Neueren epidemiologischen Ergebnissen zufolge [30] leiden in Deutschland 3 Mio. Menschen an Tinnitus, wobei die Hälfte von ihnen mittelschwer bis unerträglich belastet ist. Bis auf wenige Ausnahmen ist es in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht möglich, die Ohrgeräusche des Patienten objektiv zu messen oder zu lokalisieren. Pathogenetisch werden sowohl kochleäre wie zentrale Störungsmechanismen diskutiert [13, 14, 28, 31, 36, 40]. Somit stehen Arzt und Patient vor dem Problem, wann mit welcher Therapie an welchem Pathomechanismus angesetzt werden soll.

Therapieansätze

Neben verschiedenen medikamentösen Ansätzen wird in Deutschland bei Patienten mit chronischem Tinnitus seit 1995 zunehmend die Tinnitus-Retraining-Therapie nach Jastreboff und Hazell eingesetzt. Diese beiden Wissenschaftler fanden bei ihren Untersuchungen heraus, dass eine sehr enge Verbindung zwischen der Geräuschwahrnehmung und dem limbischen System existiert. Aufgrund dieser Verbindung bekommt alles Gehörte eine emotionale Färbung. Auf der Basis ihrer Erkenntnisse entwickelten Jastreboff und Hazell ein neurophysiologisches Modell zur Entstehung von Tinnitus [17, 18, 22, 23, 24], aus dem sie das Konzept der Retraining-Therapie ableiteten.

Ziel der Therapie ist es, durch adäquates Training einen Habituationsprozess auszulösen [17, 18, 23, 24]: Durch Defokussierung des Tinnitus soll das Ohrgeräusch in den Wahrnehmungshintergrund gedrängt und die negative emotionale Färbung abgebaut werden. Am Anfang der Behandlung steht eine umfassende neurootologische Diagnostik; sie ist bereits Teil der Therapie, da sie geeignet ist, dem Patienten die Angst vor schwerwiegenden Erkrankungen wie Tumor oder Schlaganfall zu nehmen. Darüber hinaus werden dem Patienten im Rahmen eines Counselling Zusammenhänge zwischen Tinnitusintensität und Vorgängen im limbischen System verdeutlicht.

Mit Unterstützung von Rausch- oder Hörgeräten lernt der Patient zudem, seine Aufmerksamkeit vom Tinnitus wegzulenken. Verschiedene Studien zeigen die Effektivität solcher apparativen Mittel auf [18, 39], andere Arbeitsgruppen konnten keine Steigerung eines Retraining-Effektes durch den Einsatz von Rauschgeräten feststellen [3, 16, 34]. Die Inkonsistenz der Studienergebnisse erklärt sich vermutlich durch Unterschiede im Studiendesign bzw. unterschiedliche Indikationsstellung für die Therapie mit Rauschgeräten, d. h. die Ergebnisse sind nicht unbedingt vergleichbar.

Neben den beschriebenen Interventionen werden in Deutschland auch Klang- oder Musiktherapie, Entspannungsverfahren sowie psychotherapeutische Behandlungsmethoden eingesetzt, d. h. die klassische Retraining-Therapie nach Jastreboff und Hazell wird—entsprechend den Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (ADANO) von 2000 [1]—mehr und mehr durch ein interdisziplinäres Vorgehen von HNO-Facharzt, Psychologe und Akustiker erweitert. Verschiedene Autoren [2, 12, 20, 21, 33, 38] weisen auf die Bedeutung dieses interdisziplinären Vorgehens hin. In der Literatur wird übereinstimmend eine Erfolgsquote der Retraining-Therapie von bis zu 80% angegeben [10, 15, 17, 18, 27, 37, 39]; die bisherige Evaluation der Tinnitus-Retraining-Therapie wird allerdings unter methodischen Gesichtspunkten z. T. kritisch beurteilt [3, 26].

Der Habituationsprozess wird bei der Retraining-Therapie in erster Linie durch Umlenkung der Höraufmerksamkeit initiiert, d. h. die Aufmerksamkeit des Patienten wird auf andere akustische Reize und Informationen gerichtet und damit vom Tinnitus weggelenkt. Das Prinzip einer Aufmerksamkeits(um)lenkung kommt auch in einem als Ablenkungs- und Entspannungstraining bezeichneten Therapieansatz zum Tragen, welcher von Gerhards entwickelt wurde [8, 9]. Bei diesem Training werden Entspannungstechniken mit einem imaginativen Verfahren zur Aufmerksamkeitslenkung kombiniert. Im Rahmen der Imagination wird die Aufmerksamkeit des Patienten auf angenehme Vorstellungsinhalte gerichtet: Der Patient wird angeleitet, sich eine Ruheszene vorzustellen und u. a. zu imaginieren, er liege in einem bequemen Liegestuhl und räkele sich in der Sonne.

In der Imagination werden angenehme Sinnesempfindungen fokussiert, die gezielt durch Licht- und Wärmereize induziert werden. Diese Reize fungieren gleichzeitig als Distraktoren, welche Aufmerksamkeit binden und die Defokussierung des akustischen Tinnitussignals erleichtern sollen. Reizquelle ist ein spezieller Glühkörper, dessen Strahlungsintensität entsprechend der imaginierten Helligkeit und Wärme der Sonne computergesteuert variiert wird. Die Wirksamkeit dieses Behandlungsansatzes konnte in verschiedenen Studien belegt werden [6, 8, 9]. Es zeigte sich nicht nur kurz-, sondern auch langfristig eine bedeutsame Minderung der tinnitusbedingten Belastung und Beeinträchtigung sowie eine Verbesserung der Tinnitusbewältigung.

Bislang ist ungeklärt, wie die kurz-, mittel- und langfristigen Effekte der unterschiedlichen, oben beschriebenen Aufmerksamkeitslenkungsmethoden in einer vergleichenden Betrachtung zu bewerten sind. Ziel der vorliegenden Studie war es, diese Frage im Rahmen einer prospektiven randomisierten Studie zu klären.

Material und Methoden

Patienten

Für die Studie wurden 40 Patienten, 25 Männer und 15 Frauen im Alter von 25 Jahren bis 72 Jahren (Durchschnittsalter 49,1 Jahre) ausgewählt, die seit mehr als 3 Monaten unter ein- oder beidseitigen Ohrgeräuschen litten und im Tinnitus-Fragebogen von Goebel und Hiller [11] einen Schweregrad der Tinnitusbelastung von 3 oder 4 (Punktwert >46) erreichten. Alle Patienten wurden einer ausführlichen HNO-ärztlichen Untersuchung und einer neurootologischen Diagnostik zugeführt.

Bei Vorliegen einer Schwerhörigkeit wurden nur die Patienten in die Studie aufgenommen, die allenfalls an einer geringgradigen Schwerhörigkeit litten, welche bisher keine Hörgeräteversorgung erforderlich gemacht hatte. In den Hörkurven der Patienten durfte die Schwerhörigkeit in den Frequenzen von 500–3000 Hz 20 dB und bei 4000 Hz 30 dB nicht überschreiten, in den Frequenzen 6000–8000 Hz durfte sie nicht über 40 dB liegen. Es erfolgte eine randomisierte Zuweisung der Patienten zu den Therapiebedingungen A und B (je n=20). Alle an der Studie teilnehmenden Patienten waren entsprechend den ethischen Standards der Deklaration von Helsinki 1964 aufgeklärt worden und hatten ihre Einwilligung erteilt.

Bedingungen A und B

Zu Beginn der 4-wöchigen, ambulanten Therapien erhielten die Patienten getrennt nach den Bedingungen A und B und aufgeteilt in Kleingruppen von bis zu 10 Personen einen 2-stündigen Einführungsvortrag mit Erklärungen über Anatomie und Physiologie des Hörens sowie über die heute vorhandenen Modelle zur Tinnitusentstehung. Wiederum nach den Bedingungen A und B getrennt, wurden alle Patienten in Kleingruppen von 5–8 Patienten mit der Technik der progressiven Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson vertraut gemacht. In Bedingung A geschah dies im Rahmen von 10 Therapiesitzungen zu jeweils 45 min, in Bedingung B wurden zu diesem Zweck 2 Sitzungen zu jeweils 60 min durchgeführt. Der 3., wesentliche Baustein der beiden Therapieformen bestand aus einem Training zur Aufmerksamkeitslenkung. Hierzu wurden in den Behandlungsbedingungen A und B 2 unterschiedliche Methoden angewendet:

Hörwahrnehmungstraining

Bei der Bedingung A handelte es sich um ein in der Römerwallklinik in Mainz in Anlehnung an die Tinnitus-Retraining-Therapie entwickeltes Hörwahrnehmungstraining. In Kleingruppen von bis zu 8 Personen wurden die Patienten zu bewusster Auseinandersetzung mit Geräuschen oder Musik angeleitet. In erster Linie wurde Wert auf differenziertes Hören gelegt. Normal hörende Patienten (n=7) wurden zusätzlich mit Rauschgeräten versorgt. Bei den übrigen Patienten der Bedingung A (n=9) wurden Hörgeräte angepasst. Die Patienten wurden angeleitet, das Rauschen des Rauschgerätes bzw. die durch das Hörgerät verstärkten Umgebungsgeräusche im Sinne der akustischen Aufmerksamkeitslenkung zu nutzen. Die Rausch- oder Hörgeräte wurden von den Patienten täglich mindestens 4 h kontinuierlich getragen. Es fanden insgesamt 8 Sitzungen unter Anleitung zu je 45 min statt.

Ablenkungs- und Entspannungstraining

Bei der Bedingung B handelte es sich um das oben genannte Ablenkungs- und Entspannungstraining (AET), welches am Forschungszentrum für Psychobiologie und Psychosomatik der Universität Trier entwickelt wurde. Beim AET werden modifizierte PMR-Übungen mit dem oben beschriebenen Imaginationsverfahren kombiniert. Die Durchführung der AET-Sitzungen war voll standardisiert: Die verbalen Instruktionen wurden als digitalisierte Sprachaufnahmen von einem Computer ausgegeben, welcher gleichzeitig mittels einer speziellen Software einen eigens für das Training konstruierten elektronischen Regler so steuerte, dass sich die Intensität der Licht- und Wärmereize kongruent zur Vorstellung einer sich ändernden Sonnenstrahlung veränderte. Es fanden insgesamt 8 solcher Sitzungen zu je 30 min statt. Die Patienten wurden angehalten, zwischen den Sitzungen die Imaginationsübung einmal täglich zu Hause durchzuführen, ihnen wurde zu diesem Zweck eine Audiokassette mitgegeben, welche die verbalen Instruktionen für die Übungsdurchführung enthielt.

Evaluierung des Therapieerfolgs

Zwecks Evaluierung des Therapieerfolgs wurden den Untersuchungsteilnehmern zu verschiedenen Zeitpunkten standardisierte Fragebögen vorgelegt. Vier Wochen und unmittelbar vor Beginn der Therapie sowie unmittelbar, 3, 6 und 12 Monate nach Therapieende bearbeiteten die Teilnehmer den Tinnitus-Fragebogen (TF) von Goebel und Hiller [11]. Der TF ist ein anerkanntes Instrument zur Abschätzung tinnitusbedingter Belastungen und ermöglicht es, die emotionale und kognitive Belastung des Patienten durch seine Ohrgeräusche reliabel und valide zu erfassen, ebenso die Penetranz des Tinnitus, tinnitusbedingte Schlafstörungen, Hörprobleme und körperliche Beschwerden wie z. B. Kopf- und Nackenschmerzen. Der im Fragebogen erreichte Punktwert erlaubt eine Einteilung der Tinnitusbelastung in 4 Schweregrade (s. oben).

Anlässlich der 12-Monats-Katamnese gaben die Patienten zusätzlich mit „ja“ oder „nein“ an, ob sie seit Abschluss der Behandlung erneut eine Therapie in Anspruch genommen hatten. Zu den ersten 5 der oben genannten Messzeitpunkte wurde den Untersuchungsteilnehmern auch der Tinnitus Disability Index (TDI) vorgelegt, welcher die Beeinträchtigung durch Tinnitus in verschiedenen Lebensbereichen (z. B. Beruf, Sexualleben) erfasst. Der TDI ist ein von Kröner-Herwig [25] aus dem Pain Disability Index [35] entwickeltes Instrument, welches im Ergebnis einen Wert zwischen 0 und 10 liefert, wobei 0 keine Beeinträchtigung und 10 maximale Beeinträchtigung bedeutet. Die Reliabilität des TDI ist als gut zu bezeichnen, es wird ein Koeffizient (Cronbach α) von 0,84 mitgeteilt [7].

Aspekte der Tinnitusbewältigung

Neben tinnitusbedingter Belastung und Beeinträchtigung wurden zu den ersten 5 Messzeitpunkten auch unterschiedliche Aspekte der Tinnitusbewältigung erfasst. Hierzu wurde ein Fragebogen verwendet, welcher bereits in anderen Studien zur Evaluation von psychologischen Tinnitusbewältigungstrainings verwendet wurde [7, 25, 32]. Laut Ergebnissen einer Faktorenanalyse von Etzkorn [5] lassen sich die Fragebogen-Items den Dimensionen „Handlungsplanungskompetenz“, „Selbstermutigung“ und „gegensteuernde Aktivitäten“ zuordnen, eine Itemanalyse zeigte hohe Reliabilitätskennwerte (Cronbach α>0,83) für die 3 genannten Skalen [5]. Die individuellen Skalenwerte können jeweils zwischen 1 und 6 rangieren.

Personen mit hohen Werten für Handlungsplanungskompetenz lassen sich in Situationen, in denen der Tinnitus sie besonders plagt, nicht aus dem Konzept bringen, sondern orientieren sich weiter an ihrem Handlungsplan. Personen mit stark ausgeprägter Selbstermutigung sind optimistisch, dass es ihnen auch in kritischen Situationen gelingen wird, mit dem Tinnitus fertig zu werden, sie führen selbstermutigende innere Monologe. Personen mit einem hohen Wert für „gegensteuernde Aktivitäten“ engagieren sich, wenn sie der Tinnitus besonders plagt, mit dem Ziel einer Tinnitusbewältigung in Aktivitäten (z. B. indem sie sich in die Arbeit stürzen). In der vorliegenden Studie wurde die von Etzkorn [5] praktizierte Form der Fragebogenauswertung übernommen, für jeden Untersuchungsteilnehmer wurden aus den Fragebogenantworten Werte für „Handlungsplanungskompetenz“, „Selbstermutigung“ und „gegensteuernde Aktivitäten“ berechnet.

Statistische Auswertung

Insgesamt 33 der 40 Patienten nahmen an der vorgesehenen Behandlung regelmäßig teil. Ein Patient der Bedingung A trat nach seiner Anmeldung die Therapie nicht an, und in beiden Bedingungen brachen jeweils 3 Patienten die Therapie im Verlauf ab oder erschienen nur unregelmäßig, sodass ihre Daten nicht in die Evaluation aufgenommen wurden. Somit umfasst Bedingung A n=16 und Bedingung B n=17 Patienten, die regelmäßig an der Therapie teilgenommen hatten. An der 12-Monats-Katamnese, bei welcher der TF erneut vorgelegt wurde, beteiligten sich insgesamt 23 der 33 regelmäßig behandelten Patienten (Rücklaufquote: 70%), davon 12 Patienten der Bedingung A. Für die ersten 5 Messzeitpunkte gab es ebenfalls vereinzelt „missing data“, allerdings liegen für jeden Messzeitpunkt mindestens 91% aller Werte vor.

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte am Institut für Medizinische Statistik und Dokumentation der Universitätsklinik Mainz sowie am Forschungszentrum für Psychobiologie der Universität Trier.

Ergebnisse

Therapiebedingte Veränderungen

In einer ersten Datenanalysesequenz wurde geprüft, ob in jeder einzelnen Behandlungsbedingung eine therapiebedingte Veränderung der Tinnitusbelastung, -beeinträchtigung und -bewältigung nachweisbar war, d. h. ob sich die aufgrund der jeweiligen 4-wöchigen Behandlung erwartete Veränderung von jener Veränderung unterschied, die potenziell auch im 4-wöchigen behandlungsfreien Zeitintervall vor Therapiebeginn, d. h. in der Kontrollbedingung, zu beobachten war. Zur Prüfung dieser Frage wurden—getrennt für jede der abhängigen Variablen und für jede Therapiebedingung separat—Varianzanalysen durchgeführt („repeated measures“), in welche die Daten der ersten 3 Messzeitpunkte eingingen.

Im Ergebnis zeigte sich—mit Ausnahme der Variable „gegensteuernde Aktivitäten“ bei Behandlungsbedingung B—immer ein statistisch bedeutsamer Zeiteffekt. Die signifikanten Effekte wurden mittels t-Tests genauer analysiert: Separat für jede Therapiebedingung wurden Vergleiche der beiden Werte vor Behandlungsbeginn sowie Vergleiche der beiden Werte unmittelbar vor Beginn und nach Ende der Therapie (Prä—Post) durchgeführt. Im Ergebnis zeigte sich bei keiner der Analysen eine signifikante Veränderung während der Wartephase, aber alle Analysen ergaben eine jeweils signifikante Veränderung im Verlauf der Behandlung.

Inhaltlich und zusammengefasst zeigen die Datenanalysen, dass in jeder Therapiebedingung eine bedeutsame Minderung der Belastung und Beeinträchtigung durch Tinnitus sowie eine Zunahme an Handlungsplanungskompetenz und Selbstermutigung ausschließlich in der Behandlungsphase, nicht aber im (hinsichtlich der Zeitdauer vergleichbaren) Intervall vor Therapiebeginn beobachtbar war. Bei Therapiebedingung A zeigte sich zudem auch für gegensteuernde Aktivitäten in der Behandlungsphase (im Unterschied zur Wartephase) ein signifikanter Zuwachs.

Mittelfristige Behandlungsergebnisse

In einer 2. Datenanalysesequenz wurde geprüft, wie die Behandlungsergebnisse mittelfristig ausfallen und ob die Therapiebedingungen unterschiedliche Effekte haben. In die Analysen gingen die zu den ersten 5 Messzeitpunkten erhobenen Daten ein, d. h. es wurden Therapieeffekte bis zu 6 Monaten nach Behandlungsende analysiert. Da für alle abhängigen Variablen in jeder Therapiebedingung die beiden vor Behandlungsbeginn erhobenen Messwerte vergleichbar waren (kein signifikanter Unterschied der Prä-Werte, s. oben), wurden diese Werte gemittelt und zu einem Gesamtwert zusammengefasst, welcher als reliabler Baseline-Index angesehen werden kann (im Falle von „missing data“ bei einem der Messzeitpunkte ging der vorliegende Wert als Baseline-Index in die Analysen ein).

Die varianzanalytische Auswertung (2×4 ANOVAs; „repeated measures“) mit den beiden Faktoren „Behandlungsbedingung“ und „Messzeitpunkt“ ergab bei jeder der abhängigen Variablen einen signifikanten Messzeitpunkteffekt, eine statistisch bedeutsame Interaktion der Faktoren war bei keiner der abhängigen Variablen nachweisbar. Letzteres bedeutet inhaltlich, dass die Entwicklung der tinnitusbedingten Belastung und Beeinträchtigung sowie der Tinnitusbewältigung in den Behandlungsbedingungen nicht unterschiedlich ausfiel. Diese Entwicklung ist in Abb. 1 und 2 dargestellt.

Abb. 1
figure 1

Entwicklung der tinnitusbedingten Belastung und Beeinträchtigung bei den Patienten der Therapiebedingungen A und B: Tinnitusfragebogen- (TF-) und Tinnitus-Disability-Index- (TDI-)Mittelwerte zu verschiedenen Messzeitpunkten

Der für jede Variable nachweisbare Messzeitpunkteffekt wurde mittels t-Tests genauer analysiert, indem der jeweilige Baselinewert mit jedem der 3 Werte nach Therapieende verglichen wurde. Es ergaben sich ausnahmslos signifikante Prä-Post-Unterschiede, d. h. die nach Abschluss der Behandlungen beobachtbare Minderung der tinnitusbedingten Belastung und Beeinträchtigung sowie die Zunahme an Selbstermutigung, Handlungsplanungskompetenz und gegensteuernden Aktivitäten zur Tinnitusbewältigung war bedeutsam. Die Varianzanalysen zeigten bei den Variablen „Tinnitusbelastung“ und „gegensteuernde Aktivitäten“ darüber hinaus auch einen signifikanten Haupteffekt des Faktors Therapiebedingung.

Wie aus Abb. 1 zu ersehen ist, war in Therapiebedingung B die Tinnitusbelastung der Patienten insgesamt höher und der Einsatz gegensteuernder Aktivitäten zur Tinnitusbewältigung insgesamt weniger ausgeprägt als in Bedingung A; über die Messzeitpunkte hinweg betrachtet lagen in Bedingung B die Messwerte für die genannten Variablen um etwa 30% über (TF) bzw. unter (gegensteuernde Aktivitäten) denen in Bedingung A (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Entwicklung der Tinnitusbewältigung bei den Patienten der Therapiebedingungen A und B: Mittelwerte für unterschiedliche Bewältigungsdimensionen zu verschiedenen Messzeitpunkten

Langzeitstabilität

In einer 3. Analysesequenz wurde die Langzeitstabilität der Therapieeffekte untersucht, darüber hinaus wurde geprüft, ob zwischen den Therapiebedingungen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit einer erneuten Inanspruchnahme von Therapie nachweisbar sind. Die TF-Daten wurden mittels Varianzanalysen (2×2 ANOVAs; „repeated measures“) mit den beiden Faktoren „Behandlungsbedingung“ und „Messzeitpunkt“ ausgewertet. Im Ergebnis zeigte sich ein signifikanter Messzeitpunkt-Effekt, eine statistisch bedeutsame Interaktion der Faktoren war nicht nachweisbar. Wie schon die zuletzt dargestellte Analyse der TF-Werte, so ergab auch diese Datenauswertung einen Haupteffekt des Faktors Therapiebedingung (s. Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Tinnitusbedingte Belastung vor Therapiebeginn (Baseline: BL) und ein Jahr nach Therapieende (Follow-up: FU) bei den Patienten der Therapiebedingungen A und B: Tinnitusfragebogen- (TF-)Mittelwert

Die Analyse der Antworten zur erneuten Inanspruchnahme von Therapie ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen den Therapiebedingungen (Fisher’s exakter Test). In Bedingung A hatte einer von 9 Patienten, in Bedingung B hatten 3 von 6 Patienten erneut eine Therapie in Anspruch genommen.

Diskussion

Pathogenese

Die Pathogenese des Tinnitus bleibt bis heute in vielen Fällen ungeklärt, es werden sowohl kochleäre Störungen als auch zentral-auditive Prozesse diskutiert [13, 14, 28, 31, 36, 40]. In der Tinnitusbehandlung kommt in den letzten Jahren vermehrt die in verschiedenen Studien als erfolgreich beschriebene Tinnitus-Retraining-Therapie nach Jastreboff und Hazell zur Anwendung [10, 15, 17, 18, 27, 38, 39]. Ein wichtiges Ziel der Tinnitus-Retraining-Therapie ist die Umlenkung der Höraufmerksamkeit bzw. Defokussierung des Tinnitus. Dies wird sowohl durch Ausnutzen von Umweltgeräuschen oder Musik als auch mithilfe von Rausch- oder Hörgeräten zu erreichen versucht: Die Aufmerksamkeit des Patienten wird auf andere akustische Reize als den Tinnitus gerichtet und gezielt vom Ohrgeräusch weggelenkt.

Prinzip der Aufmerksamkeitslenkung

Das Prinzip einer Aufmerksamkeits(um)lenkung kommt auch in einem anderen, ebenfalls als erfolgreich beschrieben Behandlungskonzept zum Tragen [6, 8, 9]. In diesem als Ablenkungs- und Entspannungstraining bezeichneten Ansatz werden Entspannungstechniken mit einem imaginativen Verfahren zur Aufmerksamkeitslenkung kombiniert. In der Imagination werden angenehme Sinnesempfindungen fokussiert, die gezielt durch Licht- und Wärmereize, welche als Distraktoren fungieren, induziert werden.

Effekte auf Tinnitusbelastung

In der vorliegenden Untersuchung wurde geprüft, welche kurz-, mittel- und langfristigen Effekte auf Tinnitusbelastung, -beeinträchtigung und -bewältigung die beiden genannten Methoden der Aufmerksamkeitslenkung haben. Die Effekte wurden zunächst unter Einbeziehung einer Kontrollbedingung (behandlungsfreies Zeitintervall) separat für jede Methode analysiert und in anschließenden Datenauswertungen direkt verglichen. Die für jede Behandlungsbedingung gesondert durchgeführten Analysen zeigten, dass jeweils eine bedeutsame Minderung der Belastung und Beeinträchtigung durch Tinnitus sowie eine Zunahme an Handlungsplanungskompetenz und Selbstermutigung ausschließlich in der Behandlungsphase, nicht aber im (hinsichtlich der Zeitdauer vergleichbaren) behandlungsfreien Intervall vor Therapiebeginn beobachtbar war.

Bei der Methode der Höraufmerksamkeitslenkung zeigte sich darüber hinaus in der Behandlungsphase (nicht aber in der Wartephase) auch ein signifikanter Zuwachs für gegensteuernde Aktivitäten als Tinnitusbewältigungsstrategie.

Therapiebedingungen im Vergleich

Die vergleichenden Datenanalysen ergaben keine differenziellen kurz-, mittel- oder langfristigen Behandlungseffekte, d. h. ein bedeutsamer Unterschied in den Effekten der beiden Therapiebedingungen war nicht nachweisbar. Die Analysen zeigten vielmehr, dass Aufmerksamkeitslenkung und Entspannung generell, d. h. unabhängig von den spezifischen Therapiebedingungen günstige Effekte hatte: Unmittelbar nach Abschluss der Behandlungen sowie 3 und 6 Monate später war eine signifikante Minderung der tinnitusbedingten Belastung und Beeinträchtigung sowie eine statistisch bedeutsame Zunahme an Selbstermutigung, Handlungsplanungskompetenz und gegensteuernden Aktivitäten zur Tinnitusbewältigung beobachtbar. Eine signifikant geminderte Tinnitusbelastung war selbst ein Jahr nach Abschluss der Behandlungen noch nachweisbar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Patienten aus beiden Therapiebedingungen vergleichbar häufig eine erneute Behandlung in Anspruch genommen.

Wenngleich in der vorliegenden Studie die Methode der Aufmerksamkeitslenkung via Imagination inferenzstatisisch betrachtet im Ergebnis nicht schlechter abschneidet als die Methode der Höraufmerksamkeitslenkung, so ist doch anzumerken, dass die Behandlungseffekte in der Bedingung „Aufmerksamkeitslenkung via Imagination“ rein numerisch betrachtet durchweg schwächer ausgeprägt sind als in der Bedingung „Höraufmerksamkeitslenkung“. Bei der Würdigung dieses Befundes ist allerdings zu berücksichtigen, dass hinsichtlich einiger Variablen, die den Behandlungserfolg potenziell moderieren, Unterschiede zwischen den Therapiebedingungen bestanden.

Zum einen wiesen die Patienten der Imaginationsbedingung im Vergleich zur Höraufmerksamkeitstrainingsbedingung eine insgesamt signifikant höhere Tinnitusbelastung auf und zeigten signifikant weniger gegensteuernde Aktivitäten zur Tinnitusbewältigung, d. h. eine weniger günstige Tinnitusbewältigung. Zum anderen erfuhren die via Imagination behandelten Patienten weniger Behandlung und therapeutische Zuwendung als die Patienten der Vergleichsbedingung: Der Zeitaufwand für das Entspannungs- und Aufmerksamkeitslenkungstraining war in der Imaginationsbedingung um 40% geringer als in der Höraufmerksamkeitslenkungsbedingung, die therapeutische Zuwendung war aufgrund der Anpassung von Rausch- bzw. Hörgeräteanpassung in der letztgenannten Bedingung etwas intensiver. Die Integration des Rausch- bzw. Hörgerätes in den Prozess des differenzierten Hörens erforderte für alle Patienten der Bedingung A eine intensivere Interaktion mit dem Therapeuten als dies für die Patienten der Bedingung B zum Erlernen des Entspannungs- und Aufmerksamkeitslenkungstraining nötig war.

Aus diesem Grund erschien es wesentlich, lediglich Patienten mit einer allenfalls geringgradigen Schwerhörigkeit, die auch ohne Hörgerät kompensiert war, in die Studie aufzunehmen. Nur so konnte sichergestellt werden, dass die Variable „Geräteanpassung“, gleichbedeutend mit einem Plus an therapeutischer Aufmerksamkeit, nur in der Bedingung A vertreten war und in Bedingung B kein Patient aufgrund einer evtl. nicht hörgeräteversorgten Schwerhörigkeit einen therapeutischen Nachteil erlitten hätte.

Interessant ist der mit n=9 recht hohe Anteil an Patienten der Bedingung A, die trotz primär nicht beeinträchtigender und deshalb nicht hörgeräteversorgter Schwerhörigkeit dennoch in dieser Studie ein Hörgerät angepasst bekommen haben. Es handelte sich um solche Fälle, die aufgrund der zwar gering ausgeprägten Schwerhörigkeit, die im Alltag nach Aussagen der Patienten zu keiner wesentlichen Beeinträchtigung geführt hatte, mit einem Rauschgerät aber eine doch deutliche Minderung der Hörleistung erlebten. Diese Patienten konnten für das in Bedingung A angebotene Höraufmerksamkeitstraining keine Rausch- sondern nur Hörgeräte nutzen. Auch hieraus ergab sich für die Patienten der Bedingung A ein, wie oben bereits erwähnt, höherer therapeutischer Zeitaufwand.

Therapeutische Zuwendung

Aus der Literatur [19, 29] ist bekannt, dass in der Tinnitustherapie dem sog. Counselling und dem Vermitteln von Entspannungstechniken eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukommt, da der Patient dadurch Ängste abzubauen lernt. Ein wesentlicher Aspekt scheint hierbei die therapeutische Zuwendung zu sein, die dem Patienten die Möglichkeit gibt, über seine Erkrankung und Sorgen mit dem Behandler zu sprechen. Insofern erscheint es plausibel, dass in der vorliegenden Studie die Ergebnisse in der Behandlungsbedingung mit höherer therapeutischer Zuwendung und ausgiebigerem Entspannungstraining numerisch gesehen günstiger ausfallen als in der Vergleichsbedingung. Dass die nicht unerheblichen Therapiebedingungsunterschiede im Behandlungsaufwand sowie der Tinnitusbelastung sich in den Therapieergebnissen nicht noch deutlicher positiv zugunsten der Höraufmerksamkeitslenkungsbedingung niederschlägt, ist möglicherweise als Hinweis darauf zu werten, dass die Bedeutung der genannten Variablen für den Behandlungserfolg überschätzt wird.

In beiden Therapiebedingungen waren die Komponenten Informationsvermittlung (Psychoedukation), Entspannung und Aufmerksamkeitslenkung enthalten. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass jedes Behandlungsprogramm für sich betrachtet günstige Effekte auf Tinnitusbelastung, -beeinträchtigung und -bewältigung hat und dass die Größenordnung der Effekte vergleichbar ist. Welche Bedeutung für den Therapieerfolg die einzelnen Behandlungskomponenten haben bzw. welche Komponenten für einen zufriedenstellenden Behandlungserfolg hinreichend und notwendig sind, kann nur durch weitere Forschungsarbeit geklärt werden. Die Untersuchungsstrategie sollte, damit der Stellenwert einzelner Komponenten ermittelt werden kann, ein systematisches Anreichern von Behandlungsprogrammen um einzelne, umschriebene Bausteine sein. Umgekehrt sind Dismantling-Prozeduren sinnvoll, bei denen einzelne Komponenten systematisch aus Behandlungsprogrammen eliminiert werden. Auf diese Weise lässt sich z. B. klären, inwieweit die hier im Rahmen der Imaginationsübung verwendeten Distraktoren (Licht- und Wärmereize) oder die im Rahmen der Höraufmerksamkeitslenkung verwendeten Hör- oder Rauschgeräte notwendige Behandlungselemente sind.

Zukünftige Forschungsarbeiten zu Effekten verschiedener Methoden der Tinnitusbehandlung sollten die Frage der differenziellen Behandlungsindikation stärker fokussieren. Angesichts der Erkenntnis, dass es unterschiedliche und vergleichbar effektive Behandlungsoptionen gibt, stellt sich die Frage, welche Patienten von welchem Behandlungsangebot am meisten profitieren. Ein potenziell wichtiges Patientenmerkmal ist hier die individuelle Fähigkeit eines Patienten, ohne größere therapeutische Unterstützung angebotene Hilfen schnell und eigenständig für sich weiter zu entwickeln.

Patientenmerkmale

Unterschiede hinsichtlich bestimmter Grundeinstellungen auf Patientenseite wirken sich bei unterschiedlichen Therapieverfahren vermutlich ebenfalls unterschiedlich aus. Dineen et al. [4] unterscheiden eher „technisch aktiv orientierte“ Patienten von eher „mental gesteuerten“ Patienten. Es könnte sein, dass ein eher technisch aktiv orientierter Patient mehr von einer apparativen Versorgung profitiert und ein mental gesteuerter Patient eher von der Möglichkeit, seine Aufmerksamkeit durch Imagination umzulenken. Hierzu muss in weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen eruiert werden, welche Therapiemethode für welchen Patientenkreis den größten Erfolg versprechen kann. Auch beim Einsatz von Entspannungsverfahren muss wahrscheinlich bestimmten Patientenmerkmalen wie z. B. Suggestibilität Rechnung getragen werden.

Es ist zu vermuten, dass bestimmte Patienten von spezifischen Verfahren eher viel und von anderen eher wenig profitieren. Solange dies ungeklärt ist, erscheint es sinnvoll, Patienten mehrere unterschiedliche Entspannungstechniken zur Auswahl anzubieten, vorausgesetzt, die Wirksamkeit dieser Verfahren ist im Sinne einer „evidence-based medicine“ nachgewiesen. Das Kriterium der Evidenzbasierung sollte in der Praxis bei der Wahl von Behandlungsoptionen grundsätzlich hohe Relevanz haben; es sollten bevorzugt Therapieverfahren zur Anwendung kommen, deren Wirksamkeit entsprechend anerkannten Kriterien nachgewiesen wurde.

Fazit für die Praxis

Auf der Grundlage einer soliden neurootologischen Diagnostik haben sich in der Therapie des chronischen Tinnitus Trainingsmethoden bewährt, die eine Umlenkung der Aufmerksamkeit fördern. Der Patient lernt dadurch, den Tinnitus in den Hintergrund seiner Wahrnehmung zu stellen. Für ein solches Training können, wie diese Arbeit zeigt, neben akustischen auch optische und thermische Sinnesreize eingesetzt werden.