Hintergrund

Studien zu Gesundheitskompetenz bzw. Health Literacy versuchen die kognitiven Fähigkeiten und Kompetenzen, die für den Erhalt oder die Wiederherstellung von Gesundheit entscheidend sind, zu identifizieren und ihren Einfluss zu untersuchen [14]. Folgt man der weithin akzeptierten Definition von Sørensen und Kollegen [5], dann ist Gesundheitskompetenz eng verknüpft mit Bildung. Sie umfasst Kompetenzen, Wissen und Motivation der Bevölkerung, auf Informationen zuzugreifen, sie zu verstehen, zu beurteilen und anzuwenden, um sich ein Urteil zu bilden und Entscheidungen über Therapie und Versorgung, Prävention und Gesundheitsförderung im Alltag zu treffen und die Lebensqualität während der gesamten Lebensspanne zu fördern und zu verbessern.

Die vorliegenden Studien zeigen, dass Gesundheitskompetenz und Gesundheit eng miteinander zusammenhängen und dass Gesundheitskompetenz sozial ungleich verteilt ist [68]. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen [9] fordert deshalb, der Gesundheitskompetenz sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen besondere Beachtung zu schenken, um einer weiteren Zunahme gesundheitlicher Ungleichheit entgegenzuwirken.

Bislang fehlten jedoch differenzierte Studien über Ausmaß, Ursachen und Folgen niedriger Gesundheitskompetenz bei sozial benachteiligten Menschen. Um diese Datenlücke ein Stück weit zu schließen, wurde eine quantitative Erhebung der Gesundheitskompetenz von bildungsfernen Jugendlichen, älteren Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen durchgeführt.

Im vorliegenden Beitrag werden Ergebnisse zur Gesundheitskompetenz bildungsferner Jugendlicher präsentiert, und es wird nach sozioökonomischen Faktoren, die die Gesundheitskompetenz beeinflussen, sowie nach dem Zusammenhang zwischen der Gesundheitskompetenz und dem Gesundheitsverhalten gefragt.

Methoden

Die vorliegende Studie wurde als vertiefende Untersuchung des European-Health-Literacy-Survey aus dem Jahr 2011 konzipiert, in dem die Gesundheitskompetenz der Allgemeinbevölkerung in acht europäischen Ländern erhoben wurde. An diesem Survey hat Deutschland nur mit einem Bundesland, Nordrhein-Westfalen (NRW), teilgenommen [6]. Unsere Studie unterscheidet sich vom European-Health-Literacy-Survey zum einen darin, dass gezielt sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen in den Blick genommen wurden, insbesondere ältere Menschen, (jüngere) Menschen mit niedriger Bildung und Menschen mit Migrationshintergrund. Zum anderen wurden vertiefend Daten zum Gesundheitszustand, zu Einschränkungen durch chronische Erkrankungen, zur Inanspruchnahme des Versorgungssystems, zum Wissen über alltägliche gesundheitsbezogene Belange, zur Lese- und Rechenkompetenz, zum Gesundheitsverhalten und zum sozioökonomischen Status erhoben.

Die Stichprobe umfasst 1000 Befragte, von denen die Hälfte Jugendliche im Alter zwischen 15 und 25 Jahren sind, die als höchsten Bildungsabschluss maximal über einen Hauptschulabschluss verfügen. Ältere Menschen im Alter von 65 bis 80 Jahren bilden die andere Hälfte. Von beiden Gruppen besitzt jeweils die Hälfte der Befragten einen Migrationshintergrund. Die Ziehung der Stichprobe erfolgte anhand eines repräsentativen Quotenplans. Die Befragung erfolgte als Computer-unterstützte persönliche Befragung (CAPI), umfasste etwa 45 min und wurde im Februar und März 2014 durch das Umfrageinstitut Ipsos durchgeführt.

Der Fragebogen und die Befragungssituation wurden so gestaltet, dass bildungsferne Jugendliche, ältere Menschen und Menschen mit geringen Schriftsprachkenntnissen und mit geringen Deutschkenntnissen die Fragen verstehen und beantworten konnten. Hierfür wurden Antwortoptionen visualisiert, alle Fragen und alle möglichen Antwortoptionen langsam und deutlich vorgelesen und Einleitungen und Übergangsätze zur Erleichterung der Orientierung innerhalb der Interviewsituation eingefügt. Für Befragte mit geringen Deutschkenntnissen gab es zudem die Möglichkeit, Interviews in Türkisch oder Russisch zu führen.

Die Höhe der Gesundheitskompetenz wurde in der vorliegenden Studie mit dem Vollinstrument des European-Health-Literacy-Surveys erhoben (HLS-EU-Q47), operationalisiert als die Fähigkeit, relevante Informationen aus den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung finden, verstehen, bewerten und anwenden zu können [5]. Das Instrument umfasst 47 Fragen, mit denen die Schwierigkeit der Durchführung ausgewählter gesundheitsrelevanter Aufgaben oder Tätigkeiten erhoben wird. Beantwortet werden können die Fragen auf einer vorgegebenen vierstufigen Antwortskala („sehr einfach“, „ziemlich einfach“, „ziemlich schwierig“, „sehr schwierig“). Will oder kann der Befragte eine Frage nicht beantworten, haben die Interviewer zusätzlich die Möglichkeit, „keine Antwort“ zu kodieren. Beispiele für Items aus dem Bereich Krankheitsbewältigung sind „Wie einfach oder schwierig ist es, im Notfall einen Krankenwagen zu rufen?“ und „…Vor‐ und Nachteile von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu beurteilen?“. Beispiele für Items aus dem Bereich Prävention sind „Wie einfach oder schwierig ist es, Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten bei ungesundem Verhalten, wie Rauchen, wenig Bewegung oder zu hohem Alkoholkonsum, zu finden?“ und „…zu entscheiden, ob Sie sich gegen Grippe impfen lassen sollten?“. Beispiele für Items aus dem Bereich Gesundheitsförderung sind „Wie einfach oder schwierig ist es, Informationen zu finden, wie Ihre Wohnumgebung gesundheitsförderlicher werden könnte?“ und „…einem Sportverein beizutreten oder einen Sportkurs zu belegen, wenn Sie das wollen?“.

Das eingesetzte Instrument erlaubt die Berechnung eines Gesundheitskompetenz-Index. Um die Ergebnisse leichter kommunizieren zu können, wurden zudem (wie im European-Health-Literacy-Survey) die Punktwerte zu Kategorien zusammengefasst [6, 10]. Der Index hat eine maximale Punktzahl von 50 Punkten. Diese werden erreicht, wenn die Befragten alle 47 erfragten Situationen und Herausforderungen aus den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung als für sie „sehr einfach“ bewerten. Wurden weniger als 25 Punkte bei den Indizes erreicht, wurde die Gesundheitskompetenz als „inadäquat“ bezeichnet, weil dann mindestens die Hälfte der erfragten Situationen und Anforderungen als „ziemlich schwierig“ oder „sehr schwierig“ bewertet werden. Der nächste Grenzwert, der die beiden Kategorien „problematische Gesundheitskompetenz“ und „ausreichende Gesundheitskompetenz“ trennt, liegt bei 33 Punkten, das heißt bei etwa 2/3 des erreichbaren Punktemaximums. Erreicht ein Befragter mehr als 42 Punkte, fällt seine Gesundheitskompetenz in den Bereich „ausgezeichnet“.

Die Darstellung der Verteilung der Gesundheitskompetenz erfolgt auf Basis der beschriebenen Kategorien. Für die Analyse soziodemografischer Einflussfaktoren wurde eine multivariate lineare Regression gerechnet, in die die Variablen blockweise eingeschlossen wurden. Die Analyse des Zusammenhangs von Gesundheitskompetenz und Aspekten des Gesundheitsverhaltens erfolgte auf Basis von Kreuztabellen.

Ergebnisse

Die Gesundheitskompetenz der befragten, sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen liegt im Durchschnitt deutlich unter der der Allgemeinbevölkerung. Das Ausmaß des Unterschiedes zwischen der Allgemeinbevölkerung und den untersuchten sozial benachteiligten Gruppen ist erheblich, wie Abb. 1 zeigt.

Abb. 1
figure 1

Gesundheitskompetenz (GK) in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit und ohne Migrationshintergrund (MH) in NRW und im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, wie sie im European-Health-Literacy-Survey 2011 für Nordrhein-Westfalen (NRW) erhoben wurden. (Quelle: Berechnung durch das Ludwig-Boltzmann-Institut Health-Promotion-Research, Wien; MH: Migrationshintergrund, NRW: Nordrhein-Westfalen)

In der befragten Bevölkerungsgruppe zeichnen sich noch einmal prägnante Unterschiede zwischen Befragten mit und ohne Migrationshintergrund ab. So haben bildungsferne Jugendliche mit Migrationshintergrund etwa doppelt so häufig eine inadäquate Gesundheitskompetenz wie Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (24,9 zu 12,8 %). Entsprechendes gilt für ältere Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Älteren ohne Migrationshintergrund (36,2 zu 17,6 %). Etwa ein Viertel der bildungsfernen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ein Drittel der älteren Befragten mit Migrationshintergrund stufen somit die Hälfte der 47 erfragten alltagsbezogenen Situationen und Herausforderungen als für sie schwer zu bewältigen ein.

Fasst man die Kategorien inadäquate und problematische Gesundheitskompetenz zusammen, kommt man zu dem Ergebnis, dass 64 % der 65- bis 80-Jährigen ohne Migrationshintergrund und 81 % der älteren Menschen mit Migrationshintergrund eine inadäquate oder problematische Gesundheitskompetenz haben. Von den bildungsfernen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund haben 70 % und von denjenigen mit Migrationshintergrund 77 % eine inadäquate oder problematische Gesundheitskompetenz. Im European-Health-Literacy-Survey, in dem die Gesundheitskompetenz der Allgemeinbevölkerung in Nordrhein-Westfalen erhoben wurde, hatten 46 % eine inadäquate oder problematische Gesundheitskompetenz. Die Ausgangsvermutung, dass es bei den untersuchten, aus sozioökonomischer Perspektive als benachteiligt einzustufenden Bevölkerungsgruppen auch um Gruppen handelt, bei denen die Gesundheitskompetenz tendenziell geringer ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung, konnte damit bestätigt werden.

Einfluss soziodemografischer Faktoren auf die Gesundheitskompetenz

Ein Teil der Befragten verfügt jedoch durchaus über eine adäquate oder exzellente Gesundheitskompetenz. Daher stellt sich die Frage, welche Faktoren die Höhe der Gesundheitskompetenz beeinflussen. Um diese Frage für die Gruppe der bildungsfernen Jugendlichen zu beantworten, haben wir mittels einer multivariaten Regressionsanalyse den Einfluss soziodemografischer Faktoren auf die Gesundheitskompetenz überprüft. Da die befragten bildungsfernen Jugendlichen mit Migrationshintergrund überwiegend sogenannte Migranten der zweiten Generation sind, die in Deutschland geboren wurden und das deutsche Bildungssystem durchlaufen haben, sind die Unterschiede in der Gesundheitskompetenz zwischen den befragten Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund erklärungsbedürftig.

Eine mögliche Ursache für die deutlich geringere Gesundheitskompetenz von Jugendlichen mit Migrationshintergrund könnte sein, dass das in der Familie vorhandene Wissen über den Umgang mit dem Gesundheitssystem und mit Gesundheitsinformationen in ihrem Herkunftsland erworben wurde und nur bedingt auf die Situation hierzulande übertragbar ist [11, 12]. Möglich ist jedoch auch, dass sich in den beobachteten Unterschieden zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund weniger kulturelle, sondern bildungs- und sozioökonomische Unterschiede widerspiegeln [13].

Im Folgenden gehen wir deshalb der Frage nach, welche soziodemografischen Merkmale mit der Gesundheitskompetenz der 15- bis 25-Jährigen, die maximal über einen Hauptschulabschluss verfügen, zusammenhängen. Hierfür überprüfen wir zunächst den Einfluss des Migrationshintergrunds auf die Gesundheitskompetenz, dann erweitern wir das Modell um individuelle Faktoren wie Geschlecht, Alter und Bildungsabschlüsse, und im Anschluss daran prüfen wir den Einfluss familiärer Faktoren wie Bildung und Wohlstand der Eltern.

In einer multivariaten Regressionsanalyse werden drei Modelle gegenübergestellt. Im ersten Modell wird geprüft, ob beziehungsweise wieweit der Migrationshintergrund die Gesundheitskompetenz statistisch „erklären“ kann. Das Ergebnis zeigt, dass, wenn ein Migrationshintergrund vorliegt, statistisch auch die Gesundheitskompetenz geringer ausgeprägt ist. Im zweiten Modell werden neben dem Migrationshintergrund zusätzlich individuelle Faktoren wie das Geschlecht und der erreichte Schulabschluss einbezogen. In die Rechnung wurde zunächst auch die Variable Alter einbezogen, diese jedoch wieder ausgeschlossen, da sie zu stark mit dem erreichten Schulabschluss korreliert. Im zweiten Modell bleibt der Einfluss des Migrationshintergrunds statistisch signifikant, und weder das Geschlecht noch der erreichte Schulabschluss weisen einen signifikanten Zusammenhang mit der Gesundheitskompetenz auf (Tab. 1).

Tab. 1 Lineare Regression individueller und familiärer soziodemografischer Faktoren mit Einfluss auf die Gesundheitskompetenz der 15- bis 25-Jährigen mit maximal Hauptschulabschluss

In einem dritten Modell wird geprüft, ob der Bildungshintergrund der Eltern und der familiäre Wohlstand die Höhe der Gesundheitskompetenz beeinflussen. Für die Ermittlung des familiären Wohlstands wurde die Family Affluence Scale (FAS-Scale) aus der Health-Behaviour-in-School-aged-Children-Studie (HBSC-Studie) der World Health Organisation Europe verwendet [14]. Interessant ist an Modell 3 vor allem, dass der Migrationshintergrund durch Einbezug der elterlichen Bildung und des familiären Wohlstands so stark an Bedeutung verliert, dass er im Modell statistisch nicht mehr im signifikanten Bereich liegt. Insgesamt sind die Effektstärken der Analysen jedoch eher gering.

Um den Einfluss migrationsspezifischer Faktoren zu überprüfen, wurde für die Gruppe der bildungsfernen Jugendlichen mit Migrationshintergrund noch einmal eine separate Regression gerechnet, in die auch die Faktoren Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, eigene oder elterliche Migrationserfahrung und zu Hause am häufigsten gesprochene Sprache einbezogen wurden. Im Ergebnis zeigt sich, dass weder die Art der Einwanderungserfahrung, noch der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, noch ob zu Hause am häufigsten deutsch gesprochen wird, statistisch einen signifkanten Einfluss auf die Höhe der Gesundheitskompetenz haben. Die Ergebnisse der separaten Analyse der Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind damit ein weiterer Hinweis darauf, dass die Ursache für die Unterschiede in der Höhe der Gesundheitskompetenz zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund primär in den zur Verfügung stehenden Bildungs- und ökonomischen Resourcen zu suchen sind.

Gesundheitskompetenz und Gesundheitsverhalten bei bildungsfernen Jugendlichen

Was bedeutet es nun aber, eine hohe oder niedrige Gesundheitskompetenz zu haben? Hängen Gesundheitskompetenz und Gesundheitsverhalten zusammen?

Von Interesse sind etwa die Fragen, ob die Höhe der Gesundheitskompetenz in einem Zusammenhang mit dem Ernährungs- und Bewegungsverhalten steht, ob sie einen Einfluss auf gesundheitliche Risikoverhaltensweisen wie Tabak- oder Alkoholkonsum hat oder ob sie sich auf das Ergreifen von Maßnahmen zur Unfallprävention auswirkt. Zur Beantwortung dieser Fragen wurde auf Basis von Kreuztabellen nach signifikanten Zusammenhängen zwischen der Höhe der Gesundheitskompetenz und verschiedenen Aspekten des Gesundheitsverhaltens gesucht; eine multivariate logistische Regression war aufgrund der Fallzahlen nicht möglich.

Insgesamt ist festzustellen, dass ein erheblicher Teil der befragten bildungsfernen Jugendlichen gesundheitliche Risikoverhaltensweisen praktiziert, etwa indem sie täglich oder fast täglich Alkohol trinken, rauchen oder ohne Helm Mofa oder Moped fahren. Auch das Ernährungsverhalten ist bedenklich, denn weniger als die Hälfte der befragten bildungsfernen Jugendlichen konsumiert täglich oder fast täglich Obst oder Gemüse. Der Konsum zuckerhaltiger Getränke ist dagegen weit verbreitet. Hinzu kommt, dass die Mehrheit dieser Jugendlichen eher selten körperlich aktiv ist. Den allgemeinen Empfehlungen eines mehrmals täglichen Obst- und Gemüsekonsums und eines geringen Zuckerkonsums [15, 16] sowie täglicher körperlicher Aktivität von mindestens einer Stunde [17] folgt damit nur eine Minderheit. Bemerkenswert ist, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund in unserer Stichprobe ein in vieler Hinsicht positiveres Gesundheitsverhalten aufweisen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund: Ihr Alkoholkonsum ist moderater, und sie konsumieren häufiger Obst und Gemüse. Den Unfallschutz vernachlässigen sie jedoch stärker als Jugendliche ohne Migrationshintergrund.

Generell ist häufig, aber nicht durchgehend ein Zusammenhang zwischen Gesundheitskompetenz und Gesundheitsverhalten festzustellen. Deutlich mit der Gesundheitskompetenz korreliert vor allem das Ernährungs- und Bewegungsverhalten. Während etwa von den Jugendlichen mit einer unzureichenden oder problematischen Gesundheitskompetenz nur etwa jeder Zehnte täglich Gemüse oder Salat konsumiert, ist es von den Befragten mit einer adäquaten oder exzellenten Gesundheitskompetenz immerhin etwa jeder Vierte (Abb. 2). Ein vergleichbares Bild zeigt sich für den Konsum von Obst und Früchten.

Abb. 2
figure 2

Zusammenhang von Gesundheitskompetenz und Gemüse- und Salatkonsum bei 15- bis 25-Jährigen mit maximal Hauptschulabschluss. Dunkelgrauer Balken: inadäquate/problematische Gesundheitskompetenz; hellgrauer Balken: ausreichende/exzellente Gesundheitskompetenz, Quelle: eigene Berechnung, χ2(3) = 20,68, p < 0,001

Von einer Minderheit wird Obst oder Gemüse täglich konsumiert. Dagegen trinkt etwa ein Drittel der Befragten täglich Cola oder andere zuckerhaltige Limonade, ein weiteres Viertel fast täglich. Anders als beim Konsum gesunder Nahrungsmittel (wie Obst, Früchte, Gemüse und Salat) liegt der Zusammenhang mit der Gesundheitskompetenz allerdings nicht im statistisch signifikanten Bereich.

Zwischen der Höhe der Gesundheitskompetenz und täglicher körperlicher Aktivität besteht ebenfalls ein deutlicher Zusammenhang. Von den Jugendlichen mit hoher Gesundheitskompetenz bewegt sich immerhin jeder Vierte täglich mindestens eine Stunde. Von den Jugendlichen mit geringer Gesundheitskompetenz ist es dagegen nur jeder achte Jugendliche.

Unfallschutz durch Tragen von Helmen oder anderen Protektoren wird nur von einer Minderheit der befragten bildungsfernen Jugendlichen praktiziert. Von den Befragten benutzen über 80 % keine verkehrssichere Ausrüstung im Straßenverkehr, über 70 % verwenden beim Skaten und Rollerfahren keine Ellbogen- oder Knieschoner und über 80 % dabei keinen Helm. Dass etwa 85 % beim Fahrradfahren keinen Helm tragen, rundet das Bild ab. Am deutlichsten wird das geringe Bewusstsein für Unfallschutz jedoch daran, dass etwa zwei Drittel der Jugendlichen auch beim Mofa- oder Moped-fahren keinen Helm tragen, obwohl hier eine gesetzliche Helmpflicht besteht. Die Benutzung von Helmen und anderen Protektoren beim Fahrrad-, Mofa- oder Moped-fahren steigt dabei tendenziell mit einer höheren Gesundheitskompetenz. Diese Tendenz, dass eine höhere Gesundheitskompetenz auch mit erhöhten Maßnahmen des Unfallschutzes einhergeht, war jedoch nur bei der Nutzung einer verkehrssicheren Ausrüstung im Straßenverkehr statistisch im signifikanten Bereich (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

Zusammenhang von Gesundheitskompetenz und der Umsetzung von Maßnahmen zur Unfallprävention (Unfallschutz) bei 15- bis 25-Jährigen mit maximal Hauptschulabschluss. Dunkelgrauer Balken: inadäquate/problematische Gesundheitskompetenz; hellgrauer Balken: ausreichende/exzellente Gesundheitskompetenz. (Quelle: eigene Berechnung, 15- bis 25-Jährige mit maximal Hauptschulabschluss, nur zutreffende Angaben. ***p < 0,001, **p < 0,01, *p < 0,05)

Auch beim Alkoholkonsum kann beobachtet werden, dass er bei Jugendlichen mit höherer Gesundheitskompetenz moderater ausfällt – hier liegt der Zusammenhang jedoch ebenfalls nicht im statistisch signifikanten Bereich. Beim Tabakkonsum kann kein Zusammenhang mit der Gesundheitskompetenz festgestellt werden. Die Ergebnisse deuten an, dass sich Gesundheitskompetenz insbesondere auf das Ernährungs- und Bewegungsverhalten auswirkt, während gesundheitliche Risikoverhaltensweisen im Jugendalter wahrscheinlich stärker von anderen Faktoren beeinflusst werden

Diskussion

In der präsentierten Studie wurde Gesundheitskompetenz als die Fähigkeit operationalisiert, relevante Informationen aus den Bereichen Krankheitsbewältigung, Prävention und Gesundheitsförderung finden, verstehen, bewerten und anwenden zu können. Sie wurde mit dem Vollinstrument des European-Health-Literacy-Surveys (HLS-EU-Q47) untersucht. Die Ergebnisse bestätigen die Ausgangsvermutung, dass bei den aus sozioökonomischer Perspektive als benachteiligt einzustufenden Bevölkerungsgruppen die Gesundheitskompetenz deutlich geringer ausgeprägt ist als in der Allgemeinbevölkerung. Auch wenn dieses Ergebnis zu erwarten war und sich die Tendenz bereits im European-Health-Literacy-Survey abzeichnete, dass Menschen mit Migrationshintergrund, geringer Bildung und ältere Menschen über eine niedrige Gesundheitskompetenz verfügen, [6], überrascht doch das Ausmaß des Unterschieds zwischen der Allgemeinbevölkerung und den untersuchten sozial benachteiligten Gruppen.

Der Befund, dass die Höhe der Gesundheitskompetenz von sozioökonomischen Faktoren abhängt, bestätigt die Ergebnisse vorliegender Studien [1820]. Bisher nicht bekannt war, dass in der Gruppe der bildungsfernen Jugendlichen zu den prägenden sozioökonomischen Faktoren weniger die eigene Schulbildung zählt als die Bildung der Eltern und der Wohlstand der Familie. Dass der Unterschied in der Gesundheitskompetenz zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf sozioökonomische Unterschiede zurück geführt werden kann, ordnet sich gut in aktuelle Ergebnisse der Jugend- und Migrationsforschung ein: Sie zeigen, dass sich Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund häufig auf Ungleichheiten in den Lebensbedingungen und Verwirklichungschancen zurückführen lassen [13, 21]. Die insgesamt niedrige statistische Erklärungskraft der Regression deutet dabei auf die Notwendigkeit weiterer Forschung zur Frage hin, wovon Gesundheitskompetenz abhängt. Bisher nicht untersucht wurden auch die Fragen, wie Gesundheitskompetenz in der Familie weitergegeben wird, welchen Einfluss in der Schule vermittelte Inhalte und Kompetenzen haben und wie sich das soziale Umfeld auswirkt.

Die hier präsentierten Ergebnisse geben damit wichtige Hinweise darauf, wie eine ungleich verteilte Gesundheitskompetenz, die von uns über die Bewertung des Schwierigkeitsgrads verschiedener gesundheitsrelevanter Situationen und Anforderungen ermittelt wurde (HLS-EU-Q47), zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit beitragen kann. Am Beispiel des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens konnte gezeigt werden, dass Gesundheitskompetenz und Gesundheitsverhalten bei Jugendlichen miteinander zusammenhängen. Die Bedeutung von Ernährung und Bewegung für die Gesundheits-Krankheits-Dynamik im Lebenslauf wurde an anderer Stelle gut belegt [16, 17]. Der Befund ist auch ein Hinweis darauf, dass der bisherige Fokus auf den Alkohol- und Tabakkonsum, bei dem für Jugendliche kaum Zusammenhänge mit der Gesundheitskompetenz festzustellen waren [22, 23], zu kurz greift.

Schlussfolgerungen

Unsere Ergebnisse deuten darauf, dass Gesundheitskompetenz ein wichtiger Schlüssel sein könnte, um die Entstehung von gesundheitlicher Ungleichheit im Lebenslauf zu verstehen. Zudem zeigen sie, dass bei jüngeren Befragten der Fokus auf den Migrationshintergrund zu kurz greift und dem sozioökonomischen Status der Familie eine höhere Bedeutung zukommt als dem Migrationshintergrund. Hier ist weitere Forschung erforderlich. Interessant wäre hier vor allem eine Längsschnittstudie zu den Auswirkungen von Gesundheitskompetenz auf das Gesundheitsverhalten, die Jugendliche aus allen Schichten einbezieht und mit der Erkenntnisse über Ursachen und Wirkungszusammenhänge gewonnen werden können. Weiter ist eine Erhebung zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund dringend angezeigt, die es ermöglicht, Migrantengruppen im Hinblick auf ihre Herkunftsländer und ihren sozialen Status differenziert zu betrachten, um der Gefahr einer Vereinheitlichung von sozioökonomischen und soziokulturellen Besonderheiten vorzubeugen.

Nicht zuletzt sollte – auch wenn die Forschung zur Gesundheitskompetenz noch in den Anfängen steckt – die begonnene Interventionsentwicklung in den Bereichen Gesundheitsberatung, Gesundheitsinformation und Kommunikation mit Gesundheitsprofessionellen fortgesetzt werden, um eine weitere Verfestigung von Benachteiligung zu vermeiden. Diese Interventionen müssen dabei offenbar weniger als bislang angenommen dem Migrationshintergrund und den soziokulturellen Faktoren Rechnung tragen als vielmehr sozio-ökonomischen Aspekten. Kurz, es sollten vertikale Ungleichheiten wieder stärker in den Blick genommen werden, ohne dabei jedoch die Bedeutung horizontaler Ungleichheiten zu vernachlässigen.