Zusammenfassung
Hintergrund
Der demografische Wandel geht in Industrienationen mit abnehmendem Arbeitskräfteangebot und alternden Belegschaften einher. Arbeitsunfähigkeit kann zu einem zusätzlichen Arbeitskräfteverlust führen. Zunehmende Krankmeldungen aufgrund psychischer Einschränkungen werfen Fragen zum Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und Arbeitsunfähigkeit auf. Studien dazu sind gerade bei älteren Arbeitnehmern selten.
Ziel
Untersucht wird der Einfluss von arbeitsbezogenem Stress aufgrund eines Ungleichgewichts zwischen beruflicher Verausgabung und dafür empfangener Belohnungen (Effort-Reward-Imbalance(ERI)-Modell) auf Arbeitsunfähigkeit bzw. Langzeitarbeitsunfähigkeit.
Material und Methoden
lidA („leben in der Arbeit“) ist eine deutschlandweite Kohortenstudie zu Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe. 6339 repräsentative, sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der Jahrgänge 1959 und 1965 wurden eingeschlossen. Die Teilnahmequote lag bei 27,3 % mit hoher Repräsentativität und ohne Selektivität der Stichprobe in 16 soziodemografischen Variablen. Arbeitsunfähigkeit war definitionsgemäß mindestens ein Fehltag, Langzeitarbeitsunfähigkeit mindestens 43 Fehltage in den letzten 12 Monaten. Arbeitsbezogener Stress wurde mit ERI-Terzilen parametrisiert. In der multiplen logistischen Regression wurde für Alter, Geschlecht, psychische Störungen, sozioökonomischen Status und Arbeitszeit adjustiert.
Ergebnisse
Hochgradiger arbeitsbezogener Stress war bei älteren Beschäftigten unabhängig von Kovariaten mit Arbeitsunfähigkeit und Langzeitarbeitsunfähigkeit verbunden.
Diskussion
Der für Deutschland erstmals beobachtete Zusammenhang zwischen ERI und Arbeitsunfähigkeit stimmt mit den diesbezüglichen Ergebnissen der Mehrzahl internationaler Studien überein. Arbeitsstressreduktion könnte helfen, Arbeitskraft zu erhalten.
Abstract
Background
Demographic change is leading to a shrinking and ageing workforce in industrialized nations. Therefore, sickness absence may become a relevant problem. Increasing absenteeism and retirement rates due to mental disorders raise the question of an association between work-related stress and sickness absence. Studies on this matter, particularly in older employees, are rare.
Objectives
We studied for the first time in Germany the relationship between effort–reward imbalance (ERI) and overall or long-term sickness absence.
Materials and methods
LidA ( “Living at Work”) is a German cohort study on work, age, health, and work participation. A total of 6,339 employees born in 1959 and 1965 who were subject to social insurance contributions were interviewed nationwide using a representative sample concept. The response rate was 27.3 %. The sample showed high representativeness and no selectivity relating to 16 sociodemographic items. Sickness absence was defined as at least one long-term sickness absence with at least 43 days of absenteeism. Work-related stress was parameterized by ERI tertiles. Multiple logistic regression adjusting for age, sex, mental disorders, social status, and working time was performed.
Results
High levels of work-related stress were significantly associated with overall and long-term sickness absence among older employees after adjusting for covariates.
Conclusions
Our unique findings on work-related stress and sickness absence in Germany are in agreement with the results of most international studies. Reducing work-related stress could help to preserve the workforce.
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Dem Verlust von Arbeitskraft durch arbeitsbezogene Fehlzeiten wird wahrscheinlich aufgrund des demografischen Wandels und der damit einhergehenden Veränderungen der Arbeitswelt zukünftig eine größere Bedeutung zukommen [1]. Der Einfluss des demografischen Wandels auf die Zusammensetzung zukünftiger Belegschaften kann dabei mehrfach bedeutsam sein: Bei einer alternden Bevölkerung und damit einhergehender schrumpfender Arbeitnehmerzahl werden wir in Zukunft länger arbeiten müssen, um dieses quantitative Defizit zu kompensieren. Deutschland hat in Europa schon jetzt den höchsten Anteil der mindestens 65-jährigen Bevölkerung im Verhältnis zu den 15- bis 64-Jährigen und wird von diesen Veränderungen besonders betroffen sein [2]. Eine alternde Belegschaft birgt zusätzlich ein erhöhtes Risiko für krankheitsbedingte Fehlzeiten, da Alter ein bedeutsamer Risikofaktor für eine Vielzahl somatischer und psychischer Krankheiten ist. Hinzu kommt, dass eine zunehmende Dynamisierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zukünftig höhere Anforderungen an die Qualifikation, Wandelbarkeit und Mobilität der Arbeitnehmer stellen [3]. Grundvoraussetzung für die Bewältigung dieser Herausforderungen ist gerade bei alternden Arbeitnehmern eine gute Gesundheit. Faktoren, die zur Erhöhung von Arbeitsunfähigkeit (AU) und vor allem Langzeitarbeitsunfähigkeit (LAU) von Arbeitnehmern beitragen, erhalten damit ein zusätzliches Gewicht.
Internationale Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen Arbeitsstress, gemessen anhand gängiger arbeitsbezogener Stressmodelle [4, 5] oder Komponenten aus diesen [6], und Arbeitsunfähigkeit hin. In unterschiedlichen Studien konnte zudem gezeigt werden, dass arbeitsbezogener Stress ein Risikofaktor für psychische Störungen ist: So betrug der Anteil psychischer Störungen, der sich auf ein Ungleichgewicht von Verausgabung und Belohnung zurückführen lässt (attributabler Anteil), für Deutschland 15,6 % (95 %-CI: 8,63–22,71 %) [7]. Häufige stressassoziierte psychische Störungen waren Depressionen, schwere depressive Symptomatik [z. B. 8, 9] oder Angststörungen [10], die ihrerseits ein hohes Risiko für AU [11, 12] und v. a. LAU in sich bergen [13, 14].
In der hier dargestellten Untersuchung gehen wir erstmalig für Deutschland der Frage nach, ob arbeitsbezogener Stress, gemessen anhand eines Ungleichgewichtes zwischen beruflicher Verausgabung und dafür erhaltener Belohnungen (Modell der beruflichen Gratifikationskrisen bzw. Effort-Reward-Imbalance-Model) [15], auch unabhängig vom Vorliegen psychischer Störungen mit AU bzw. LAU assoziiert ist.
Material und Methoden
Probanden
Die lidA-Studie ist deutschlandweit die größte prospektive Kohortenstudie zu Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe [2]. Sie basiert auf sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern zweier Jahrgänge (1959, 1965). 6339 Erwerbstätige aus der ersten Untersuchungswelle 2011 bilden die Grundlage dieser Analyse. Sie wurden nach einem zweistufigen Auswahlverfahren unmittelbar aus der Grundgesamtheit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) gezogen. Im ersten Schritt wurde für die Face-to-Face-Erhebung eine bevölkerungsproportionale Regionalauswahl von 222 Sample Points in 206 Gemeinden getroffen. Im zweiten Schritt erfolgte dann die Listenauswahl für die beiden Alterskohorten. Die Ziehungsbasis für die Registerstichprobe bilden die Integrierten Erwerbsbiographien (IEB), die für wissenschaftliche Zwecke beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) liegen, zum Stichtag 31.12.2009. Die Grundgesamtheit bilden sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Selbstständige, Beamte und Freiberufler sind nicht Bestandteil der Stichprobe. Angaben zu AU-Zeiten und Kovariaten wurden mittels computergestützter persönlicher Interviews erhoben [16].
Die Teilnahmerate war mit 27,3 % relativ niedrig. Im Rahmen dieser Studie bestand jedoch die Möglichkeit des Abgleichs mit dem Gesamtpool der Daten der IEB der Bundesagentur für Arbeit. Dieser Datensatz enthält Angaben zu allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland [16]. Hier zeigte sich in einer vorausgegangenen Sensitivitätsuntersuchung dieses Studiensamples unter Einbezug von 16 soziodemografischen Variablen eine gute Übereinstimmung zu den IEB-Daten, was für eine hohe Repräsentativität des Samples spricht [16]. Eine geringfügig niedrigere Teilnahmebereitschaft fand sich bei der jüngeren Kohorte, bei Personen mit nicht-deutscher Nationalität und aus Großstädten sowie bei denen, die zwar einen Volks-, Hauptschul- oder Realschulabschluss, aber keine Berufsausbildung hatten, im Vergleich zu denen, die zusätzlich über eine Berufsausbildung verfügten [16]. Das multivariate Selektivitätsmodell weist auf keine selektive Verzerrung hin.
Fragebogen
Abhängige Variablen: Arbeitsunfähigkeit/Langzeitarbeitsunfähigkeit
AU wurde in dieser Untersuchung durch Selbstangaben der Teilnehmer retrospektiv für die letzten zwölf Monate erfasst. Hierbei handelt es sich um eine kumulierte Abfrage bezogen auf die letzten zwölf Monate. Die Anzahl der AU-Episoden wurde nicht abgefragt. AU liegt bei einer Fehlzeit von mindestens einem Tag in den letzten 12 Monaten vor. Aufgrund mangelnder internationaler Definitionen von LAU wurde der Beginn der Krankengeldzahlung in Deutschland gewählt (§ 3 Entgeltfortzahlungsgesetz) [17]: LAU liegt nach unserer Definition bei mindestens 43 AU-Tagen in den letzten 12 Monaten vor. Diese kann sowohl aufgrund diverser zeitlich unterbrochener AU-Episoden bei einer bestimmten Erkrankung auftreten als auch zusammenhängend [17].
Unabhängige Variable: Arbeitsbezogener Stress
Die unabhängige Größe „arbeitsbezogener Stress“ wurde mit Hilfe der extrinsischen Komponente des Modells beruflicher Gratifikationskrisen [15] gemessen. Der extrinsischen Komponente liegt die Beobachtung zugrunde, dass ein Ungleichgewicht zwischen beruflichen Verausgabungen und dafür empfangenen Belohnungen (z. B. Lohn, Aufstiegschancen, berufliche Sicherheit) zu chronischem Stress und damit verbundenen zu gesundheitlichen Risiken führen kann [18]. Wir verwendeten die 4-Punkt-Lickert-skalierte Version mit 17 Items [18]. Zur Bildung der ERI-Terzile wurde zunächst der Quotient aus den 11 Effort- und 6 Rewarditems unter Einführung eines Gewichtungsfaktors zum Ausgleich der unterschiedlichen Zahl an Items im Zähler und Nenner gebildet. Danach erfolgt die Terzilbildung auf Basis des gebildeten Quotienten (eine detaillierte Beschreibung findet sich in [18]).
Kovariaten
Work overcommitment (WOC, Verausgabungsbereitschaft)
Insbesondere Personen mit einem fehlgeleiteten Copingverhalten, d. h. mit Fehleinschätzung der beruflichen Anforderungen und der persönlichen Bewältigungsressourcen (WOC) haben ein erhöhtes Risiko, langfristig gesundheitliche Folgen davonzutragen [19]. WOC stellt zugleich die intrinsische Komponente des Modells beruflicher Gratifikationskrisen dar, war jedoch in vorangegangenen Untersuchungen unabhängig von der extrinsischen Komponente (s. o.) mit unterschiedlichen Outcomes assoziiert [19]. In dieser Untersuchung behandeln wir WOC als Confounder, da wir primär am Zusammenhang zwischen dieser Verausgabungsbereitschaft und AU/LAU interessiert sind. WOC wurde mit der 6-Item-4-Punkt-Likert-skalierten Kurzversion erfasst [18]. Mit dem resultierenden Summenscore werden Terzile gebildet. Das oberste Terzil wird als hohe Verausgabungsbereitschaft definiert und durch Dichotomisierung den beiden unteren Kategorien gegenübergestellt.
Mentale Störungen
Zur Erfassung mentaler Störungen wurden die Probanden gefragt, ob jemals eine psychische Erkrankung bei ihnen durch einen Arzt diagnostiziert wurde. Hierfür wurde eine Frage aus dem Zusatzmodul „Psychische Störungen“ des Bundesgesundheitssurveys 1998 [20] leicht modifiziert.
Soziodemografische Merkmale
Geschlecht und Geburtsjahrgang wurden in jeweils zwei Kategorien erfasst (Tab. 1). Der sozioökonomische Status wurde anhand von Bildung, beruflicher Position und Einkommen abgebildet. Bildung wurde durch den jeweils höchsten Schulabschluss in vier Kategorien erfasst. Berufliche Position wurde in insgesamt vier Gruppen gemessen, d. h. von unqualifizierten bzw. angelernten Arbeitnehmern bis hin zu Führungskräften. Einkommen wurde als personenbezogenes Einkommen in vier Kategorien abgebildet.
Arbeitszeit
Zusätzlich ging die Arbeitszeit in die Analyse ein: Vollzeit- wurde von Teilzeittätigkeit unterschieden. Eine dritte Kategorie bildeten „andere“ Beschäftigungsverhältnisse. Darunter fielen geringfügige, gelegentliche und unregelmäßige Beschäftigungsverhältnisse oder Qualifizierungsmaßnahmen.
Statistik
Ergebnisse wurden tabellarisch dargestellt. Die bivariate statistische Analyse erfolgte mittels Cramer’s V-Test (Tab. 1). Multiple Analysen wurden mit der schrittweisen logistischen Regression durchgeführt (Tab. 2, 3). Fehlende Werte wurden mittels multipler Imputation (MI) mit der FCS(„fully conditional specification“)-Methode ersetzt [21]. Die Anzahl der Imputationen betrug 20, wie sie bei fehlenden Werten von < 30 % empfohlen wird [22]. Alle Ergebnisse der multiplen Analyse wurden zum Vergleich als Ergebnisse mit (MI) und ohne (CC) Fehlerwertersetzung dargestellt (Tab. 2, 3). Als Statistiksoftwarepaket wurde SPSS 21 verwandt.
Ergebnisse
Deskription und bivariate Analyse
Gering-, mittel- und hochgradig stressbelastete Arbeitnehmer zeigten zunehmende Anteile an AU bis 42 Tage und LAU. Diese Unterschiede waren in der bivariaten Analyse signifikant (Tab. 1). Mit WOC belastete Arbeitnehmer hatten höhere Anteile an AU bis 42 Tage und LAU. Während sich in der bivariaten Analyse keine geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigten, waren Unterschiede bei beiden Alterskohorten beobachtbar: Während die 1965 Geborenen höhere Anteile an AU bis 42 Tage hatten, waren es bei den 1959 Geborenen höhere Anteile an LAU. Alle drei Parameter des sozioökonomischen Status zeigten signifikante Unterschiede sowohl bezüglich AU bis 42 Tage als auch LAU. Ein Schichtgradient (zunehmenden Risikos mit abnehmendem Sozialstatus) fand sich indes nur beim Zusammenhang zwischen beruflicher Position und LAU. Bei denen, die eine durch einen Arzt diagnostizierte psychische Störung angaben, war eine leichte Erhöhung des AU-Anteils bis 42 Tage beobachtbar, und bei LAU war diese sehr ausgeprägt. Vollzeiterwerbstätige zeigten in erster Linie eine leichtgradige Erhöhung der LAU im Vergleich zu Teilzeittätigen und denen mit anderer Tätigkeit. Letztere hatten den geringsten Anteil an LAU.
Multivariate Analyse
In der multiplen logistischen Regression zeigte sich mit zunehmender Stressbelastung eine höhere Odds Ratio (OR) für die Gesamt-AU (Tab. 2, 3). Hingegen war für LAU eine signifikante Erhöhung der OR nur für das mit arbeitsbezogenem Stress am höchsten belastete Drittel gegeben. Während sich in der multiplen Analyse kein Zusammenhang zwischen Geburtsjahrgang und AU zeigte, war dieser Zusammenhang zu LAU zunächst zu beobachten, verschwand aber nach Adjustierung für psychische Störungen. Für Frauen bestand eine leicht erhöhte OR für AU, nicht aber für LAU. Für WOC bestand keine Assoziation zur Gesamt-AU, und die leicht erhöhte OR für LAU war nach Hinzunahme von psychischen Störungen in das Modell nicht mehr beobachtbar. Während Arbeitnehmer mit mittlerer Reife bzw. Realschulabschluss und solche mit Volks-/Hauptschulabschluss im Vergleich zu denen mit Abitur eine geringere OR für AU hatten, war diese für solche ohne Schulabschluss erhöht. Im Unterschied dazu war die OR für LAU nur bei Volks-/Hauptschulabschluss in Bezug zu den Arbeitnehmern mit Hochschulreife erhöht. Im Vergleich zu Führungskräften zeigten Arbeitnehmer anderer beruflicher Stellungen eine Erhöhung der OR für AU. Ein sozialer Gradient für diese Assoziation bestand nicht. Der signifikante Zusammenhang zwischen beruflicher Stellung und LAU war im multiplen Modell nicht mehr beobachtbar. Arbeitnehmer der geringsten Einkommenskategorie hatten im Vergleich zu denen mit der höchsten eine reduzierte OR bezüglich AU. Dagegen hatten Arbeitnehmer mit einem relativ niedrigen Einkommen von 1000–2000 € monatlich eine erhöhte OR für LAU im Vergleich zu Arbeitnehmern der höchsten Einkommenskategorie. Schließlich zeigten Arbeitnehmer der Kategorie „andere Beschäftigte“ bei der Arbeitszeit ein geringeres Risiko für AU als Vollzeitbeschäftigte. Ein Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und LAU war nicht beobachtbar. Psychische Störungen gingen mit einer erhöhten OR für AU einher und noch ausgeprägter für LAU.
Diskussion
Wir fanden eine erhöhte OR für AU bei mittel und hoch mit Arbeitsstress belasteten Arbeitnehmern. Für hochgradig Stressbelastete bestand zusätzlich eine erhöhte OR für LAU. Beide Assoziationen waren auch unabhängig von anderen Kovariaten im Modell beobachtbar, wobei eine Reduktion der Stärke des Zusammenhangs nach Adjustierung für psychische Störungen für LAU beobachtbar war. Dies war zu erwarten, da Arbeitsstress, wie eingangs erwähnt, ein erhöhtes Risiko für psychische Störungen darstellen kann und psychische Störungen ihrerseits vor allem zu LAU führen können. Die von psychischen Störungen unabhängige Erhöhung der OR durch arbeitsbedingten Stress wirft die Frage auf, wie arbeitsbedingter Stress neben der Entwicklung von psychischen Störungen noch mit AU assoziiert sein kann. Manche Arbeitnehmer mit Gratifikationskrisen könnten dem Arbeitsplatz fern bleiben, um ihren beruflichen Einsatz zu verringern und damit beruflichen Stress zu vermeiden [23]. Dafür spräche auch die vielfach beobachtete inverse Assoziation zwischen arbeitsbezogenem Stress und beruflichem Wohlbefinden [23]. Geringeres berufliches Wohlbefinden könnte zu erhöhten AU-Zeiten beitragen. Zusätzlich war ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und dafür empfangenen Belohnungen mit psychischen und somatischen Krankheiten bzw. deren Vorstufen assoziiert. Hier seien nur die gut untersuchten Zusammenhänge von ERI zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen [z. B. 24] und Burn-out [z. B. 25] genannt.
Vier prospektive longitudinale Studien aus anderen Ländern zum Zusammenhang zwischen berufsbezogenem Stress (ERI) und Langzeit-AU wurden bislang publiziert [23, 26–28]. Drei der vier Studien zeigten im Einklang mit unseren Ergebnissen einen Zusammenhang zwischen ERI und LAU im Sinne einer Risikoerhöhung, ihre Ergebnisse waren jedoch durch Fokussierung auf bestimmte Zielgruppen in ihrer Repräsentativität eingeschränkt [26–28]. Zwei dieser drei Studien verwendeten zudem einen ERI-Proxy statt der Originalskala [26, 27]. Die vierte, kürzlich erschienene repräsentative dänische Longitudinalstudie von über einem Jahr fand jedoch unterschiedliche Assoziationen der Effort- und der Rewardskala zu AU [23]. Während die Belohnungskomponente mit einer signifikanten Risikoreduktion für AU einherging, zeigte sich für die Verausgabungskomponente kein signifikanter Zusammenhang. Allerdings wurde auch in dieser Studie ERI mit Hilfe eines Proxymaßes bestimmt, dessen „Effort“-Skala zwar objektive Arbeitsanforderungen maß, nicht aber die subjektive Belastung. Zudem wurde in dieser Untersuchung der ERI-Quotient und nicht wie in unserer Untersuchung die ERI-Terzile verwendet. Die Vergleichbarkeit dieser Studien untereinander und mit unserer Studie ist wegen unterschiedlicher Definitionen von LAU zudem eingeschränkt: Sie kann definiert werden als eine längerfristige, ärztlich bescheinigte Abwesenheit vom Arbeitsplatz aufgrund von Krankheit, die eine Tätigkeitsausübung behindert. Eine einheitliche internationale Festlegung einer Zeitgrenze, ab der von LAU gesprochen werden kann, existiert leider nicht. So ist die Übertragbarkeit länderspezifischer Ergebnisse erschwert. Studien aus Finnland [27], Großbritannien [26], Belgien [29] bzw. Dänemark [23] definieren beispielsweise LAU unterschiedlich als Mindestabwesenheitszeiten von 4, 8, 15 oder 21 Tagen in den letzten 12 Monaten. Aufgrund dieser Definitionsheterogenität haben wir uns in diesem Beitrag entschlossen, den Beginn der Krankengeldzahlung ab dem 43. Tag einer AU mit der Grenze für LAU gleichzusetzen. Zusätzlich besteht hierzulande ab diesem Zeitpunkt auch die Verpflichtung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (§ 84 Sozialgesetzbuch Neun [SGB IX]) [30] und somit die Verpflichtung des Arbeitgebers zur aktiven Durchführung von Prävention.
Der in dieser Studie beobachtete Zusammenhang zwischen psychischen Störungen und AU sowie der noch deutlichere zu LAU stimmt mit bestehenden Studienergebnissen überein [11–14]. Fünf der zehn weltweit führenden Gründe für AU sind psychische Störungen [31]. Sie rangieren in Deutschland nach Muskel-Skelett-Erkrankungen hinsichtlich der Gesamtfehltage mittlerweile an zweiter Stelle: Zwischen 1976 und 2011 verfünffachte sich die Häufigkeit von Fehltagen durch psychische Störungen. Ihr Anteil an allen Fehltagen stieg von 2,0 % auf 14,1 % [11]. Es konnte gezeigt werden, dass betriebliche Interventionen zur Reduktion von Stress basierend auf einem Ungleichgewicht zwischen Verausgabung und Gratifikationen helfen können, psychische Störungen zu reduzieren [32]. Da psychische Störungen mit Arbeitsunfähigkeit assoziiert sind, wäre dadurch bereits eine Reduktion von Fehlzeiten zu erwarten. In unserer Studie finden sich Hinweise, dass die Reduktion von beruflichen Gratifikationskrisen durch betriebliche Interventionen möglicherweise zusätzliches Potenzial für die Reduktion von AU-Zeiten in sich birgt.
Der gefundene Zusammenhang zwischen ERI und AU könnte auch von unmittelbarer praktischer Bedeutung für den Arbeitgeber sein: Durch die gesetzliche Regelung der Lohnfortzahlung in den ersten sechs Wochen (§ 3 Entgeltfortzahlungsgesetz [17]) ist der Arbeitgeber unmittelbar von der AU seiner Arbeitnehmer betroffen und sollte an präventiven Maßnahmen wie der Reduzierung von arbeitsbedingtem Stress ein starkes Interesse haben. Zusätzlich ist er bei einer AU, die länger als sechs Wochen anhält bzw. mehrmals auftritt, nach § 84 Absatz 2 SGB IX [30] im Rahmen der Prävention verpflichtet, „mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten [zu erörtern], wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement)“.
Stärken unserer Studie sind die große Stichprobe und der repräsentative Querschnitt über alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer zweier Jahrgänge in Deutschland und nicht nur einzelner Berufsgruppen. Vorteil unserer Untersuchung, z. B. im Vergleich zu drei der vier eingangs erwähnten prospektiven Studien zum Zusammenhang zwischen ERI und LAU, ist weiterhin die Nutzung des Original-ERI-Messinstruments einschließlich der Adjustierung für die intrinsische Komponente WOC.
Eine Limitation der Studie liegt jedoch in ihrem explorativen Querschnittsdesign. Ergebnisse sind daher nicht im Sinne einer Beweisführung zu interpretieren [33]. Bei der Ergebnis-Interpretation ist insbesondere die zeitliche Abfolge der Erfassung von arbeitsbezogenem Stress und AU/LAU als Limitation zu berücksichtigen. Auch wenn sich ERI in einer vorangegangen Untersuchung als zeitlich stabil erwiesen hat [34], können wir nicht ausschließen, dass Arbeitsunfähigkeit bzw. Gründe, die zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, einen Einfluss auf arbeitsbezogenen Stress gehabt haben. Uns ist nur eine Studie bekannt, die den Zusammenhang zwischen vorrausgegangener Arbeitsunfähigkeit und arbeitsbezogenem Stress in wiederholten Querschnitten untersuchte [5]. Es fand sich hier ein nur schwacher Zusammenhang. Dem stehen die Ergebnisse der oben genannten internationalen Längsschnittstudien [26–28] gegenüber, die einen gerichteten, deutlichen Zusammenhang zwischen arbeitsbezogenem Stress und Langzeitarbeitsunfähigkeit aufgezeigt haben. Zukünftige Studien müssen unsere Ergebnisse für den deutschen Raum auch im Längsschnitt verifizieren.
Die Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist durch den Einbezug von ausschließlich sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus nur zwei Geburtskohorten eingeschränkt [2]. Die relativ niedrige Teilnahmerate von 27,3 % spiegelt die abnehmende Teilnahmebereitschaft an Studien in Deutschland wieder. Es bestand – wie eingangs beschrieben – dennoch eine hohe externe Validität des Datensatzes bezüglich 16 soziodemografischer Variablen [16]. Eine partielle Verzerrung hinsichtlich anderer Variablen durch diese relativ geringe Teilnahmerate kann jedoch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Eine Untererfassung von Probanden mit psychischen Störungen oder mit anderen, mit arbeitsbezogenem Stress assoziierten Erkrankungen aufgrund von Nicht-Erreichbarkeit (z. B. durch Krankenhausaufenthalt) wäre möglich. Eine weitere Limitation könnte sich aus den Selbstangaben zur Zielgröße, aber auch zu den Einflussgrößen ergeben. Bezüglich der Zielgröße wurden die Probanden im Rahmen des computergestützten Interviews gefragt, an wie vielen Arbeitstagen sie in den letzten zwölf Monaten krankheitsbedingt nicht zur Arbeit gegangen sind. Die AU-Tage wurden kumuliert für diesen Zeitraum erfragt. Angaben zur Anzahl an Episoden liegen uns nicht vor. Auch wenn Selbstangaben einem Erinnerungsbias unterliegen, fanden Voss et al. [35] eine deutliche Übereinstimmung zwischen selbstberichteter AU und Sekundärdaten (z. B. Verwaltungsdaten). Andere Studien konnten dies jedoch nicht bestätigen und plädieren für die Verwendung von Sekundärdaten [z. B. 36]. Auch im Rahmen der lidA-Studie wurde das Einverständnis der Teilnehmer für die Zuspielung u. a. der AU-Daten eingeholt [2]. Obwohl zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits 63 % der Befragten aus dem Ursprungssample ihr Einverständnis für ein solches Datenlinkage gaben, liegen auf Grund der Komplexität der Krankenkassenlandschaft die AU-Daten noch nicht vollständig vor [37]. Die Krankenkassenlandschaft ist in Deutschland sehr heterogen und durch diverse Kassenfusionen etc. gezeichnet, die die Verwendung von Sekundärdaten in der lidA-Studie erschweren [38]. Zudem ist neben der Zustimmung der Probanden auch die Teilnahmebereitschaft der Krankenkassen erforderlich, sodass sich die Verfügbarkeit noch einmal auf derzeit ca. 20 % reduziert (basierend auf zehn Krankenkassen [39]). Aufgrund dieser Kopplung zwischen Zustimmung und Teilnahmebereitschaft können neben dem Powerverlust weitere Selektionseffekte nicht ausgeschlossen werden.
Fazit
Wir fanden in Übereinstimmung mit der Mehrzahl prospektiver Studien aus anderen Ländern eine signifikante Assoziation zwischen ERI und AU bzw. LAU bei älteren Beschäftigten in Deutschland auch unabhängig von mentalen Störungen und anderen Kovariaten. Maßnahmen zur Reduktion von Arbeitsstress könnten bei demografisch alternden und schrumpfenden Belegschaften in Deutschland den zusätzlichen Verlust von Arbeitskraft durch AU-Zeiten reduzieren helfen.
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Danksagung
Die Autoren danken den lidA-Kooperationspartnern für die gute Zusammenarbeit, welche diese Arbeit letztendlich erst ermöglichte. Dank gilt auch dem Bundesministeriums für Bildung und Forschung, welches das diesem Artikel zugrundeliegende Vorhaben mit Mitteln des unter den Förderkennzeichen der am Verbund beteiligten Vorhaben 01ER0806, 01ER0825, 01ER0826, 01ER0827 förderte.
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Interessenkonflikt
J. B. du Prel, S. March, H. Schröder und R. Peter erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Ethikvotum
Für diese Studie liegt das Votum der Ethikkommission der Universität Wuppertal vor.
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du Prel, JB., March, S., Schröder, H. et al. Berufliche Gratifikationskrisen und Arbeitsunfähigkeit in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 58, 996–1004 (2015). https://doi.org/10.1007/s00103-015-2207-5
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00103-015-2207-5