Hintergrund und Fragestellung

Ursprünglich vor dem Hintergrund steigender Gesundheitskosten in den USA entwickelt [16, 19, 20], werden klinische Leitlinien für Diagnostik und Therapie und davon abgeleitete Patientenpfade zunehmend auch in Deutschland bekannt. Durch Bereitstellung systematisch zusammengetragener Informationen tragen sie zur Entscheidungsunterstützung von Arzt und Patient bei [2, 6]. Leitlinien sollen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung bei akzeptablen Kosten führen [18]. Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) publiziert Leitlinien, die innerhalb eines allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse entwickelt werden (http://www.awmf-online.de/) [7, 8]. Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie hat zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dem Gebiet der Allgemeinen Chirurgie 4 Leitlinien erarbeitet. Auf dem Gebiet der Viszeralchirurgie sind zusätzlich 12 Leitlinien publiziert.

Retrospektive Analysen haben gezeigt, dass Leitlinien die größte Akzeptanz finden, wenn sie unter Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten auf der Grundlage nationaler Leitlinienprogramme entwickelt wurden [10]. Europäische und amerikanische Vertreter haben in einer Expertenkonferenz optimale Methoden zur Implementierung von Leitlinien erarbeitet [5].

Im amerikanischen Sprachraum wurde 1995 vom Council of the Southwestern and Southeastern Surgical Congress ein Clinical Pathway Committee gegründet, das 11 Patientenpfade für häufige allgemeinchirurgische Behandlungen entwickelt hat [16]. Patientenpfade können als Ausführungspläne von Leitlinien beschrieben werden [2].

In modernen Kliniken tritt neben die optimale Patientenversorgung ein effizientes Kostenmanagement, dessen Grundlage eine präzise Kenntnis der Kosten pro Standardeinheit ist (Arztminute, Pflegeminute, Kosten von Material und Infrastruktur). Die Verknüpfung von Patientenpfaden mit tatsächlichen Kostendaten und -plänen ist bisher weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene verbreitet.

Das Modell Integrierter Patientenpfade (MIPP) wurde Anfang der 1990er Jahre im Zuge der Einführung des neuen Schweizer Krankenversicherungsgesetzes am Kantonsspital Aarau entwickelt und an 4 Schweizer Partnerkliniken erprobt [11]. Patientenpfade erfassen für definierte Behandlungen den Behandlungsablauf eines Patienten von der prästationären Behandlung über die Aufnahme in die Klinik bis zur Entlassung bzw. bis zur Beendigung der poststationären Behandlung. Die Pfaderstellung erfolgt durch Mitarbeiter aus allen Bereichen, die an der Patientenversorgung beteiligt sind [11]. Neben der Beachtung nationaler Leitlinien der medizinischen Versorgung sowie lokaler Gegebenheiten findet im MIPP-Konzept die Wirtschaftlichkeit Beachtung. Der wirtschaftliche Ansatz orientiert sich an Methoden der betriebswirtschaftlichen Kosten- und Erlösrechnung [15].

Das Modell Integrierter Patientenpfade wurde in der Klinik für Allgemeine Chirurgie des Universitätsklinikums Tübingen erstmalig an einer deutschen Universitätsklinik eingeführt und in seinem Spektrum erweitert. Die Ziele der Entwicklung und des Einsatzes von Patientenpfaden in der Allgemeinchirurgie waren die Optimierung und Ökonomisierung der Abläufe durch Vereinheitlichung von Behandlungsansätzen, eine größere Transparenz für Arzt- und Pflegedienst und eine betriebswirtschaftliche Leistungserfassung.

Projektdesign und Methoden

Das Tübinger Patientenpfadprojekt wurde als einjähriges Projekt mit Vertretern der Schweizer Abteilung MIPP und Tübinger Mitarbeitern aus dem ärztlichen Dienst, der Pflege, der zentralen Operationsabteilung, der Verwaltung, des Controlling und der EDV im ersten Quartal 2001 gestartet. Die Projektarbeit erfolgte in interdisziplinären Teams aus den Abteilungen für Allgemeine Chirurgie und Anästhesiologie und Intensivmedizin. Fallweise wurden weitere Bereiche (Zentrallabor, radiologische Diagnostik, Physiotherapie) beteiligt. Die Patientenpfadentwicklung und -einführung wurde von der Firma KPMG Consulting AG begleitet. KPMG bereitete die Kostensätze auf und koordinierte das Gesamtprojekt.

Pfadkonstruktion

Die Pfadkonstruktion gliederte sich in 4 Phasen (Abb. 1): Vorbereitungsphase, Hauptphase, Einführung und Erhaltung.

Abb. 1
figure 1

Phasen der Pfadkonstruktion

Vorbereitungsphase

Die Auswahl der zu erstellenden Patientenpfade erfolgte nach 3 Gesichtspunkten:

  1. 1.

    Operationen mit den höchsten Fallzahlen,

  2. 2.

    Behandlungen mit einem hohen Ressourcenverbrauch und

  3. 3.

    Krankheitsbilder, die von verschiedenen Fachabteilungen mit unterschiedlicher Diagnostik und Therapie behandelt werden.

In der Vorbereitungsphase bearbeitete jedes interdisziplinäre Team, das für einen Patientenpfad verantwortlich war, folgenden Fragenkatalog:

  • Wie wird der Patientenpfad definiert (z. B. elektiver Bruchlückenverschluss bei Hernie entsprechend der früheren Fallpauschale Hernie, FP 12.07)?

  • Wie kann der Patientenpfad in sinnvolle Teilpfade gegliedert werden (z. B. offene oder laparoskopische Operation)?

  • Wie soll die Erkrankung nach aktuellem Stand der Erkenntnisse behandelt werden?

  • Wie kann diese Behandlung nach aktuellem Stand der Erkenntnisse möglichst ressourcensparend durchgeführt werden?

  • Was kostet die Klinik die Behandlung?

Grundlage für diese Phase der Projektarbeit waren eine aktuelle Literaturrecherche in Medline und Embase sowie das Studium bereits publizierter internationaler und nationaler Leitlinien und Patientenpfade. Lokale Gegebenheiten und klinikeigene Standards wurden berücksichtigt.

Hauptphase—Pfadkonstruktion, Pfadüberprüfung

Ein Patientenpfad bildet den Prozess einer definierten Behandlung auf der Basis von Leitlinien und zugeordneten Kostendaten ab. Er wird aus Komponenten (logisch in sich abgeschlossener Teil eines Patientenpfades, z. B. Aufnahmeuntersuchung stationär durch Assistenzarzt/ärztin) und standardisierten Leistungseinheiten (z. B. Blutabnahme venös) nach dem Baukastenprinzip erstellt (Abb. 2). Ausgehend von einem allgemeinen Patientenpfad (Abb. 3) wird für einen virtuellen Patienten ein Pfadrohling erarbeitet. Der Pfadrohling zeigt, wie Patienten in die Klinik gelangen (Zuweisung über Hausarzt, direktes Aufsuchen der Poliklinik, Zuweisung aus der Medizinischen Klinik usw.), welche Teilpfade während des stationären Aufenthaltes eingeschlagen werden können und wie die poststationäre Behandlung gestaltet wird.

Abb. 2
figure 2

Aufbau der Patientenpfade

Abb. 3
figure 3

Allgemeiner Patientenpfad

Sobald dieser Pfadrohling vorliegt, kann die Strukturierung des Pfades in die Komponenten mit den jeweiligen Leistungseinheiten erfolgen. Die Komponenten sind die zentralen Gerüstelemente des Pfades. Sie fassen die Leistungen eines Dienstes (z. B. Arztdienst, Pflegedienst) zu Leistungsbündeln zusammen. Es werden die Standardleistungen aufgelistet, die der Patient in dieser Phase der Behandlung erhält. Die Leistungen sind mit Standardzeiten hinterlegt und existieren in drei zeitlichen Ausprägungen (kurz, mittel, lang). Für die spätere Kostenanalyse kann eine Gewichtung danach erfolgen, bei welchem Anteil der Patienten diese Leistungen erbracht werden.

Die Patientenpfade wurden durch Fallbegleitung mit präziser Zeitmessung und Kostenerfassung in Fallbegleitungsformularen bei einer prospektiv festgelegten Anzahl von Patienten validiert. Bei zentralen Parametern, z. B. Krankenhausverweildauer und Schnitt-Naht-Zeit, wurde überprüft, inwieweit die aus den neuen Patientenpfaden abgeleiteten Standards der derzeitigen Praxis entsprachen. Die zeitlich hinterlegten Komponenten (z. B. Dauer der Pflegedokumentation, Operationsdauer, Anästhesie-Aufwachraum) wurden mittels Stoppuhr überprüft. Abweichungen und Genauigkeitsmängel im Patientenpfad konnten so identifiziert und korrigiert werden.

Einführung—Pfadimplementierung

Nach der Fertigstellung der Pfade und der prospektiven Validierung wurden die Patientenpfade durch die Leitungen des Arzt- und Pflegedienstes zur Einführung freigegeben und in interdisziplinären Fortbildungen vorgestellt. Besonderes Augenmerk wurde auf die Pfadvisualisierung gelegt. Die Patientenpfade wurden anschließend in das Intranet der Klinik gestellt und in der Ambulanz, auf den Stationen und im zentralen Operationsbereich ausgelegt. Alle Mitarbeiter, insbesondere neu eintretende Kollegen, wurden auf die Verbindlichkeit der Patientenpfade hingewiesen.

Erhaltung—Pfadcontrolling, Pfadrevision

Zur Pfaderhaltung werden bereits in der Pfaderarbeitung die Eckwerte für Prozess- und Ergebnisqualität definiert. Eckwerte zur Prozessqualität sind für alle Pfade gleich, beispielsweise Operationsdauer (Schnitt-Naht-Zeit), Krankenhausverweildauer oder durchgeführte Labordiagnostik. Diese Eckwerte werden permanent erfasst und in einem monatlichen Soll-Ist-Vergleich überprüft. Die Eckwerte zur Ergebnisqualität werden pfadbezogen ermittelt, z. B. Nachblutung oder Infektion. Die Eckwerte erlauben ein valides Qualitätsmanagement, das durch die Pfade verbessert werden soll.

Die Patientenpfade werden in festgelegten Intervallen auf ihre Aktualität überprüft und im Bedarfsfall revidiert.

Kostensatzermittlung

Die Fallkosten für die Klinik werden in Form von Standard-Zeiten, Standard-Mengen und Standard-Verbrauchsmaterialien definiert und in den pfadbezogenen Komponenten zusammengefasst. Jede Komponente wird der Leistungs- bzw. Kostenstelle fest zugeordnet, die für die Erarbeitung und die Einhaltung der Standards die Verantwortung trägt. Die Bezugsgrößen für die Kostensätze des Arztdienstes, der Pflege, der zentralmedizinischen Dienste (Labor, Röntgen, Pathologie usw.), der therapeutischen Dienste (Physiotherapie, Ergotherapie usw.) und der Behandlungsdienste (Operationstrakt, Anästhesie, Aufwachraum usw.) sind Minuten oder GOÄ-Punkte. Beispielsweise wird bei der Kostensatzermittlung der Prozessmenge Arztminute die Normarbeitszeit je Funktion zugrunde gelegt. Diese setzt sich aus Leistungszeiten (direkt produktive Arbeitszeit), Strukturzeiten (indirekt produktive Arbeitszeit—Besprechungen, Fortbildung usw.) und Verteilzeiten (unproduktive Arbeitszeit—Pausen usw.) zusammen. Die relevante Bezugsgröße für die Kostensatzermittlung ist die Leistungszeit pro Jahr, d. h. die direkt produktive Arbeitszeit, welche eine Fachkraft in der betreffenden Kategorie durchschnittlich pro Jahr leistet. Analog dazu werden Jahres-Pflegeminuten als Prozessmenge für die Berechnung der Kosten pro Pflegeminute berechnet. Die zentrale Versorgung und die Verwaltung erbringen ebenfalls patientenbezogene Leistungen, die als Pauschalen ausgewiesen werden. Der medizinische Grundbedarf wird pauschal pro Tag oder Fall dem Pfad zugerechnet. Ausnahmen bilden teure Medikamente (Immunsuppressiva, Antibiotika, Blutersatzprodukte usw.) oder Materialien (z. B. Implantate), die im Pfad als Einzelkosten mitkalkuliert werden.

Ergebnisse

Allgemein

In der einjährigen Pilotphase wurden in der Universitätsklinik für Allgemeine Chirurgie Tübingen 7 Patientenpfade mit 16 Teilpfaden erarbeitet und eingeführt (Tabelle 1). Darunter wurden für 4 der 5 häufigsten chirurgischen Interventionen der Klinik (laparoskopische Cholezystektomie, offener Bruchlückenverschluss bei Hernie, Eingriffe am Dickdarm, Appendektomie und Schilddrüsenresektion) Patientenpfade erstellt. Der Pfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie wurde für die einseitige, offene Operation bei Leisten-, Femoral- und Nabelhernien erstellt. Ausgeschlossen waren Notfälle, Inkarzerationen, bilaterale und laparoskopische Operationen und Rezidivhernien. Im Laufe der Projektarbeit wurde zusätzlich zum Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—stationär ein Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—ambulantes Operationszentrum (AOZ) entwickelt. Mit dem Patientenpfad laparoskopische Fundoplikatio wurde eine Krankheitsentität ausgewählt, deren Behandlung eine neue chirurgische Operationstechnik verwendet. Die Pfade Behandlung der Sigmadivertikulitis und chirurgische Behandlung des Kolonkarzinoms bilden komplexe Behandlungsschemata ab. Der Patientenpfad Nierentransplantation mit 3 Teilpfaden wurde als Pfad mit hohem Ressourcenverbrauch entwickelt. Das Spektrum der erarbeiteten Pfade reicht von geradlinigen Pfaden bis zu komplexen Pfaden, die bis zu 5 Teilpfade umfassen können. Die Komponenten sind mit allen Leistungseinheiten hinterlegt, die zur Erfüllung dieser Komponente von den jeweiligen Disziplinen geleistet werden müssen. Tabelle 2 und 3 zeigen beispielhaft die Komponenten Aufnahme stationär durch Assistenzarzt/ärztin und Pflegeleistungen postoperativ mit der Kostenkalkulation.

Tabelle 1 Patientenpfade mit Anzahl der Teilpfade
Tabelle 2 Offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—stationär: Aufnahme stationär durch Assistenzarzt/ärztin und Kostenkalkulation
Tabelle 3 Pflegeleistungen postoperativ und Kostenkalkulation

Musterpfade offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ und chirurgische Behandlung des Kolonkarzinoms

Der Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ (Abb. 4, 5) zeigt die Struktur eines unverzweigten Pfades. Im Vergleich zum Pfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—stationär ist in diesem Pfad lediglich eine stationäre Übernachtung postoperativ vorgesehen. Die Kosten für einen Eingriff nach dem Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ sind um 45% niedriger als für einen vergleichbaren Eingriff nach dem Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—stationär.

Abb. 4
figure 4

Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ Übersicht. PD Pflegedienst, AD Arztdienst. Beim Klicken auf die rot umkreisten Schaltflächen öffnen sich Browser Fenster (s. Abb. 5)

Abb. 5
figure 5

Muster-Browser-Fenster im Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ. Die Browser-Fenster sind den rot umkreisten Schaltflächen aus Abb. 4 hinterlegt

Abbildung 6 zeigt den komplexeren Pfad chirurgische Behandlung des Kolonkarzinoms mit seinen Teilpfaden.

Abb. 6
figure 6

Patientenpfad chirurgische Behandlung des Kolonkarzinoms Übersicht. PD Pflegedienst, AD Arztdienst, Int. Intensivstation

Darstellung der Pfade im Intranet der Klinik

Alle Pfade, die erarbeitet wurden, sind im klinikeigenen Intranet visualisiert und können von allen Stationen, der Ambulanz, dem Operationstrakt und den Arztzimmern aus abgerufen werden. Als technische Voraussetzung ist ein vernetztes Gerät mit Betriebssystem Windows 2000/XP Professional oder Server erforderlich. Als Browser eignen sich Netscape 4.0 und Internet Explorer 4.0 oder höher. Die Startseite ist die erste Seite, die durch den Benutzer aufgerufen wird. Sie wird aufgeteilt in Navigation, Inhaltsbereich und Verfahrensanweisungen (Standard Operating Procedures). Im Navigationsbereich kann der Benutzer den gewünschten Pfad aufrufen. Im Inhaltsbereich werden graphische und Textinformationen angeboten. Bereiche im Patientenpfad werden mit sensitiven Flächen belegt (in Abb. 4 und 6 in blauer Schrift markiert). Durch Klicken auf diese Flächen (in Abb. 4 mit roter Umkreisung markiert) wird ein neues Browser-Fenster geöffnet. Abbildung 5 zeigt 3 geöffnete Browser-Fenster mit ihren Anweisungen für den ärztlichen Dienst, einem Musteroperationsbericht und Verfahrensanweisungen für die Pflege. Zusätzlich nutzen die entwickelten Pfade die Möglichkeit, Informationen aus dem klinikeigenen Intranet und aus dem Internet in den Pfad einzubinden (z. B. Link zu der AWMF-Startseite). Die Verfahrensanweisungen können nach Bereichen (Chirurgie, Anästhesie, Pflege, Physiotherapie usw.) aufgeteilt werden.

Diskussion

Mit der Anwendung des Modells Integrierter Patientenpfade in der Klinik für Allgemeine Chirurgie des Universitätsklinikums Tübingen wurde ein solches System erstmalig an einer deutschen Universitätsklinik angewendet. In der einjährigen Pilotphase wurden 7 Patientenpfade mit 16 Teilpfaden für ein ausgesuchtes Spektrum elektiver allgemeinchirurgischer Behandlungen erarbeitet und als Standard eingeführt. Mit dem Modell Integrierter Patientenpfade werden Leistungen und Ergebnisse einer definierten Behandlung transparent dargestellt und betriebswirtschaftlich kalkulierbar. Die Patientenpfade orientieren sich an nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien. Sie fördern die interdisziplinäre Zusammenarbeit, erlauben ein prospektives Kostenmanagement und schaffen Grundlagen für ein verbessertes Qualitätsmanagement innerhalb der Klinik.

Chassin und Galvin publizierten 1998 ein Konsensuspapier der National Roundtable on Health Care Quality des Institute of Medicine der National Academy of Sciences der USA. Sie definierten 3 Problemkreise der Qualität der medizinischen Versorgung in den USA [3]:

  • Gefahr der Überversorgung (zuviel Diagnostik, zu lange Aufenthaltsdauer),

  • Gefahr der Fehlversorgung (Fehler in der Medikation, falsche Therapie) und

  • Gefahr der Unterversorgung (nicht durchgeführte Kontrollen, nicht behandelter Bluthochdruck).

Überversorgung, Fehlversorgung und Unterversorgung werden durch zwei Phänomene hervorgerufen: durch die Unsicherheit der behandelnden Ärzte in Bezug auf die optimale Therapie und durch den ungesteuerten Einsatz neuer Technologien [9]. Patientenpfade fördern eine bedarfsgerechte Diagnostik und Behandlung und dienen als Basis für die Optimierung der Qualität der medizinischen Versorgung und der Behandlungsprozesse. Bisher publizierte Studien über den Einsatz von Patientenpfaden im klinischen Alltag haben gezeigt, dass der Einsatz eines Patientenpfads für die chirurgische Therapie der Inguinalhernie die Zahl der stationären Aufnahmen bei ambulanter Operation reduziert [17]. Die Implementierung von Patientenpfaden für Appendektomien [4] und Dickdarmresektionen [14] hat die stationäre Verweildauer und die Krankenhauskosten signifikant reduziert. Nach der Implementierung der im Pilotprojekt entwickelten Patientenpfade war die Krankenhausverweildauer für die ausgesuchten Behandlungen signifikant reduziert; beispielsweise sank die Krankenhausverweildauer der Patienten im Patientenpfad Schilddrüsenresektion um 1,5 Tage. Inwieweit die beobachtete Senkung der Krankenhausverweildauer ursächlich auf den neu eingeführten Patientenpfad zurückzuführen ist oder den Trend zur Verkürzung der stationären Verweildauer widerspiegelt [13], ist aus den vorliegenden Daten nicht zu beantworten. Im beschriebenen Pilotprojekt wurden erstmalig die tatsächlichen Kosten für die ausgewählten Behandlungen bestimmt. Die Analyse der Kostenentwicklung nach Einführung der Behandlungspfade ist Gegenstand eines weiteren Projektes.

Patientenpfade im amerikanischen Raum sind ursprünglich für die häufigsten Behandlungen im klinischen Alltag entwickelt worden [12]. Die Pfadauswahl in diesem Projekt erfolgte nach ähnlichen Gesichtspunkten. Für 4 der 5 häufigsten chirurgischen Interventionen der Klinik (laparoskopische Cholezystektomie, offener Bruchlückenverschluss bei Hernie, Eingriffe am Dickdarm, Appendektomie und Schilddrüsenresektion) wurden Patientenpfade erstellt. Mit dem Pfad Nierentransplantation wurde eine komplexe, ressourcenintensive Behandlung ausgewählt. Die Pfade laparoskopische Cholezystektomie, laparoskopische Fundoplikatio, Behandlung der Sigmadivertikulitis und chirurgische Behandlung des Kolonkarzinoms beschreiben Behandlungen, die gleichzeitig von verschiedenen Fachabteilungen durchgeführt werden. Nach Implementierung der neu entwickelten Patientenpfade wird etwa jeder 4. Patient, der in der allgemeinchirurgischen Abteilung operiert wird, innerhalb von Patientenpfaden behandelt. In einem zweiten Projektabschnitt sollen interdisziplinär geltende Patientenpfade für das gesamte Klinikum entwickelt werden, die unterschiedliches therapeutisches Vorgehen und unterschiedliche Diagnostik standardisieren und damit Therapieergebnis und Kosten gleichermaßen optimieren.

Der modulare, hierarchische Aufbau der Patientenpfade mit Leistungseinheiten, Komponenten und Teilpfaden ermöglicht gezielte Prozessoptimierungen:

Im Verlauf der Projektphase wurde in Tübingen unter der Leitung der Klinik für Allgemeine Chirurgie ein ambulantes Operationszentrum eröffnet. Neben dem Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—stationär wurde daraufhin ein Patientenpfad für den ambulanten Bereich offener Bruchlückenverschluss bei Hernie—AOZ entwickelt und etabliert. Die Patientenselektion für den ambulanten Bereich erfolgt gemäß den AWMF-Kriterien für ambulantes Operieren.

Zusätzlich wurde eine Station für Patienten mit voraussichtlich kurzer Krankenhausverweildauer eingerichtet. Hier werden Patienten nach den Pfaden offener Bruchlückenverschluss bei Hernie, laparoskopische Cholezystektomie, Schilddrüsenresektion und laparoskopische Fundoplikatio behandelt.

Die Arbeit an Patientenpfaden stärkt berufsübergreifende und interdisziplinäre Kommunikation. Der fertiggestellte Pfad spiegelt einen tragfähigen Konsens der interdisziplinären Teams wider. Der personelle und zeitliche Aufwand für die Pfadkonstruktion ist anfangs groß. Er reduziert sich jedoch mit dem Erreichen einer Routine. Die interdisziplinäre Projektarbeit an einem Patientenpfad erstreckte sich für die unverzweigten Pfade, wie zum Beispiel offener Bruchlückenverschluss bei Hernie oder Schilddrüsenresektion, über einen Zeitraum von etwa 3 Monaten. Die Projektarbeit an Behandlungspfaden erfolgte zusätzlich zu den üblichen Verpflichtungen in Krankenversorgung, Forschung und Lehre. In der Regel trafen sich die interdisziplinären Teams zu 4 Hauptsitzungen à 5 h, um das Konzept für den jeweiligen Pfad festzulegen. Zusätzlich führten die Projektleiter Einzelgespräche mit den Vertretern der einzelnen Berufsgruppen, die an der jeweiligen Pfadkonstruktion beteiligt waren (z. B. Patientenpfad offener Bruchlückenverschluss bei Hernie, 4 individuelle Sitzungen zu je 2 h mit 4 Gruppen: Ärzte - Chirurgie, Ärzte und Pflege - Anästhesie, Pflege - Chirurgie, OP-Personal). Außerhalb der Haupt- und Einzelsitzungen waren Vor- und Nachbereitungsarbeiten erforderlich. Die Kostenkalkulation der Pfadkomponenten durch die Betriebswirtschaft erfolgte einmalig und kann auf weitere Pfade übertragen werden.

Die im Intranet visualisierten Pfade dienen auch als Instrument der Ausbildungsdidaktik. Die einfache Handhabung erlaubt neuen Mitarbeitern, sich jederzeit über die aktuellen Behandlungs- und Pflegestandards zu informieren, sie finden Vorlagen für Operationsberichte und Arztbriefe. Standardisierte Patientenpfade ermöglichen selbständiges Handeln auf den Stationen auch in Abwesenheit des ärztlichen Dienstes und führen so zu einer höheren Effizienz. Neben einer internen Pfadkommunikation ist eine externe Kommunikation möglich. Die externe Pfadkommunikation mit den zuweisenden Hausärzten, mit angeschlossenen Krankenhäusern oder Rehabilitationseinrichtungen, mit Kostenträgern und Patienten kann eine vernetzte Behandlung ermöglichen und nähert sich dem Konzept von Disease-Management-Programmen. Zusätzlich zu der Verbreitung von Patientenpfaden innerhalb einer Universitätsklinik und angegliederten Lehrkrankenhäusern oder anderen Klinikverbänden ist eine weitere Verbreitung wünschenswert, beispielweise innerhalb von Berufsverbänden. Das MIPP-Konzept ist ein flexibles, abgestimmtes und praxiserprobtes Instrument. Von anderen Anbietern werden spezielle Software-Werkzeuge zum Erstellen von Patientenpfaden angeboten, im Internet können Pfade innerhalb von Tauschbörsen erworben werden.

Patientenpfade sollten an Parameter der Qualitätssicherung und der Patientenzufriedenheit gekoppelt werden [10]. Innerhalb des MIPP-Projektes wurden als allgemeine Parameter der Qualitätssicherung Laborwerte aus der Datenbank für Allgemeine Chirurgie, Schnitt-Naht-Zeiten, Verweildauern und ausgewählte Pflegeparameter verwendet. Eine Komplikationsstatistik kann durch die Erfassung von im Vorfeld festgelegten Parametern erstellt werden (beispielsweise postoperatives Hämatom oder lokale Infektion beim Bruchlückenverschluss; frühe und späte Abstoßung oder Infektionen bei der Nierentransplantation).

Mit der Erfassung der Patientenzufriedenheit soll die Leistungserbringung stärker auf den Patienten und seine Bedürfnisse hin ausgerichtet werden. Im gesamten Universitätsklinikum Tübingen wurde unabhängig von der Pfadkonstruktion in der Abteilung für Allgemeine Chirurgie eine Patientenbefragung durchgeführt, die stationsbezogen ausgewertet wird. Nach Auswertung der allgemeinen Befragung ist eine zusätzliche, spezifisch für Patientenpfade angelegte Befragung geplant.

Das Modell Integrierter Patientenpfade ist ein dynamisches Modell, das ausgehend von ständig aktualisierten Behandungsleitlinien proaktiv und prospektiv Therapiepläne in Relation zu ihren Kosten bringen kann und der Forderung nach volkswirtschaftlicher Betrachtung der Kosten von Gesundheitsleistungen nachkommt [1]. Die Patientenpfade erlauben der Klinik, eine auf medizinischer wie betriebswirtschaftlicher Basis abgesicherte Strategie für ihren Leistungskatalog zu entwickeln und gegenüber den Kostenträgern zu vertreten.

Fazit für die Praxis

Die neu erarbeiteten Patientenpfade integrieren die Planungen für die Krankenversorgung nach neuesten Erkenntnissen, die klinikinternen Prozesse und die Kosten in einem Instrument. Die Standardfallkosten ergeben sich direkt aus den Abklärungs- und Behandlungsprozessen, die wiederum auf definierbaren Qualitätsstandards (Leitlinien, Minimalstandards) basieren. Patientenpfade ermöglichen es daher der Klinik erstmalig, eine eigene umfassende Strategie und Positionierung zu entwickeln und das Leistungsangebot unter allen Aspekten der Krankenversorgung mit Versicherten und Kostenträgern zu diskutieren. Zusätzlich erlaubt das neue Instrument, die Klinikstrukturen auf die Strategie und Positionierung hin zu optimieren. Mit dem Einsatz der Patientenpfade wird eine Win-win-win-Situation für Patienten, Kliniken und Versicherer angestrebt.