Einleitung

Im Jahr 2015 hatten 17,1 Mio. Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund [1]. Dies entspricht rund 21,0 % der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus zeigen deutliche Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit (oDS) sind im Durchschnitt sozioökonomisch schlechter gestellt, leben in Haushalten mit mehr Personen (2,3 vs. 1,9 Personen), weisen öfter keinen allgemeinen (13,3 % vs. 1,7 %) bzw. keinen qualifizierenden Schulabschluss auf (38,3 % vs. 14,1 %), sind jünger (36,0 vs. 47,7 Jahre), häufiger ledig (46,5 % vs. 39,0 %) und eher männlichen Geschlechts (50,6 % vs. 48,7 %) als die Vergleichsgruppe mit deutscher Staatsangehörigkeit (mDS). Zudem weisen Menschen oDS eine höhere Armutsgefährdungsquote auf (27,7 % vs. 12,5 %; [1]). Eine Längsschnittstudie auf der Datenlage des sozioökonomischen Panels und des Mikrozensus kommt außerdem zu der Schlussfolgerung, dass die höhere Armutsgefährdung von Personen mit Migrationshintergrund sich im Grundsatz weder auf bestimmte soziodemografische noch soziostrukturelle Gruppen der Bevölkerung beschränkt, sondern weitgehend einheitlich über Alters, Bildungs- und Berufsgruppen, über Haushaltstypen, Regionen und eine Reihe weiterer armutsrelevanter Merkmale nachgewiesen werden kann [2]. Gut belegt ist darüber hinaus, dass Menschen mit Migrationshintergrund viele Sozialversicherungsleistungen deutlich seltener in Anspruch nehmen. Hierzu gehören insbesondere Präventionsangebote und Sach- und Geldleistungen der Pflegeversicherung [3].

Die Datenlage zur gesundheitlichen und pflegerischen Situation von Personen oDS lässt keine systematischen Aussagen zu [4]. Auch zu wichtigen Themen, wie z. B. der Prävalenz chronischer Erkrankungen, der Qualität der gesundheitlichen Versorgung oder zu gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen, liegen laut Robert Koch-Institut nur wenig belastbare Informationen vor [5]. Entsprechend zeichnen die vorliegenden Studien ein heterogenes Bild. Manche Bevölkerungsgruppen oDS weisen trotz durchschnittlich niedrigeren sozioökonomischen Status für bestimmte Risikofaktoren bzw. Erkrankungen ein günstigeres Morbiditäts- und Mortalitätsprofil auf als die deutsche Bevölkerung. Türkische Migranten beispielsweise haben eine geringere Mortalität aufgrund von Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen während andere Risikofaktoren und Erkrankungen häufiger zu finden sind als in der deutschen Bevölkerung [5,6,7]. Die schwache Datenlage betrifft auch das Thema Demenz. So gibt es bezüglich der Prävalenz von Demenz für die Bevölkerungsgruppe oDS lediglich Schätzungen bzw. Extrapolationen der Prävalenzdaten der Gesamtbevölkerung. Schätzungen altersspezifischer Prävalenzraten auf der Basis von Routinedaten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) reichen im Jahr 2015 von 1,5 % (1,2 %) bei 65-jährigen Männern (Frauen) bis zu 33 % (47 %) bei über 85-jährigen Männern (Frauen) in der Allgemeinbevölkerung [8]. Auch bei der Prävalenz von Adipositas, Diabetes mellitus, Rauchen, körperlicher Inaktivität und depressiver Symptomatik gibt es nur einige wenige belastbare Daten, die für bestimmte Subgruppen von oDS auf ein häufigeres Auftreten dieser Risikofaktoren für eine Demenz hinweisen [7,8,9,10,11]. Darüber hinaus weisen einige qualitative Studien darauf hin, dass sich die beiden Bevölkerungsgruppen auch hinsichtlich der Versorgungsarrangements für Menschen mit Demenz unterscheiden. In der Bevölkerungsgruppe ohne deutsche Staatsangehörigkeit (oDS) werden Angehörige mit Demenz häufiger in der Familie ohne die Inanspruchnahme formeller Hilfen und Angebote gepflegt. Eine Einweisung in ein Pflegeheim erfolgt in dieser Bevölkerungsgruppe seltener [3, 12].

Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Häufigkeit der Diagnose Demenz sowie die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen in der Bevölkerungsgruppe der Personen oDS anhand von Routinedaten der GKV zu quantifizieren und mit der Bevölkerungsgruppe mit DS zu vergleichen.

Methoden

Studiendesign

In einer retrospektiven Querschnittsstudie wurde die administrative Prävalenz der Diagnose Demenz bei Versicherten mDS und oDS anhand von Routinedaten von 2,75 Mio. Versicherten einer großen regionalen Krankenkasse (AOK Rheinland/Hamburg) in Westdeutschland analysiert.

Studienpopulation

Eingeschlossen wurden alle Versicherten, die vom 01.01.2013 bis zum 31.12.2013 durchgängig bei der Krankenkasse versichert waren oder im Jahr 2013 verstorben sind. Als Versicherte oDS wurden alle diejenigen Versicherten definiert, für die zum Zeitpunkt der Datenerhebung keine deutsche Staatsangehörigkeit codiert war.

Daten

Für die Auswertung standen die Routinedaten von 2,63 Mio. Versicherten für das Jahr 2013 zur Verfügung. Diagnosen waren gemäß ICD-10-Codes verschlüsselt. Die Daten der Pflegeversicherung codierten Pflegestufe 1 bis 3 nach dem bis Ende 2016 verwendeten Klassifikationssystem einschließlich der umgangssprachlichen Pflegestufe 0 für alle Versicherten mit einer dauerhaft erheblich eingeschränkten Alltagskompetenz und erhöhtem Betreuungsbedarf nach § 45 a SGB XI. Pflege wurde in ambulante und stationäre Leistungen eingeteilt. Alle Daten wurden von der Krankenkasse pseudonymisiert zur Auswertung weitergeleitet.

Identifikation der Versicherten oDS und Demenz und Berechnung der administrativen Prävalenz

Versicherte mit Demenz wurden mittels ICD-10-Code (F00 Demenz bei Alzheimer-Krankheit, F01 vaskuläre Demenz, F02 Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten, F03 nicht näher bezeichnete Demenz, F05 Delirium bei Demenz und G30 Alzheimer-Krankheit) für Krankenhaus- und ambulante Diagnosen identifiziert.

Eingeschlossen wurden alle Versicherten mit mindestens einer gesicherten Demenzdiagnose im Untersuchungszeitraum. Diagnosen mit dem Zusatz „Verdacht auf“ wurden nicht berücksichtigt. Die Validität der Diagnosen konnte nicht überprüft werden. Es handelt sich um die Häufigkeiten der Codierung der Diagnose Demenz aus administrativen Daten (administrative Periodenprävalenz für das Jahr 2013).

Die Versicherten wurden nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit stratifiziert. Es wurde auf die gesamte Population der untersuchten Krankenversicherung standardisiert. Prävalenzraten wurden anhand der Versicherten mit Demenz im Verhältnis zu allen Versicherten innerhalb einer Kategorie für Männer und Frauen getrennt berechnet. Für die statistische Analyse wurde die Software R 2.11.1 verwendet [13]. Für die Studie liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Universitätsklinik zu Köln vor. Tests auf unterschiedliche Anteile wurden mittels Binomialtest und Unterschiede der Verteilungen mittels χ2-Test durchgeführt.

Ergebnisse

Insgesamt konnten die Daten von 2.630.315 Versicherten ausgewertet werden. Davon hatten 81,5 % (2.143.451) die deutsche und 18,5 % (486.864) eine ausländische Staatsangehörigkeit. Die weiteren Charakteristika der Studienpopulation sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Geschlechtsverteilung nach Staatsangehörigkeit der gesamten Studienpopulation

Die Gesamtprävalenz der Diagnose Demenz betrug 2,7 % aller analysierten Versicherten. Sie variierte mit Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit und stieg mit zunehmendem Alter an (Tab. 2).

Tab. 2 Administrative Demenzprävalenz (in Klammern alters- und geschlechtsstandardisierte Werte) und mittleres Alter (in Jahren) ± Standardabweichung für die Demenzpopulation

Das Durchschnittsalter aller Versicherten mit einer Demenzdiagnose lag bei 80,03 Jahre. 93,38 % der Versicherten mit Demenz besitzen eine deutsche und 6,62 % eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit.

Unter Versicherten ohne deutsche Staatsbürgerschaft zeigte sich eine signifikant geringere administrative Prävalenz von Demenz als unter Versicherten mit (0,95 % vs. 3,06 %, p = 0,000). Nach Alters- und Geschlechtsstandardisierung auf die Versichertenpopulation betrug der Unterschied der Prävalenzen noch 0,13 %-Punkte (2,55 % vs. 2,68 %).

Versicherte mit deutscher Staatsangehörigkeit hatten in den meisten Altersklassen – mit Ausnahme der Altersklassen zwischen 61 Jahren und 74 Jahren – eine signifikant höhere Prävalenz als Versicherte mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Wie Abb. 1 zeigt, ist ein deutlicher Unterschied in der Prävalenz nur bei den hochaltrigen Versicherten ab 80 Jahren, insbesondere bei den Männern, feststellbar. Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit hatten eine höhere Demenzprävalenz als Männer. Der Geschlechtsunterschied in der Prävalenz der Demenz war in der Bevölkerungsgruppe mDS weniger ausgeprägt (Tab. 3 und Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Grafische Darstellung der Verteilungen der administrativen Prävalenz von Demenz in den Altersgruppen nach Geschlecht und Migrationshintergrund

Tab. 3 Administrative Demenzprävalenz für alle ICD-10-Diagnosen nach Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit

Bezüglich der Leistungsinanspruchnahme in der Pflegeversicherung hatten 30 % aller deutschen Demenzkranken keine Pflegestufe vs. 51 % bei nichtdeutschen Demenzkranken, nach Alters- und Geschlechtsstandardisierung 31 % vs. 36 %. Eine Pflegestufe 2 hatten 26 % (stand. 26 %) aller Demenzkranken mit deutscher Staatsangehörigkeit vs. 17 % (stand. 24 %) aller Demenzkranken mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit (Tab. 4).

Tab. 4 Pflegestufen und Pflegeart von Versicherten mit Demenz für Deutsche und Nichtdeutsche, in Klammern alters- und geschlechtsstandardisierte Werte

Deutliche Unterschiede fanden sich in der Pflegeart. Demenzkranke mit deutscher Staatsangehörigkeit waren erheblich häufiger institutionalisiert als Demenzpatienten ohne deutsche Staatsbürgerschaft (stand. 55 % vs. 40 %).

Diskussion

Die vorliegende Studie analysiert die Häufigkeit der Diagnose Demenz in der Subgruppe der Bevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit anhand von Routinedaten der GKV. Nach bestem Wissen der Autoren ist dies die erste derartige Studie in Deutschland. Bisher liegen für diese Bevölkerungsgruppe lediglich Prävalenzschätzungen auf dem Boden von Extrapolationen vor. Die Betrachtung dieser Bevölkerungsgruppe gewinnt an Bedeutung, da inzwischen mehr als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund aufweist (ca. 2/3 erste Generation und 1/3 zweite und dritte Generation; [9]). Laut statistischem Bundesamt kommen die derzeit größten ethnischen Gruppen an älteren Migranten (> 60 Jahre) aus der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien, Italien, Spanien, Griechenland und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Die größte ethnische Gruppe wird von der Gruppe mit türkischem Migrationshintergrund gebildet [1].

Lange wurde davon ausgegangen, dass ein großer Teil der ehemaligen „Gastarbeiter“ nach Erreichen des Rentenalters wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würde. Tatsächlich werden die Rückkehrabsichten aber nur von einem sehr kleinen Anteil realisiert. Zwischen den Jahren 2002 und 2010 waren etwa 4 % aller Rückwanderer älter als 70 Jahre [14].

Definition von Menschen mit Migrationshintergrund

In der vorliegenden Studie kann das Merkmal „Migrationshintergrund“ aufgrund der zur Verfügung stehenden Daten nur über das Merkmal „Staatsangehörigkeit“ differenziert werden. Dies ist gängige Praxis in vielen amtlichen Statistiken und Routinedaten, bildet jedoch nur einen selektiven Teil der Migrationsbevölkerung ab. In aktuellen Gesundheitssurveys werden laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes „neuere Definitionen eingesetzt, die Personen mit eigener Migrationserfahrung von in Deutschland geborenen Personen mit Migrationshintergrund unterscheiden“ [6]. Dies war in unserer Studie aufgrund der Auswertung von Routinedaten nicht möglich. Hier wird die Staatsbürgerschaft nur bei Aufnahme in die Kasse codiert und ein späterer Wechsel der Staatsbürgerschaft nicht mehr berücksichtigt. Daher kann davon ausgegangen werden, dass ein Teil der Versicherten, die als Nichtdeutsche geführt werden, tatsächlich (inzwischen) die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Ein Vergleich der Zahlen des Mikrozensus aus dem Erhebungsjahr der hier verwendeten Routinedaten stärkt diese Vermutung. Er beziffert den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2013 mit 19,7 % und den Anteil der Ausländer mit 8,5 % [15]. Der Anteil der Personen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit liegt in den hier ausgewerteten Routinedaten bei 18,5 %.

Diskussion der Ergebnisse

Die Gesamtprävalenz der Demenz in unserem Kollektiv beträgt 2,7 %. Analog zu früheren Studien variiert sie mit Alter und Geschlecht und steigt mit zunehmendem Alter an. Bei den über 90-Jährigen erreicht sie rund 41 % [8]. Die Frage, ob die Demenzprävalenz ab einem Alter von 60 oder 65 Jahren exponentiell ansteigt oder ab ca. 95 Jahren ein Abflachen der Kurve einsetzt, ist in der Literatur noch nicht schlüssig beantwortet [16, 17]. Aus unseren Daten lässt sich aufgrund der geringen Besetzung der Zellen keine valide Aussage zu dieser Altersgruppe treffen.

Bei der Gesamtprävalenz gehen wir trotz Übereinstimmung mit der Literatur von einer Unterschätzung aus, da ein nicht unerheblicher Teil von Patienten mit Demenz nicht diagnostiziert wird. Laut einer kürzlich im British Medical Journal veröffentlichten systematischen Literaturanalyse muss in Europa von einer Rate nichtdiagnostizierter Demenzen von durchschnittlich 58,2 % ausgegangen werden [18]. In der deutschen AgeCoDe-Studie werden im hausärztlichen Bereich nur 51 % der frühen Demenzen erkannt [19].

Beim Vergleich der Prävalenzraten für die beiden betrachteten Bevölkerungsgruppen finden wir in unserer Analyse eine signifikant niedrigere Gesamtprävalenzrate für die Gruppe der Versicherten oDS für beide Geschlechter (Männer 2,1 % vs. 0,9 % und Frauen 3,9 % vs. 0,96 %). Die Gruppe der Versicherten oDS in der Gesamtpopulation ist im Mittel 5,5 Jahre jünger. Nach Alters- und Geschlechtsstandardisierung verbleibt nur noch ein geringer Unterschied in der Gesamtprävalenz (Tab. 2). Die nach Alter und Geschlecht stratifizierte Auswertung zeigt Prävalenzunterschiede bei den Hochaltrigen, vor allen den Männern. Eine mögliche Erklärung für Unterschiede in der Prävalenz ist der sogenannte Healthy Migrant Effect. Er besagt, dass die Gruppe der Zuwanderer der ersten Generation eine selektierte Gruppe ist, die sich aus jüngeren und gesünderen Personen zusammensetzt als die durchschnittliche Population des Heimatlandes bzw. des aufnehmenden Landes. Sie ist nicht repräsentativ für ihr Heimatland und kann eine niedrigere Morbidität als die Bevölkerung des Gastlandes aufweisen [20, 21]. Weitere Ursachen sind kulturelle und systemimmanente Faktoren, Unterschiede in der Verteilung von Risikofaktoren für die Entwicklung einer Demenz und Sprachdefizite. In Deutschland weisen 20 % der Migranten ungenügende Sprachkenntnisse auf. Dies führt dazu, dass Informationsmaterialien nicht verstanden werden, Beschwerden nicht verständlich mitgeteilt werden können und einem Arzt-Patienten-Gespräch nur unzureichend gefolgt werden kann [22]. Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass bei Menschen oDS vergleichsweise seltener medizinische Leistungen auch aus Furcht vor Stigmatisierung in Anspruch genommen [23, 24]. Eine andere Untersuchung bei Familien mit türkischem Migrationshintergrund kommt zu dem Ergebnis, dass bei dieser Zielgruppe Wissensdefizite, kulturelle und religiös bedingte magische Krankheitserklärungen und codierte Ausdrucksweisen die Leistungsinanspruchnahme verhindern [25]. In einem europäischen Survey erhält rund ein Drittel der befragten Demenzzentren keine Überweisungen von Patienten ethnischer Minderheiten. Letztere sind auch beim Zugang zu fachärztlicher Versorgung unterrepräsentiert [26, 27]. Als Gründe werden kulturelle Unterschiede, wie z. B. Schamgefühle, mangelndes Vertrauen in das fremde Gesundheitssystem und ungenügendes Wissen in Bezug auf die verfügbaren formalen Hilfen genannt [28,29,30,31]. Zudem erhalten Patienten mit Migrationshintergrund häufig keine vollständige Diagnostik. In einer dänischen Studie wurde nur bei 23 % aller Patienten mit Migrationshintergrund die vollständige evidenzbasierte Diagnostik durchgeführt [23]. Wichtige Ursachen sind neben sprachlichen Barrieren die mangelnde Verfügbarkeit validierter Diagnoseinstrumente in der jeweiligen Muttersprache [32].

Auch eine unterschiedliche Verteilung der Risikofaktoren kann zu Unterschieden in der Prävalenz führen. Migranten haben häufig einen niedrigeren Bildungs- und sozioökonomischen Status sowie eine höhere Prävalenz depressiver Symptome [33]. Frauen der ersten Generation türkischstämmiger Einwanderer sind z. B. weniger sportlich aktiv als vergleichbare deutsche Frauen und haben eine höhere Prävalenz an Diabetes mellitus Typ 2 [7, 34]. Daher wäre tendenziell eine höhere Prävalenz der Demenz in dieser Bevölkerungsgruppe zu erwarten [9, 28, 35]. Demgegenüber stehen protektive Faktoren, wie z. B. eine niedrigere Prävalenz an riskantem Alkoholkonsum sowie bei Frauen der ersten Generation eine niedrigere Raucherquote [7]. In Bezug auf das niedrige Bildungsniveau muss an dieser Stelle erläutert werden, dass dies nicht bedeuten muss, dass diese Menschen tatsächlich häufiger an einer Demenz erkrankt sein müssen. Genauso denkbar ist, dass Demenzerkrankte mit hohem Bildungsniveau Defizite besser kompensieren können und ihre Erkrankung deshalb bei nichtsensitiven Tests nicht erkannt wird.

Ein weiterer Grund für die geringere Prävalenz der Demenz bei Menschen oDS könnte auch durch Unterschiede beim Versorgungsarrangement dieser Zielgruppe begründet sein. Hier haben die Ergebnisse der vorliegenden Studie noch einmal bestätigt, dass Menschen oDS seltener Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen und häufiger ein ambulantes Versorgungssetting wählen. Dies bedeutet, dass Menschen oDS durchschnittlich seltener Kontakt mit professionellen Pflegefachkräften und anderen hauptamtlichen Unterstützern haben und es entsprechend weniger Gelegenheiten gibt, dass diese eine Demenz erkennen und auf eine Diagnosestellung hinwirken können.

Die Diskussion der Ergebnisse verdeutlicht, dass zu den Einflussfaktoren auf die Prävalenz der Demenz bei Menschen oDS noch ein großer Forschungsbedarf besteht. Versicherte oDS erhalten etwas seltener Leistungen der Pflegeversicherung und werden deutlich häufiger ambulant gepflegt. Weitere Untersuchungen sollten sich mit der Situation der pflegenden Personen befassen, die die dementen Patienten betreuen, um z. B. herauszufinden, ob sie mehr (professionelle) Unterstützung bräuchten.

Die Bewertung unserer Prävalenzraten wird durch die mangelnde Verfügbarkeit vergleichbarer Studien sowie durch die bei der Auswertung von Routinedaten bedingten Limitationen (s. unten) eingeschränkt. Studien, die zur Diagnosestellung von Demenz konzipiert sind, nutzen validierte Instrumente, wie z. B. die Mini-Mental State Examination (MMSE). Andere Studien basieren auf den codierten Diagnosen nach ICD-10 oder DSM-III-R ohne Validierung der Diagnosen. Zwischen den beiden zuletzt genannten Codiersystemen bestehen zudem relevante Unterschiede, die zu abweichenden Ergebnissen in der Prävalenz führen können [36]. Weitere Gründe sind der fehlende Konsens einer Definition, wie Personen oDS identifiziert werden können, einschließlich der Frage, ob nur die erste Generation oder auch die zweite und dritte Generation von Personen mit Migrationshintergrund in die Analyse einbezogen werden soll. Hinzu kommen im Versorgungsgeschehen sprachliche Barrieren, der Mangel an validierten länderübergreifenden Diagnoseinstrumenten und kulturelle Faktoren wie die Stigmatisierung der Erkrankung in bestimmten Kulturkreisen.

Auf eine Extrapolation der Ergebnisse wird verzichtet, da sich die Versichertenstruktur der AOK teils erheblich von der Bevölkerungsstruktur in der Bundesrepublik unterscheidet. Für Extrapolationen sollte auf kassenübergreifende Daten zurückgegriffen werden [37].

Limitationen

Bei der Interpretation der Daten sind Limitationen zu beachten. Die Analyse spiegelt die Häufigkeit der Codierung der Diagnose Demenz in der Bevölkerungsgruppe ohne deutsche Staatsangehörigkeit wider. Dadurch erfassen wir Versicherte oDS, die schon die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber noch unter ihrer ursprünglichen nichtdeutschen Staatsbürgerschaft geführt werden. Andererseits wird bei einem Wechsel der Krankenkasse bei Versicherten mit ursprünglichem Migrationshintergrund und der deutschen Staatsangehörigkeit nur die deutsche Staatsangehörigkeit codiert. Die Information über den Migrationsstatus geht verloren. Wir schätzen den Verlust aufgrund des Kassenwechsels als vertretbar gering ein, da pro Jahr nur ca. 2 % bis 3 % aller Versicherten die Kasse wechseln und die Wechselbereitschaft mit zunehmendem Alter und Morbidität weiter sinkt [38, 39]. Die Vergleichsdaten des Mikrozensus deuten darauf hin, dass in dieser Studie ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund eingeschlossen werden konnte.

Auch die Frage nach der Validität der Diagnosen schränkt die Aussagekraft der Studie ein [8]. Versicherte in dieser Studie wurden aufgrund von Diagnosen nach ICD-10 identifiziert. Studien, in denen nach ICD-10 codiert wird, identifizieren eine niedrigere Prävalenzrate als Studien, in denen nach DSM-IV-R verschlüsselt wird [36]. Zudem bleibt daher unklar, mittels welcher diagnostischen Instrumente die Diagnose bei den einzelnen Versicherten gestellt wurde.

Eine Stärke dieser Studie ist die Vollerhebung aller Versicherten einer großen regionalen Krankenkasse. Dadurch werden Selektions- bzw. Recall-Bias vermieden. Aufgrund des retrospektiven Studiendesigns gibt es keine Drop-outs.

Zusammenfassend zeigt die erste vergleichende Analyse bei Versicherten mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft Unterschiede in der Prävalenz der Demenz insbesondere bei den hochaltrigen Männern sowie in der Leistungsinanspruchnahme in Pflegeversicherung. Internationale Studien sehen u. a. Sprachbarrieren, soziokulturelle Unterschiede, strukturelle Barrieren in der Diagnostik und klinischen Versorgung als Ursachen für eine geringere Leistungsinanspruchnahme formaler Hilfen, eine verzögerte Diagnosestellung in der Bevölkerungsgruppe oDS. Sie empfehlen die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems entsprechend anzupassen [40].

Kernaussagen

Rund 1/5 der deutschen Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Die Subgruppe der älteren Menschen mit Migrationshintergrund ist eine rasch wachsende Gruppe.

Die erste vergleichende Analyse zur administrativen Prävalenz der Demenz von Versicherten mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft ergab eine etwas höhere Prävalenz bei den hochaltrigen Versicherten ohne DS, insbesondere den Männern.

Versicherte mit deutscher Staatsbürgerschaft mit einer Demenzdiagnose nahmen Leistungen der Pflegeversicherung etwas häufiger in Anspruch als Versicherte ohne deutsche Staatsbürgerschaft.

Deutlich häufiger wurden Versicherte mit deutscher Staatsbürgerschaft und einer Demenzdiagnose im stationären Sektor gepflegt als Versicherte ohne deutsche Staatsbürgerschaft.

Die Gründe sind unklar. Mögliche Ursachen sind Sprachbarrieren, soziokulturelle Unterschiede sowie Zugangshürden bei der Inanspruchnahme formaler Hilfen.