansätze sowie sympathotone Irritation begleitet.

Segmentale Gelenkfunktionsstörungen werden als funktionelle Störung aufgefasst, wenn sie unabhängig von pathomorphologischen Veränderungen auftreten. Sind die Gelenkfunktionsstörungen nicht ausschließlich funktioneller Natur, können die zugrunde liegenden Strukturstörungen oder Stellungsanomalien in der radiologischen Diagnostik dargestellt werden, diese ist des Weiteren Voraussetzung für jede manualtherapeutische Intervention (Empfehlung Ärzteseminar Berlin).

Unter osteopathischer Betrachtungsweise ist für eine optimalen Funktion notwendig, dass alle 4 Hauptsystem des Körpers in Gleichklang sind. Dazu gehören das parietale System mit muskulofaszialen sowie skeletalen Anteilen, welches den Großteil des menschlichen Körpers umhüllt, das viszerale System der inneren Organe, welches bei Erkrankungen die Funktion und Mobilität des muskulofaszial-skeletalen Systems verändern kann, dem kraniosakralen System als muskulofaszial-skeletale Verbindung von Sakrum zum Kranium, welches bei Spannungsänderungen zur Beeinflussung von Os temporale und vestibulokochleärem System führen kann und die Psyche. Alle 4 Systeme stehen untereinander in funktionellem Gleichgewicht.

Dem diagnostischen Prozedere der HNO-Ärzte bei Tinnituserkrankung entsprechend kann sich auch die osteopathische Befunderhebung in die Untersuchungsabläufe einordnen, da sie unter Berücksichtigung eines holistischen Konzeptes den Patienten als Patienten und nicht als Krankheit Tinnitus betrachtet.

Studiendesign

Material und Methoden

Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, Dysfunktionen der zervikalen segmentalen Gelenke und Muskulatur bei Tinnituspatienten darzustellen, um damit die Grundlage für eine systematische manualtherapeutische Diagnostik bei Patienten mit Tinnituserkrankungen zu schaffen.

Von April 2002 bis März 2003 wurden 189 Patienten manualtherapeutisch untersucht, welche sich ambulant im Rahmen der Tinnitussprechstunde (n=74; 39,2%) oder konsilarisch während eines stationären Aufenthaltes (n=115; 60,8%) in der Klinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde der Charité Campus Mitte vorstellten.

Es wurden 41,3% weibliche (n=78) und 58,7% männliche (n=111) Patienten untersucht. Das Durchschnittsalter betrug für die weiblichen Patienten 45,7 Jahre (Minimum 11 Jahre, Maximum 84 Jahre), für die männlichen Patienten 46,9 Jahre (Minimum 22 Jahre, Maximum 78 Jahre).

Neben Patienten mit ausschließlicher Tinnituserkrankung (n=148; 78,3% der Fälle) wurden in die Auswertung auch Patienten (n=41; 21,7% der Fälle) einbezogen, die an kombinierten Krankheitsbildern litten, so Tinnitus bei M. Menière und Hörsturz, die sich zum Untersuchungszeitpunkt vor allem wegen eines Tinnitus vorstellten.

Einseitige Symptomatiken standen im Vordergrund der Beschwerdebilder: rechts 54 Fälle (28,6%), links 77 Fälle (40,7%), beidseitig 58 Fälle (30,7%).

Bezogen auf die Krankheitsdauer liegen Angaben von 148 Patienten vor, wovon 87 (58,8%) akut und 61 (41,2%) chronisch erkrankt waren.

Untersuchungsgang

Anhand eines einheitlichen Befunderhebungsbogens, der im Vorfeld der Untersuchung in Anlehnung an Veröffentlichungen über zervikogene Symptome in der HNO-Heilkunde entwickelt wurde [1, 2, 20], erfolgte bei allen Patienten die Untersuchung von globaler Beweglichkeit der Halswirbelsäule, die orientierende Untersuchung der Kopfgelenke, des zervikothorakalen Überganges, der 1. Rippe und der Kiefergelenke. Neben isometrischen Spannungstests zur Erfassung muskulärer Dysbalancen erfolgten die Überprüfung der Verlängerungsfähigkeit der Mm. sternocleidomastoidei, trapezii partes descendentes und levatores scapulae sowie das Aufsuchen von Triggerpunkten in diesen Muskeln.

Die manualtherapeutischen Untersuchungstechniken folgten dem Ausbildungskonzept des Ärzteseminars Berlin. Bei allen orientierenden Untersuchungen saß der Patient, wobei beide Füße bei rechtwinklig gebeugten Hüft- und Kniegelenken auf dem Boden oder einer festen Unterlage standen. Zur Stabilisierung und Vermeidung einer thorakalen Kyphosierung stützte der Untersucher den Patienten von dorsal ab. Für die globale Beweglichkeit der Halswirbelsäule wurden der Bewegungsablauf, die maximal möglichen Bewegungsausschläge und die sog. Endspannung der Bewegung erfasst.

Bei Einschränkungen der Gesamtbewegung folgte die gezielte segmentale Untersuchung. Die Dokumentation der Untersuchungsergebnisse wurde mit einem einheitlichen Befunderhebungsbogen (Tabelle 1) durchgeführt.

Tabelle 1 Untersuchungsbogen

Statistische Grundlagen

Die vorliegenden Daten wurden im Rahmen einer klinischen, nicht randomisierten Untersuchung ermittelt. Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Statistikprogramm SPSS, Version 11. Als abhängige Variablen wurden die einzelnen Charakteristika des Tinnitus, wie betroffene Seite und Erkrankungsdauer, definiert. Die einzelnen Bewegungsumfänge bzw. ihre Einschränkungen sowie die erfassten muskulären Befunde entsprechen den infrage stehenden Einflussgrößen. Die Zusammenhänge zwischen Ziel- und Einflussgrößen und die zwischen den einzelnen Einflussgrößen wurden bivariat geprüft. Da es sich bei beiden Variabeln um dichotome Größen handelt, erfolgte die Auswertung mittels χ2-Test auf Unabhängigkeit. Die Irrtumswahrscheinlichkeit wurde mit p≤0,05 festgelegt. Auf gleiche Weise wurden Zusammenhänge zwischen den einzelnen Einflussgrößen bestimmt.

Ergebnisse

Einseitiger Tinnitus

Bei einseitigem Tinnitus fanden sich gegenüber beidseitigen Tinnituserkrankungen signifikant häufiger globale Störungen der Linksrotation (p<0,01) und Rechtsrotation (p<0,01). Bei der Gegenüberstellung der einzelnen betroffenen Seiten konnte dieses Signifikanzniveau erneut dargestellt werden. Bei rechtsseitigem Tinnitus bestehen signifikant häufiger Einschränkungen der Rechtsrotation (p<0,05) und bei linksseitigem Tinnitus signifikant häufiger Funktionsstörungen der Linksrotation (p<0,05).

Bei rechtsseitigem Tinnitus zeigten sich signifikant häufiger kraniomandibuläre Dysfunktionen rechts mit Blockierungen des rechten Kiefergelenkes (p<0,05).

Darüber hinaus sahen wir, dass die eingeschränkten Funktionen durch verschiedene globale und segmentale Funktionseinschränkungen beeinflusst werden (Tabelle 2). Die Einschränkung der globalen Rechtsrotation der Halswirbelsäule korreliert mit der Einschränkung der globalen Retroflexion (p<0,05), der globalen Rechtsseitneige (p<0,05), globalen Linksseitneige (p<0,01) sowie der globalen Linksrotation (p<0,001). Darüber hinaus wird die globale Rechtsrotation durch segmentale Blockierungen der Anteflexion im Segment Okziput über C1 (p<0,01), der Rechtsrotation im Segment C2 über C3 (p=0,05) und eine blockierte 1. Rippe links (p<0,01) beeinflusst.

Tabelle 2 Tinnitus, n=189, manualtherapeutische Befunde

Auch muskuläre Dysfunktionen beeinflussen die globale Rechtsrotation. Die Verlängerungsfähigkeit der Mm. sternocleidomastoideus rechts (p<0,05) sowie links (p<0,05) und des M. trapezius pars descendens rechts (p<0,01) haben ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf die globale Bewegungseinschränkung der Rechtsrotation.

Die globale Linksrotation wird signifikant durch Funktionseinschränkungen der globalen Rechtsseitneige der Halswirbelsäule (p<0,01), der Linksrotation der Kopfgelenke von Okziput bis C3 (p<0,05), der Anteflexion im Segment Okziput über C1 (p<0,05), der beidseitigen Rotation im zervikothorakalen Übergang (rechts p<0,05, links p<0,01) und der Mobilität der 1. Rippe links (p<0,05) beeinflusst. Die Verlängerungsfähigkeit der Mm. levator scapulae beidseits (rechts p<0,01, links p<0,01) sowie Triggerpunkte in den Mm. sternocleidomastoideus rechts (p<0,05), levator scapulae links (n=102; p=0,025) verändern die globale Linksrotation signifikant, die des M. trapezius pars descendens rechts (p=0,051) tendenziell.

Beidseitiger Tinnitus

Bei beidseitigem Tinnitus finden sich im Vergleich zu einseitigen Tinnituserkrankungen häufiger globale Störungen der Linksseitneige sowie eine verminderte Verlängerungsfähigkeit des M. masseter rechts. Die Abweichung vom Gleichverhalten ist bei dem Vergleich von einseitigen mit beidseitigen Tinnituserkrankungen für die globale Linksseitneige (p<0,05) signifikant.

Auch bei beidseitigem Tinnitus zeigt sich eine Beeinflussung durch einzelne globale und segmentale Bewegungsstörungen sowie muskuläre Dysfunktionen. Einschränkungen der globalen Anteflexion (p<0,05), globalen Retroflexion (p<0,01), globalen Rechtsseitneige (p<0,01) und globalen Rechtsrotation (p<0,01) zeigen einen gleichgerichteten, signifikanten Zusammenhang. Für die segmentalen Gelenkfunktionsstörungen zeigen sich signifikante Beeinflussungen durch die Linksrotation der Kopfgelenke (p<0,01), die Linksseitneige im Segment Okziput über C1 (p<0,05), die Rechtsrotation C2 über C3 (p<0,05) und die 1. Rippe links (p<0,05).

Eine verminderte Verlängerungsfähigkeit der Mm. sternocleidomastoideus rechts (p<0,05) und links (p<0,05), trapezius pars descendens rechts (p<0,01) und links (p<0,05) sowie levator scapulae links (p<0,05) beeinflussten die eingeschränkte Linksseitneige bei beidseitigem Tinnitus ebenfalls gleichgerichtet.

Funktionsstörungen in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

Die statistische Auswertung der einzelnen Funktionsstörungen in Abhängigkeit von der Erkrankungsdauer zeigte, dass die meisten Bewegungseinschränkungen bei chronischem Tinnitus, nicht jedoch bei einer akuten Erkrankung an Tinnitus aufzufinden sind (Tabelle 3).

Tabelle 3 Funktionsstörungen in Abhängigkeit von der Krankheitsdauer

Die Abweichung vom Gleichverhalten ist bei chronischen Tinnituserkrankungen für die globalen Bewegungen der HWS signifikant bei Störungen der Anteflexion (p<0,01), der Rechtsseitneige (p<0,01) und der Linksseitneige (p<0,01). Die Linksrotation ist tendenziell häufiger bei akutem Tinnitus (p=0,072) als bei chronischem Tinnitus eingeschränkt.

Bei der Untersuchung der segmentalen Gelenkbeweglichkeit sahen wir, dass Blockierungen der Rechtsrotation im zervikothorakalen Übergang tendenziell häufiger (p=0,059) bei chronischem Tinnitus als bei akutem Tinnitus auftraten.

Muskuläre Dysfunktionen finden sich für die Mm. masseter links (p<0,05), trapezius pars descendens links (p<0,05) bei chronischem Tinnitus signifikant häufiger als bei akutem Tinnitus.

Bei akuten Ereignissen sahen wir signifikant häufiger einseitige, bei chronischem Geschehen signifikant häufiger beidseitige Tinnituserkrankungen (p<0,01).

Diskussion

In der vorliegenden Arbeit sollte der Einfluss zervikaler Dysfunktionen im Bereich der globalen Bewegungsumfänge, segmentalen Beweglichkeit und Muskulatur bei Tinnituserkrankten überprüft werden, um eine Grundlage für die systematische manualtherapeutische Diagnostik und Therapie bei Patienten mit Tinnitus zu erarbeiten.

Von den 189 Tinnituspatienten, welche von uns manualtherapeutisch untersucht wurden, war die Mehrzahl akut erkrankt. Neben reinem Tinnitus wurden auch Patienten mit M. Menière und Hörsturz in die Untersuchung eingeschlossen. Einseitige Tinnitusformen stellten den größten Anteil der Erkrankungen in der untersuchten Patientengruppe dar.

Bewegungseinschränkungen

Es fanden sich Bewegungseinschränkungen, die sich in Lokalisation und Ausprägung bei einseitigem und beidseitigem Tinnitus unterschieden. Im Vergleich zu bisher publizierten Befunden bei Tinnituspatienten sahen wir vor allem Funktionsstörungen der globalen Halswirbelsäulenbeweglichkeit mit Einschränkung der Bewegungsumfänge, nicht aber einzelne Gelenkfunktionsstörungen [20].

Bei einseitigem Tinnitus fanden sich in Abhängigkeit von der vom Tinnitus betroffenen Seite signifikant häufiger globale Bewegungseinschränkungen für die Links- und Rechtsrotation, bei beidseitigen Tinnituserkrankungen signifikant häufiger Einschränkungen der Linksseitneige.

Bei rechtsseitigem Tinnitus fanden sich signifikant häufiger kraniomandibuläre Dysfunktionen rechts mit eingeschränkter Kiefergelenkbeweglichkeit. Diese Tatsache unterstreicht die Wichtigkeit aktueller Publikationen über Zusammenhänge von kraniomandibulären Dysfunktionen und Tinnituserkrankungen [12, 16, 22], die in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf-und Halschirurgie [10] Berücksichtigung gefunden haben. Peroz konnte 2003 in einer Untersuchung über Funktionsstörungen des Kauorgans bei Tinnituspatienten eine signifikant höhere Prävalenz der Druckdolenz der Kaumuskulatur im Vergleich zu einer Kontrollgruppe nachweisen [15]. Arthrogene Funktionsstörungen der Kiefergelenke waren bei Tinnituspatienten jedoch nicht häufiger als in der Kontrollgruppe.

Unter Berücksichtigung von funktionellen Verkettungen, wie sie u. a. von Lewitt als einem der Begründer der Manualtherapie beschrieben wurden, werteten wir die Beeinflussung der globalen Bewegungen der Halswirbelsäule durch einzelne Bewegungssegmente aus. Darüber hinaus sind muskuläre Befunde im Sinne von veränderter Verlängerungsfähigkeit und Triggerpunkten zu erwarten gewesen. Diese Verkettungsmuster finden in der modernen Gesellschaft aufgrund der immer unphysiologischeren Bewegungsmuster am Arbeitsplatz und im täglichen Leben immer größere Bedeutung.

Wir konnten zeigen, dass muskuläre Dysbalancen der Mm. sternocleidomastoideus, trapezius pars descendens und levator scapulae einen signifikanten Einfluss auf globale Rotationsstörungen haben. Die veränderte muskuläre Verlängerungsfähigkeit sowie die Triggerpunkte in diesen Muskeln, welche sich als signifikante Einflussgrößen erwiesen, entsprechen zum Teil den bisherigen manualtherapeutischen Beobachtungen, die unter anderem von Travell u. Simons [21] hinsichtlich der Triggerpunktzonen systematisiert wurden. Hierbei sind die Schmerzzonen der Mm. sternocleidomastoideus und masseter Ohr und Kiefergelenk zugeordnet.

Blockierungen

Auch eine Einflussnahme segmentaler Gelenkbewegungen auf die globalen Funktionsseinschränkungen der Halswirbelsäule konnte aufgezeigt werden. Neben dem in bisherigen Veröffentlichungen dargestellten Zusammenhang von segmentalen Gelenkfunktionsstörungen der Halswirbelsäule und Tinnituserkrankungen [1] ergibt sich hier ein wesentlich komplexeres Störungsmuster als bereits beschrieben. Die globale Rechtsrotation wird signifikant durch Blockierungen der Kopfgelenke und der 1. Rippe, Einschränkungen der globalen Linksrotation werden signifikant durch Blockierungen der Kopfgelenke, des zervikothorakalen Übergang und eine gestörte Mobilität der 1. Rippe beeinflusst. Bei Funktionsstörungen der Linksseitneige sahen wir als signifikante Einflussgröße Blockierungen der Kopfgelenke und der 1. Rippe.

In Abhängigkeit von der Erkrankungsdauer traten Blockierungen der Rechtsrotation im zervikothorakalen Übergang tendenziell häufiger bei chronischem Tinnitus als bei akutem Tinnitus auf. Muskuläre Dysfunktionen fanden sich für die Mm. masseter links und trapezius pars descendens links bei chronischem Tinnitus signifikant häufiger als bei akutem Tinnitus.

Akuter Tinnitus war signifikant häufiger mit einseitigen, chronischer Tinnitus signifikant häufiger mit beidseitigen Tinnituserkrankungen verbunden.

Bezogen auf die Chronifizierung der Erkrankung kann man demzufolge erwarten, dass bei beidseitigen Tinnitusformen ein chronischer Verlauf häufiger ist als bei einseitigen Erkrankungen, insbesondere wenn ein beidseitiger Tinnitus von muskulären Dysbalancen im M. masseter begleitet wird.

Pathophysiologische Überlegungen

Über die möglichen physiologischen Zusammenhänge der dargestellten Funktionsstörungen der Halswirbelsäule mit Tinnituserkrankungen kann es nur hypothetische Erklärungsansätze geben, da weder die Pathophysiologie des Tinnitus [10] noch Zusammenhänge zwischen Tinnitus und Halswirbelsäule bewiesen sind. Geht man davon aus, dass die Funktionseinheit der oberen Halsgelenke als ein zwischengeschaltetes Sinnesorgan aufgefasst wird, welches mit vestibulärem und visuellem System die Justierung von Körperstellung, Blickmotorik und Raumorientierung reguliert [2], und dass die sensorischen Informationen der Kopfgelenke über den Tractus spinovestibularis des Rückenmarks in den Hirnstamm weitergeleitet und hier mit den Vestibulariskernen verschaltet [4] werden, bietet die manualtherapeutische Diagnostik die Möglichkeit, Funktionsstörungen am Anfang dieser Informationskette zu erfassen.

Durch Gelenkblockierungen entsteht reflektorisch in den entsprechenden Myotomen ein Ungleichgewicht der tonischen und phasischen Muskelaktivitäten, und muskuläre Dysbalancen sowie das Ausbilden von Triggerpunkten in der Muskulatur können die Folge sein. Auch die Osteopathie sieht Korrelationen von Spannungserhöhungen in den Halsfaszien, die im Zusammenhang mit den Körperfascien von kaudal nach kranial zu Dysfunktionen des kraniosakralen Systems führen. Tinnituspatienten leiden in der Regel unter erheblichen Störungen des Muskelgleichgewichtes im gesamten Bewegungssystem. Jede Beweglichkeitsänderung im Bewegungsapparat im Sinne einer Hyper- oder Hypomobilität kann zu einer Funktionsstörung führen [17].

Kritisch zu diskutieren ist, ob die Funktionsstörungen als Folge des Tinnitus aufgetreten sind oder bereits vor diesem als auslösender Faktor bestanden haben. Für die Hypothese, dass Gelenkblockierungen und muskuläre Dysbalancen ursächlich für einen Tinnitus sein können, sprechen Fallbeschreibungen aus den vergangenen Jahren; in den klinisch eindeutig reflektorisch entstandenen Fällen von Tinnitus nach Manipulation an der HWS wurde ein Zusammenhang zwischen Halswirbelsäule und dem efferenten Teil des Hörsystems postuliert [13, 14].

In Folge der abgeschlossenen Untersuchung ist die Evaluierung von Therapieverfahren bei Tinnituspatienten geplant. Favorisiert werden hierbei vor allem serielle Anwendungen zur Muskelrelaxation, Triggerpunktlöschung und Mobilisierung der Gelenkblockierungen. Hierdurch wäre auch die Bestätigung der bisherigen Untersuchungsergebnisse HNO-ärztlicher Kollegen [7] möglich.

Schlussfolgerungen

Für verschiedene Erkrankungen aus dem HNO-ärztlichen Bereich sind Zusammenhänge mit Funktionsstörungen der HWS beschrieben worden, hervorzuheben sind hier vor allem kochleäre und vestibuläre Symptome. Aufgrund der engen anatomischen Beziehung zwischen der knöchernen Halswirbelsäule und den Propriozeptoren der kleinen Wirbelgelenken regulieren die oberen Halsgelenke mit dem vestibulären und visuellen System das Zusammenspiel von Blickmotorik, Raumorientierung und Körperstellung. Bei einer funktionellen Bewegungsstörung der Halswirbelsäule kann es zu einer Störung dieses Bewegungssystems kommen.

Durch die vorliegenden Daten, welche im Rahmen einer retrospektiven klinischen Untersuchung ermittelt wurden, konnte der Einfluss globaler Bewegungsstörungen der HWS sowie zervikaler Dysfunktionen der segmentalen Gelenke und Muskulatur bei Tinnituspatienten dargestellt werden.

Die Einschränkung der globalen Beweglichkeit der Halswirbelsäule hatte im Gegensatz zu segmentalen Funktionsstörungen der Halswirbelsäule einen signifikanten Einfluss auf den Tinnitus. Funktionsstörungen von Kopf- und Kiefergelenken ließen sich, anders als bisher publiziert [1, 7, 20], nicht als eigenständiges pathognomonisches Bild bei Tinnituspatienten abbilden, waren aber dennoch signifikante Einflussgrößen in Bezug auf die globale Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Dabei ließen sich Unterschiede zwischen einseitigem und beidseitigem Tinnitus sowie zwischen akuten und chronischen Tinnituserkrankungen feststellen.

Die Ergebnisse unterstützen die bisherige Auffassung, dass eine sorgfältige manualtherapeutische Untersuchung, wie sie bereits von Biesinger u. Terrahe [1, 20] gefordert wurde, Bedeutung in der Umfelddiagnostik von Tinnituserkrankungen hat und bestätigen den bislang subjektiven Eindruck, dass Funktionsstörungen der Halswirbelsäule ein häufiger Befund bei Tinnituserkrankungen sind.

Eine Fallkontrollstudie sowie eine prospektive randomisierte Studie zur Evaluation der bisherigen Ergebnisse und Wirksamkeit möglicher Therapieverfahren ist im Verlauf zu fordern.

Fazit für die Praxis

Man kann aus den Daten dieser retrospektiven klinischen Untersuchung schlussfolgern, dass es charakteristische Einschränkungen der globalen Beweglichkeit der Halswirbelsäule bei Tinnituserkrankungen gibt. Liegen solche Funktionsstörungen vor, sollte sich eine manualtherapeutische Untersuchung anschließen, da wir zeigen konnten, dass segmentale Gelenkfunktionsstörungen und muskuläre Dysfunktionen im Bereich der Halswirbelsäule einen signifikanten Einfluss auf die globale Bewegungseinschränkung im Bereich der Halswirbelsäule bei Tinnituspatienten haben.