Hintergrund

Health Literacy – hierzulande meist mit Gesundheitskompetenz übersetzt – ist ein seit einigen Jahren besonders im US-amerikanischen Raum viel diskutiertes Thema, das zunehmend auch in Deutschland Beachtung findet. Kern des Konzepts sind Fähigkeiten und Kompetenzen, die gesunde und erkrankte Menschen benötigen, um gesundheitsbezogene Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und sie zur Förderung und Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit nutzen sowie sich im Gesundheitswesen bewegen zu können (ex. [1]). Denn Menschen stehen im Alltag häufig vor der Aufgabe, mit den für sie gesundheitlich relevanten Informationen umgehen zu müssen. Doch nicht alle sind dazu in der Lage, wie internationale Befunde zeigen [2].

Zu den Bevölkerungsgruppen, die häufig in ihrer Health Literacy eingeschränkt sind und somit Schwierigkeiten bei der Suche, dem Lesen, Verstehen und der Verwendung von gesundheitsbezogenen Informationen haben, zählen ältere Menschen, Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status und niedrigem Bildungsniveau, aber auch Menschen mit Migrationshintergrund [25]. Sie und Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen hatten im US-amerikanischen National Assessment of Adult Literacy ein deutlich eingeschränkteres Health-Literacy-Niveau [2, S. 11]. Ähnlich sind die Ergebnisse eines Schweizer Surveys mit 2614 Migranten aus Portugal, der Türkei, Serbien und dem Kosovo. Sie zeigten zudem, dass das funktionale Health- Literacy-Niveau mit dem Herkunftsland, der Bildung, dem Geschlecht und dem Alter der Migranten assoziiert ist [6].

Die internationalen Befunde legen die Vermutung nahe, dass Menschen mit Migrationshintergrund auch in Deutschland zu den Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Health-Literacy-Niveau gehören dürften. Bislang mangelt es aber diesbezüglich an umfangreichen empirischen Daten. So waren beispielsweise Migranten aus Nicht-EU-Ländern in der 2012 erschienenen HLS-EU-Studie (European Health Literacy Survey), an der Nordrhein-Westfalen als einziges deutsches Bundesland teilgenommen hat, ausgeschlossen [5].

Empirisch belegt ist jedoch, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt sind. Studienergebnisse deuten auf eine erhöhte Säuglingssterblichkeit, vermehrte psychische Erkrankungen und eine größere Belastung mit Infektionskrankheiten [7]. Auch der subjektive Gesundheitszustand und die subjektive Gesundheitszufriedenheit liegen deutlich unter der Selbsteinschätzung der deutschen Vergleichsbevölkerung [7]. Dennoch nehmen Menschen mit Migrationshintergrund seltener Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch. Ursachen hierfür sind meist mangelnde Informiertheit und fehlendes Wissen über das deutsche Gesundheitswesen, Misstrauen, Sprachbarrieren und ein anderes Krankheitsverständnis [7]. Aufgrund dieser Barrieren gelten Menschen mit Migrationshintergrund auch als schwer erreichbare Zielgruppe von Gesundheitsleistungen, obgleich sie besonderen Informations-, Beratungs- und Unterstützungsbedarf aufweisen [8].

Um den Zugang zum Gesundheitswesen für sie zu erleichtern, wurden mittlerweile etliche gesundheitsbezogene Initiativen und Projekte ins Leben gerufen, sei es, um Menschen mit Migrationshintergrund an präventive und gesundheitsförderliche Angebote heranzuführen (ex. [9]), auf ihre spezielle soziale und gesundheitliche Problemsituation zu reagieren (ex. [10]) oder um für sie spezielle, kultur- und zielgruppenspezifisch zugeschnittene Unterstützungs- und (Gesundheits-)Beratungsangebote bereitzustellen (ex. [11]). Viele dieser Initiativen haben allerdings Modellstatus und sind damit zeitlich befristet; nur wenige sind auf Dauer gestellt und Teil der Regelversorgung.

Beispiel für Good Practice: Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD)

Auch die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD) hat 2011 ein zielgruppenspezifisches Angebot für Menschen mit Migrationshintergrund konzipiert, das zunächst Modellstatus hatte. Die UPD ist ein Verbund gemeinnütziger Einrichtungen mit unterschiedlichen Trägerschaften, die mit 21 Beratungsstellen bundesweit vertreten sind. Patientinnen und Patienten werden kostenfrei, unabhängig und neutral zu allen Fragen rund um das Thema Gesundheit informiert und beraten. Die Beratung findet vor Ort, telefonisch oder online statt. Alle Beraterinnen und Berater sind geschulte Fachkräfte und vertreten eine der drei Kernkompetenzen: Gesundheit, Psychologie oder Recht.

An fünf ihrer insgesamt 21 Standorte stellt die UPD kostenfreie persönliche und telefonische muttersprachliche Patientenberatung sowie aktive Unterstützung bei der Orientierung im Gesundheitswesen zur Verfügung. Das Angebot adressiert türkisch- und russischsprachige Migranten. Zu den Standorten gehören die Städte Nürnberg, Dortmund, Berlin, Stuttgart und Ludwigshafen (seit 2013). Darüber hinaus wird eine bundesweite Telefonberatung in türkischer und russischer Sprache angeboten. Die Beratung der UPD hat themenunspezifischen Charakter, d. h. die Beratungsstellen fühlen sich für alle gesundheitsrelevanten Fragen und Problemlagen unter kultur- und migrationsspezifischen Aspekten zuständig [12].

Das muttersprachliche Beratungsangebot wurde mit dem Ziel evaluiert, die Erreichbarkeit der anvisierten Zielgruppe zu überprüfen und zu untersuchen, wie sich die zielgruppenspezifischen Besonderheiten und Probleme von Menschen mit türkischem und russischem Migrationshintergrund darstellen, über welche Gesundheitskompetenz (Health Literacy) sie verfügen und wie diese die Nutzung der Beratung determiniert. Die Ergebnisse werden nachfolgend ausschnitthaft dargestellt (ausführlich hierzu [13]). Außerdem werden die Potenziale der Stärkung von Health Literacy von Menschen mit Migrationshintergrund im Rahmen der Patientenberatung diskutiert.

Methode

Die Evaluation erfolgte im Frühjahr 2013 auf der Basis einer Dokumentenanalyse, eines Fokusgruppeninterviews mit den sechs BeraternFootnote 1 der muttersprachlichen Beratungsstellen der UPD, von Einzelinterviews mit weiteren Experten sowie von leitfadenbasierten Interviews mit potenziellen und realen Nutzern des Beratungsangebots (siehe Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht über die Teilnehmer

Der Leitfaden für das Fokusgruppeninterview und die Einzelinterviews konzentrierte sich auf vier Themenschwerpunkte: lebensweltliche und kulturelle Besonderheiten der Zielgruppe, Bedingungen der Erreichbarkeit, Anforderungen an die Beratung, Besonderheiten der Nutzung von Beratung, Erfahrungen und Möglichkeiten der Verbesserung der Beratung.

Das Fokusgruppeninterview mit den sechs Beratern aus den (zum damaligen Zeitpunkt) vier muttersprachlichen Beratungsstellen wurde durch eine der Autorinnen durchgeführt. Es dauerte zwei Stunden und wurde mit Einverständnis der Teilnehmerinnen mit Video aufgezeichnet. Außerdem wurden vom Team kontrastierend, aber auch um die Anonymität der UPD-Berater zu gewährleisten, weitere Experteninterviews mit Beratern aus anderen Bereichen der russisch- sowie auch der türkischsprachigen (Gesundheits-)Beratung in Deutschland geführt. Die Auswahl der Experten erfolgte nach dem Schneeballprinzip. Insgesamt wurden 24 Experten im Alter von 35 bis 65 Jahren befragt. Von den 24 Beratern hatten 15 selbst einen Migrationshintergrund: acht einen türkischen und drei einen russischen.

Der Leitfaden für die Interviews mit den potenziellen und realen Nutzern beinhaltete die Themen Nutzung und Bewertung von Beratungsstellen in der türkisch- bzw. russischsprachigen Community, Inanspruchnahme von Beratung bei gesundheitlichen Problemen und Zugang zu gesundheitsbezogenen Beratungsangeboten und spiegelte damit wichtige Inhalte von Health Literacy.

Mit potenziellen türkisch- und russischsprachigen Nutzern Footnote 2 wurden neun leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Sie waren zwischen 18 und 50 Jahre alt, entstammten unterschiedlichen Generationen und hatten weder eine Beratungsstelle der UPD noch eine in anderer Trägerschaft in Anspruch genommen.

Mit realen Nutzern wurden neun Interviews durchgeführtFootnote 3. Die Nutzer waren zwischen 64 bis 75 Jahre alt und wurden über persönliche Ansprache durch die Berater der regionalen Beratungsstellen (RBS) der UPD in Stuttgart, Nürnberg, Dortmund und Berlin für ein Interview gewonnen. Da die Befragten über ganz Deutschland verteilt leben, erfolgten einige Interviews telefonisch. Alle Interviews wurden von Muttersprachlern durchgeführt, die zuvor geschult worden waren.

Sämtliche Interviews wurden mit Einwilligung der Interviewpartner vollständig transkribiert und außerdem protokolliert. Die Analyse erfolgte in Anlehnung an die Auswertungsstrategie für Leitfadeninterviews von Schmidt [14]. Hierbei wurden die Interviews kodiert, das Datenmaterial inhaltlich strukturiert. Herausgearbeitete Schlagworte wurden anschließend im Sinne einer Validierung diskutiert und zu übergeordneten Themen verdichtet. In einem weiteren Arbeitsschritt wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Aussagen der einzelnen Interviewpartner analysiert, diskutiert und das Datenmaterial neu strukturiert. Diese Vorgehensweise ermöglichte, die verschiedenen Dimensionen eines Themas differenziert darzustellen. In der Ergebnisdarstellung werden die Perspektiven aller interviewten Teilnehmer zusammengeführt.

Ergebnisse

Soziale, lebensweltliche und kulturelle Bedingungen der Nutzer

Die interviewten Experten betonten einhellig, dass unter den in Deutschland lebenden Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund eine große Heterogenität hinsichtlich Herkunft, Alter und Geschlecht besteht. Die vorhandenen Beratungsangebote werden überwiegend von Personen aus dem türkisch- und arabischsprachigen Raum und aus der ehemaligen Sowjetunion in Anspruch genommen. Die Ratsuchenden sind meist Neuzuwanderer, Heiratsmigranten und/oder Menschen, die im Rahmen einer Familienzusammenführung schon vor Jahren nach Deutschland immigriert sind. Die Nutzer von Beratungsstellen sind zudem überwiegend weiblich. Denn Männer – so ein befragter Experte – kommen erst in die Beratungsstellen, „wenn es nicht mehr geht“. Während Männer zum Zeitpunkt der Erstberatung häufig schon so krank sind, dass bei ihnen eher eine Behandlung erforderlich ist als eine Beratung, kommen Frauen früher in die Beratungsstellen, da sie sich für das gesundheitliche Wohl der Familie verantwortlich fühlen.

Die meisten Ratsuchenden gehören zur Altersgruppe der 30-bis 50-Jährigen, entstammen einem eher bildungsfernen Milieu und haben einen niedrigen sozioökonomischen Status. Den Interviewpartnern zufolge ist der niedrige Bildungsstatus Ursache für die eingeschränkte Informiertheit und Autonomie von Menschen mit Migrationshintergrund im Umgang mit versorgungsspezifischen Belangen. Die befragten Experten unterstreichen, dass sowohl türkisch- als auch russischsprachige Ratsuchende sehr zurückhaltend bei der Inanspruchnahme von Unterstützungs- und Beratungsangeboten sind. Sie führen dies auf ihre Lebens- und kulturellen Bedingungen zurück.

Merkmale türkischsprachiger Migranten

Angesprochen auf die besonderen Charaktermerkmale beider Migrantengruppen weisen die Berater darauf, dass bei türkischsprachigen Migranten zwischen verschiedenen Generationen zu unterscheiden ist. Die erste Generation ist „hierhergekommen, um hier zu arbeiten“. Ihr Leben war auf regelmäßiges Arbeiten im „Hier und Jetzt“ ausgerichtet und darauf, die Familie finanziell zu unterstützen. Ihre Möglichkeiten, die deutsche Sprache zu erlernen und sie in allen Lebensbereichen anzuwenden, d. h. Sprach- und Sprechkompetenzen zu erwerben und damit ihr Bildungsniveau zu erhöhen, ist stark eingeschränkt. Einige Berater betonen, dass sich ältere türkischsprachige Migranten häufig noch auf dem Bildungs- und Entwicklungsstand befinden, den sie zum Zeitpunkt besaßen, als sie ihr Land verließen. Dies sehen sie als Ursache dafür, dass der Grad an Informiertheit eher gering ist. Auch die Fähigkeit, sich mit dem deutschen Gesundheitswesen auseinanderzusetzen, ist aus Sicht der Berater nicht sehr ausgeprägt.

Ein befragter türkischsprachiger Ratsuchender ergänzt diese Perspektive und unterstreicht die Bedeutung literaler Fähigkeiten: „Wenn man etwas nicht weiß, es nicht lesen und verstehen kann, wie soll man das auch kennen?“ Plastisch illustriert dieses Zitat, dass die mangelnde Fähigkeit, lesen und verstehen zu können, eine massive Nutzungsbarriere darstellt, zumal sie meist mit mangelndem Wissen über Unterstützungsangebote einhergeht.

Eine weitere wichtige Rolle spielt aus Sicht der Berater der Aspekt, dass die erste Generation ursprünglich nicht in Deutschland bleiben wollte: Ihre eingeschränkten Sprachkenntnisse paarten sich lange Zeit mit der Einstellung, das Land nach Beendigung des Berufslebens wieder zu verlassen und ergo die fremde Sprache nicht erwerben zu müssen und sich – so lässt sich hinzufügen – auch nicht mit dem fremden Gesundheitssystem auseinandersetzen zu müssen. Die Berater gehen davon aus, dass sich diese Einstellung auch auf das Gesundheitsinformationsverhalten negativ ausgewirkt hat.

Ähnlich gelagert ist die Problematik bei der zweiten Generation. Sie ist den Experten zufolge zwar häufig schon in Deutschland aufgewachsen, verfügt jedoch oft über eine schlechte Schulbildung, denn die Kinder wurden „nicht zur Schule geschickt, weil die erste Generation ja mit denen wieder zurückgehen wollte“. Aus Sicht der befragten Experten ist diese Generation weder in der Türkei noch in Deutschland angekommen. Gemeinsam ist den beiden ersten Generationen, dass sie sich kaum mit dem deutschen Gesundheitswesen auseinandergesetzt haben und keine Systemkenntnisse besitzen. Die Experten betonen, dass Gesundheitsfragen im Leben der Migranten insgesamt eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Zudem unterstreichen sie, dass sich das Krankheitsverständnis der ersten und zweiten Generation stark von dem der einheimischen Bevölkerung unterscheidet und sie es gewohnt sind, Krankheitsbilder mithilfe von Bildern und Symbolen (z. B.: „Mein Bauchnabel ist verrutscht“) zu beschreiben. Im deutschen Gesundheitswesen stoßen sie damit oft unterschwellig auf Unverständnis, und dies ist Ursache von Kommunikationsproblemen und auch Meidungstendenzen. Professionelle Akteure sollten daher in der Lage sein, diese „Bilder“ zu verstehen, zu deuten und ihre Kommunikation darauf einzustellen, ein Hinweis, der auch für die Information und Beratung gilt.

Die dritte Generation türkischsprachiger Migranten ist in Deutschland aufgewachsen und sozial weitaus besser integriert. Sie verfügt über die notwendigen Sprachkompetenzen und auch – so die Experten – über eine höhere Gesundheitskompetenz/Health Literacy, was sich u. a. in einer besseren Kenntnis des Gesundheitswesens niederschlägt.

Merkmale russlanddeutscher Spätaussiedler

Die Gruppe der russlanddeutschen Spätaussiedler wird von den befragten Beratern in anderer Weise charakterisiert. Sie gelten als ähnlich zurückhaltende Nutzer von Beratungsangeboten und sind dadurch charakterisiert, dass sie bei Problemen familiale Hilfe in Anspruch nehmen. Das nachfolgende Zitat eines Nutzers bringt dies auf den Punkt: „wenn man zum Arzt geht oder zu ’ner Beratung, das ist ja jemand Fremdes!“. Gesundheitliche Fragen und Probleme werden – so deutet dies an – zunächst innerhalb der Familie geklärt, nicht mit Fremden, wozu auch Ärzte oder Mitarbeiter von Beratungsstellen gehören. Sie gelten als Außenstehende, zu denen kein Vertrauen besteht.

Die befragten Berater weisen zudem auf die Bedeutung kulturbedingter Unterschiede und der anders strukturierten medizinischen und pflegerischen Versorgung in den Herkunftsländern hin (Länder der ehemaligen UdSSR). Russischsprachige Migranten berichten beispielsweise, dass ihnen kostenlose Beratungsangebote aus ihrer Heimat häufig unbekannt sind. Der Zugang zum deutschen Gesundheitswesen ist ihnen daher durch Unkenntnis erschwert. Obwohl russlanddeutsche Spätaussiedler meist deutsch sprechen und verstehen, kennen sie die gesundheitspolitischen und -systemischen Verhältnisse in Deutschland kaum, sodass unklar bleibt, ob sie trotz guter Deutschkenntnisse in der Lage sind, Informationen zu Beratungs- und Unterstützungsangeboten lesen, schreiben und vor allem verstehen zu können.

Hinzu kommt, dass die Nutzung staatlicher Angebote in den Herkunftsländern oftmals mit Ängsten verbunden gewesen ist, da beispielsweise Informationen von behandelnden Ärzten nicht vertraulich gehandhabt wurden. Damit wird ein weiterer wichtiger Aspekt in der Beratungstätigkeit angedeutet, auf den die Berater der UPD-RBS immer wieder hinweisen, wenn sie wiederholt feststellen: „Die Seele von Migranten braucht Vertrauen.“ Dazu gehört der Aufbau einer engen und von Vertrauen geprägten Bindung. Er gilt als Voraussetzung zur Information, Beratung und Förderung der Health Literacy und bedingt, dass die Berater die jeweilige Muttersprache der Ratsuchenden beherrschen.

Beratungssuche und Beratungsanliegen

Oft gelangen die Ratsuchenden nicht auf direktem Weg in die Beratungsstellen. Hinzu kommen Unkenntnis oder Vorbehalte gegen bestehende Angebote. Entsprechend haben Ratsuchende mit Migrationshintergrund meist schon eine ganze Reihe an Instanzen im Versorgungswesen angelaufen (u. a. Krankenkassen und Wohlfahrtsverbände) bevor sie die muttersprachlichen Patientenberatungsstellen aufsuchen, und nicht selten wurden sie dabei von einer Stelle zur nächsten geschickt, ohne dass ihr Problem gelöst wurde. Ein Berater spricht davon, dass „die Leute Glück haben“, wenn sie herausfinden, „dass es eine unabhängige Patientenberatung in ihrer Muttersprache gibt“, und sie dort notwendige Erläuterungen erhalten.

Was sind die Anlässe, um sich auf die Suche nach Beratung zu begeben und Kontakt zur Patientenberatung aufzunehmen? Oft sind es konkrete Probleme, wie unverständlich erscheinende Formulare, die auszufüllen sind, Briefe von Behörden, Bescheide von Ämtern, die auf Unverständnis und Irritation stoßen, Verunsicherung oder auch Angst hervorrufen, und eben auch mangelnde literale Fähigkeiten. Diese Aspekte erschweren es den Menschen, die häufig in Amtssprache geschriebenen Briefe zu lesen und zu verstehen. So berichten die Berater davon, dass oftmals erst konkrete Maßnahmen, z. B. die Kündigung der Mitgliedschaft einer Krankenkasse, dazu führen, dass die Ratsuchenden Bescheide ernst nehmen und eine Beratung aufsuchen. Daneben motivieren akute gesundheitliche Probleme, die einen Arztbesuch nach sich ziehen, die Erkrankten, die Beratungsstellen aufzusuchen. Durch ihre eingeschränkten Health-Literacy-Fähigkeiten – so die Berater – haben sie in der Kommunikation mit dem Arzt häufig nicht verstanden, unter welcher Erkrankung sie leiden und mit welchen Auswirkungen sie einhergeht.

Weil viele Ratsuchenden zunächst von einer Stelle zur nächsten ziehen, bleiben ihre Probleme oft ungelöst und schichten sich immer weiter auf, sodass sie einerseits oft erschöpft sind und andererseits Fristen häufig schon abgelaufen sind, wenn sie in die Beratungsstellen kommen. Selten können ihnen die Berater daher mit nur einem Beratungstermin helfen. Oft benötigen sie mehrere Termine, eher eine Art von Begleitung. Denn meist müssen sie gemeinsam mit dem Ratsuchenden Briefe und Bescheide lesen, sie übersetzen und ggf. Strukturen und Fachtermini erklären. Obwohl die meisten Berater wissen, dass es nicht zu ihren originären Aufgaben gehört, formulieren sie häufig auch die Antwortschreiben für die Migranten, weil für das Vorgehen wichtige Schritte ohne ihre Unterstützung nicht durchgeführt werden. Einige Berater berichten, dass sie letztlich auch zu bearbeitende Listen mit nach Hause geben, um beim nächsten Treffen klären zu können, welche Probleme zwischenzeitlich gelöst werden konnten. In einigen Fällen ist der Bedarf an Unterstützung so hoch, dass aus Sicht der Berater ein begleitendes Fallmanagement/Case Management erforderlich wäre, das von ihnen jedoch nicht geleistet werden kann. In den Interviews wird deutlich, dass die Berater selbst oft hilflos und überfordert sind, weil sie erkennen, mit welchen zum Teil unüberwindbaren Herausforderungen Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer eingeschränkten literalen Fähigkeiten konfrontiert sind.

Die Berater der UPD-Beratungsstellen berichten zudem, dass die Ratsuchenden, wenn sie einmal Vertrauen zu ihnen gefasst haben, „ständig wieder kommen“. Dies wird von den Nutzern bestätigt: „wenn bei mir Fragen hinsichtlich der Gesundheit (…) auftauchen, dann wende ich mich regelmäßig an diese Organisation.“ Wie dieses Zitat eines russlanddeutschen Spätaussiedlers andeutet, wird die Patientenberatung in das persönliche Hilfe- und Informationssystem der Ratsuchenden eingebunden und regelmäßig, häufig auch primär, kontaktiert. Auch türkischsprachige Nutzer suchen die Beratungsstellen regelmäßig auf, wie dieser Ratsuchende erklärt: „Immer wenn ich Sorgen habe, gehe ich dort hin.“ So entlastend diese Art der Nutzung für die Ratsuchenden vermutlich ist, für die Berater ist sie folgenreich, denn sie müssen bei dieser Nutzergruppe immer wieder Zuständigkeiten und auch den gegebenen zeitlichen Rahmen überschreiten, zumal sie oftmals die einzigen Ansprechpartner sind.

Diskussion und Fazit

Insgesamt hat die Evaluation wichtige Erkenntnisse zu Tage gefördert. Um diese zu validieren und zu verdichten, sind weitere Studien erforderlich, die einer quantifizierenden Gewichtung und dem Ausmaß der Problematik größere Beachtung schenken. Auch eine über die UPD hinausgehende Untersuchung von Beratungsstellen, die Menschen mit Migrationshintergrund mit Fragen zu ihrer Gesundheit aufsuchen, wäre wünschenswert.

Dennoch, betrachten wir die Ergebnisse und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen noch einmal summierend, ist zunächst festzuhalten, dass die Nutzer mit dem Beratungsangebot der UPD sehr zufrieden sind und der Ansatz, muttersprachliche Beratung innerhalb eines Regelangebots zu etablieren, auf Akzeptanz bei ihnen stößt. Die rege Inanspruchnahme der persönlichen und telefonischen Beratung legt zugleich nahe, dass die UPD mit ihrem Angebot die anvisierten Zielgruppen erreicht. Darüber hinaus bedarf es aber weiterer Angebote, die sich an diese Zielgruppen richten.

Auch unter Health-Literacy-Aspekten stellen die Beratungsstellen für türkisch- und russischsprachige Migranten eine wichtige Anlaufstelle dar. Über diese erhalten sie Zugang zu gesundheitsbezogener Information und Beratung und Unterstützung bei der Suche und Nutzung für sie relevanter Gesundheitsinformationen. Diese benötigen sie, um die eigene Gesundheit zu erhalten oder ihre Krankheitssituation zu managen und/oder sich im Versorgungswesen zurechtzufinden – ein wesentlicher Aspekt von Health Literacy.

Denn der Zugang zum Gesundheitswesen ist – wie erneut gezeigt wurde – für Menschen mit Migrationshintergrund durch eine Reihe soziokultureller Barrieren erschwert. Dazu gehören – besonders bei den türkischsprachigen Migranten – vielfach unzureichende literale Fähigkeiten, fast immer Sprachprobleme, die zu fehlenden Sprechkompetenzen und einem limitierten Ausdrucksvermögen und eingeschränkter kommunikativer Kompetenz führen. Hinzu kommen Informationsdefizite über das deutsche Gesundheitssystem, seine Instanzen und Angebote, aber auch über die Modalitäten der Nutzung. Sie erschweren, ja behindern die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens – auch die von Beratungsangeboten.

Zugleich haben die zurückliegenden Ausführungen deutlich gemacht, dass die Beratungsstellen noch nicht ausreichend darauf ausgerichtet sind, die Gesundheitskompetenz der Nutzer systematisch zu stärken. Auch wenn die Experten in den Beratungsgesprächen nicht nur Unterstützung bei der Problemlösung anbieten, sondern auch bei der Dekodierung von Informationen/Texten behilflich sind und damit zum Verständnis und auch zur Umsetzung von Informationen beitragen, übernehmen sie diese Tätigkeiten vor allem deshalb, weil sie für Migranten eine wichtige Vertrauensinstanz/Anlaufstelle darstellen und nicht, weil sie die gezielte Förderung von Health-Literacy-Fähigkeiten intendieren.

Die Berater/Beratungsstellen müssen daher – so ein wichtiges Fazit, das auch auf andere Bereiche der Beratung übertragbar ist – befähigt werden, das Thema Health Literacy stärker in den Fokus der Beratung zu stellen und systematischer anzugehen und zu betreiben.

Anders formuliert, zum Kompetenzprofil der Berater sollte nicht allein die Fähigkeit zur muttersprachlichen Beratung gehören, sondern auch die zur Förderung von Health Literacy bei dieser Zielgruppe und ebenso zum Umgang mit den Herausforderungen mangelnder Literalität, so z. B. mit Unsicherheit, Scham- und Peinlichkeitsgefühlen etc. Die Berater sollten zudem mit den soziokulturellen und Lebensbedingungen im Herkunftsland und im Zielland vertraut sein und Verständnis für die Schwierigkeiten von Menschen mit Migrationshintergrund im hiesigen Gesundheitssystem besitzen.

Das ist umso nachhaltiger zu betonen, als – wie eingangs angedeutet – internationale Studien zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund zu den vulnerablen Gruppen gehören, d. h. über eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz verfügen, erhebliche Schwierigkeiten bei der Suche, dem Verständnis und dem Umgang mit gesundheitsbezogenen Informationen haben und als Konsequenz dessen schlechtere gesundheitliche Outcomes zu erwarten sind [15, 16]. Ob sich dies auch für Deutschland so darstellt und über welche Gesundheitskompetenzen hiesige Migranten verfügen, darüber ist bislang noch wenig bekannt. Genauere Erkenntnisse dürfte eine jüngst an der Universität Bielefeld durchgeführte Querschnittstudie zum Health-Literacy-Niveau vulnerabler Gruppen liefern [17, 18]. Die ihr zugrundeliegende Stichprobe von 1000 Personen aus Nordrhein-Westfalen setzt sich zur einen Hälfte aus bildungsfernen Jugendlichen und zur anderen Hälfte aus älteren Menschen über 65 Jahren zusammen. In beiden Gruppen kommt der Befragung von Menschen mit Migrationshintergrund eine besondere Bedeutung zu. Erste Berechnungen lassen erkennen, dass insbesondere bei den älteren Menschen mit Migrationshintergrund das Health-Literacy-Niveau im Vergleich zu den anderen Teilnehmern am niedrigsten ist. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Schwierigkeit, Informationen über hilfreiche Unterstützungsmöglichkeiten bei ungesundem Verhalten wie Rauchen und hohem Alkoholkonsum zu finden: Rund 46 % der 250 Befragten älteren Migranten gaben an, dass das Suchen und Finden adäquater Informationen sehr schwierig oder ziemlich schwierig für sie ist [19].

In einer zweiten Studie, dem HLS-GER (Health Literacy Survey Germany), wird eine für Deutschland repräsentative Befragung von 2000 Bürgern durchgeführt [18, 20]. Die Ergebnisse des Surveys der HLS-GER-Studie werden in Kooperation mit der UPD als Grundlage für die Entwicklung eines Material- und Methodenkoffers zur Unterstützung der Patientenberatung genutzt. Dazu werden unter anderem Informationsmaterialien, Quick-Guides und Checklisten erarbeitet, die die Berater unterstützen und ihre Sensibilität für das Thema Health Literacy stärken. Die Ergebnisse sollen in einem weiteren Schritt auch für andere Beratungsstellen zugänglich gemacht werden.

Von den Erkenntnissen aus den beiden Studien sind weitere wichtige Anregungen für die Entwicklung weiterer zielgruppenspezifischer Interventionen und Projekte zu erwarten, die künftig dazu beitragen, die Health Literacy der Patientenberatung in Deutschland zu stärken.