Pharmakogenetische Diagnostik in der Arzneitherapie

Die pharmakogenetische Diagnostik bietet die Möglichkeit, die Auswahl eines Medikamentes und dessen Dosierung an die individuellen Besonderheiten eines Patienten anzupassen [1]. Medizinisch bedeutsame individuelle Besonderheiten sind aus dem Bereich der Pharmakokinetik (Arzneimitteltransport und Arzneimittelmetabolismus) sehr gut bekannt; sie können z. B. bei gleicher Dosierung zu mehr als 5-fachen Unterschieden in der Exposition gegenüber einem Medikament führen [2]. Ebenso bedeutsame Unterschiede gibt es aber in den Zielstrukturen (Rezeptoren, Signalwege) von Arzneimitteln und im Bereich der Immungenetik [3]. Letztere erklären bereits heute eine ganze Reihe schwerwiegender unerwünschter Reaktionen auf Medikamente [4].

Angeborene Varianten in all diesen Strukturen lassen sich prinzipiell heute innerhalb weniger Stunden mittels einer Genotypisierung aus einer Blutprobe oder – noch weniger invasiv – aus einem Abstrich der Mundschleimhaut ermitteln. Dennoch ist es nicht in jedem Falle sinnvoll, eine Genotypisierung vor oder begleitend zu einer Arzneitherapie durchzuführen, sondern nur bei Therapien mit Medikamenten, die eine enge therapeutische Breite oder ein Risiko für schwere unerwünschte Arzneimittelwirkungen haben, und auch das nur dann, wenn genetische Faktoren wesentlich an der Variabilität der Pharmakokinetik und -dynamik beteiligt sind. Pharmakogenetik ist hier im breiteren Kontext einer individualisierten Therapie zu sehen, in der viele individuelle Besonderheiten beachtet werden, wie z. B. Alter, Körpergewicht, Geschlecht, Nierenfunktion, Begleitmedikationen und nicht zuletzt auch die Ansichten und Wünsche der Patienten. Nicht nur im Bereich der pharmakogenetischen Diagnostik, sondern auch in der Beachtung anderer individueller Besonderheiten gibt es in der klinischen Praxis Verbesserungsbedarf.

Die Ursachen für die geringe Verbreitung des Prinzips der pharmakogenetischen Diagnostik in der gegenwärtigen Medizin sind vielfältig. Zunächst sind die Zusammenhänge oft kompliziert, und das Wissen darüber ist in der Ärzteschaft nicht allgemein verfügbar. Aus diesem Grund illustrieren wir hier zumindest für einen Bereich, nämlich für den Bereich der relevanten pharmakogenetischen Polymorphismen des Arzneistoffmetabolismus, wie eine entsprechend individualisierte Therapie aussehen kann. Ein weiterer Grund für die geringe Verbreitung des Prinzips ist die Tatsache, dass genetische Varianten selten und daher nur für einen kleinen Teil der Patienten von Bedeutung sind. Damit führen wir eine pharmakogenetische Diagnostik bei sehr vielen Patienten „umsonst“ durch, und das Prinzip zahlt sich nur in wenigen Prozent der Fälle aus. Da viele der relevanten pharmakogenetischen Polymorphismen selten sind, bedingt dies, dass randomisierte kontrollierte Studien zum Beleg des Wertes eines derartigen Vorgehens nur sehr schwer verwirklicht werden können. Das Fehlen solcher Studien wird von Kostenträgern gern kritisch im Zusammenhang mit der Kostenerstattung angemerkt. Allerdings fehlen kontrollierte Studien auch in fast allen anderen Bereichen, in denen die Arzneimitteltherapie an individuelle Besonderheiten angepasst wird oder zumindest entsprechend den Arzneimittel-Fachinformationen angepasst werden sollte.

Derzeit werden erst wenige molekulargenetische Tests insbesondere in der Diagnostik oder bei der Auswahl von Medikamenten, deren Wirkung an einen bestimmten Genotyp oder an ein bestimmtes Genexpressionsprofil geknüpft ist, eingesetzt (Tab. 1). Nur wenige dieser gut etablierten und quasi obligatorischen Teste sind im engeren Sinne pharmakogenetische Biomarker. Das gilt für den Test auf den Immunmarker HLA-B*5701 (Risiko schwerer Hypersensitivitätsreaktionen), den Test auf CCR5-Expression (ohne CCR5-Expression ist ein HIV-Virustatikum wirkungslos) und einen Test auf eine bestimmte Mutation bei zystischer Fibrose. Alle weiteren obligatorischen Teste (Tab. 1) messen im Laufe des Lebens erworbene genomische Varianten (Mutationen) oder die Proteinexpression in Tumorzellen. Dabei ist die Therapie nur bei Vorliegen einer Tumor-genetischen Variation oder eines entsprechenden Expressionsmusters Erfolg versprechend. Teilweise werden derartige Testungen, wie z. B. der Test auf Expression des Östrogenrezeptors in Brustkrebszellen, schon seit Jahrzehnten eingesetzt. Insgesamt ist dieses Segment individualisierter Therapie gut etabliert und „evidence based“, d. h. durch Daten aus klinischer Forschung gut belegt. Nichtsdestotrotz gibt es auch hier Bedarf an Qualitätssicherung und klinischer Forschung, zumal insbesondere bei Protein-Expressionsmarkern Cut-off-Werte definiert werden müssen, von deren Über- oder Unterschreiten die Therapie abhängig gemacht wird. Aber auch außerhalb akzeptierter Bereiche kann eine gewisse Aussicht auf Therapieerfolg bestehen. Ein großes Problem bei Tumor-Biomarkern ist zudem ihre räumliche und zeitliche Heterogenität, d. h., ein Biomarker, der in einem Tumor zu einer Zeit messbar ist, kann später bei weiterer Progression des Tumors nicht mehr messbar sein, und ein Marker, der bei primärer Biopsie gut messbar ist, kann sich im Verlauf der Erkrankung in seiner Expression verändern [5]. Dieses Problem existiert bei den angeborenen pharmakogenetischen Biomarkern in der Regel nicht, da sie entweder zu einem kompletten Fehlen der Genaktivität („Null-Allele“) oder zu einem Einfluss auf die Enzymaktivität bzw. -spezifität führen, nicht aber zu unterschiedlicher Genexpression.

Tab. 1 Obligatorische molekulare Tests in der Arzneimitteltherapie

Neben diesen vorwiegend in der onkologischen Therapie eingesetzten obligatorischen Tests (in der Mehrzahl in Tumorzellen) gibt es eine Reihe von medikamentösen Therapien, die in ihrer Wirksamkeit oder Sicherheit maßgeblich von pharmakogenetischen Varianten beeinflusst werden. Für diese erscheinen daher pharmakogenetische Untersuchungen sinnvoll, die teilweise auch bereits erfolgreich durchgeführt oder empfohlen werden [1]. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat eine Methodik zur Ermittlung von Kriterien entwickelt, mit denen überprüft wird, ob ein genetischer Polymorphismus als valider Biomarker für eine Therapie angesehen werden kann [6]. Auf ihrer Website sind alle therapierelevanten validen Biomarker gelistet, die in den US-amerikanischen Fachinformationen zu den einzelnen Wirkstoffen enthalten sind [7]. Tab. 2 gibt hierzu einen Überblick und listet alle Varianten auf, für die zwar keine obligatorische Testung vorgesehen ist, in der Fachinformation (product label) aber ein genetischer Biomarker erwähnt wird, der eine Therapieanpassung erfordern kann.

Tab. 2 Hinweise zur Berücksichtigung genetischer Variation: Empfehlungen aus den US-amerikanischen Arzneimittelinformationen (Drug label)

In allen in Tab. 2 genannten Arzneimittel-Biomarker-Kombinationen und in vielen weiteren Konstellationen kann ein pharmakogenetischer Test wichtig sein, um einem Therapieversagen vorzubeugen, schwere Nebenwirkungen zu vermeiden und die Arzneimitteldosierung individuell zu optimieren. Darüber hinaus können pharmakogenetische Biomarker dazu dienen, individuelle Prädispositionen für Unverträglichkeiten zu erkennen. So ist die Testung von bestimmten HLA-Genvarianten zur Vermeidung schwerer Arzneimittelunverträglichkeiten sinnvoll; z. B. sind teils lebensbedrohliche Hypersensitivitätsreaktionen bekannt nach einer Behandlung mit Antiepileptika (wie Carbamazepin, Phenytoin oder Lamotrigin), mit Antiinfektiva (wie Sulfonamide, Flucloxacillin oder Abacavir), aber auch unter einigen Biologicals in der Krebstherapie. In einigen dieser Fälle können Personen mit hohem Risiko durch Genotypisierung von Leukozytenantigenen recht zuverlässig erkannt werden [8, 9]. Im Falle von Abacavir ist eine Behandlung ohne vorherige Testung medizinisch vielleicht kaum noch zu verantworten, jedoch lässt sich in vielen Fällen ein Test dadurch umgehen, dass auf andere Medikamente zurückgegriffen wird. Auch ist das Risiko für einen erheblichen Leberschadens unter dem Antibiotikum Flucloxacillin bei Trägern bestimmter HLA-Genvarianten – im Vergleich zu den Nichtträgern – um fast das 100-Fache erhöht. Es ist eine ethisch und rechtlich interessante Frage, ob man dies in der gegenwärtigen Arzneitherapie tatsächlich unberücksichtigt lassen darf. Diese wurde von den Autoren, die diesen Zusammenhang identifiziert haben, unter Verweis darauf formuliert, dass nur einer von 500 bis 1000 Menschen, die die Risikovariante tragen, unter der Medikation tatsächlich einen Leberschaden davonträgt [10]. Es bleibt aber natürlich die Frage offen, wo hier die Trenngrenzen sind – wir tragen alle beim Autofahren Sicherheitsgurte, obwohl letztlich nur wenige einmal im Leben wirklich davon profitieren.

Die Testung auf Polymorphismen in Enzymen und Transportproteinen, die für die Pharmakokinetik (Absorption, Verteilung, Metabolismus und Elimination) von Medikamenten verantwortlich sind, kann heute für viele Medikamente empfohlen werden. Dies gilt insbesondere für Arzneistoff-metabolisierende Enzyme wie das Cytochrom-P450 2D6, 2C9, oder 2C19 oder für sog. Phase-II-Enzyme wie die Thiopurin-S-methyltransferase oder UGT1A1, die auf erblicher Basis eine ganz erhebliche Variation von einer komplett fehlenden bis hin zu einer sehr hoher Aktivität zeigen.

Dabei ist die Anwendung der pharmakogenetischen Diagnostik für praktizierende Ärzte nicht einfach, denn es gilt, für jedes Medikament unterschiedliche Faktoren zu beachten. Ein vielfältiges Missverständnis ist, dass es per se den sehr langsamen oder den ultraschnellen Metabolisierer gibt. Es gibt jedoch nur den langsamen oder den ultraschnellen Metabolisierer für jeweils spezifische Medikamente. Und auch die Bedeutung von langsam oder ultraschnell kann sehr variieren: Die meisten Medikamente werden über die Enzyme inaktiviert bzw. die Elimination wird über die Enzyme beschleunigt; in diesem Fall zeigen Medikamente also bei den langsamen Metabolisierern mehr Wirkung und mehr Überdosierungsnebenwirkungen [11]. Es gibt aber auch andere – und gar nicht wenige – Medikamente, die über Enzyme bioaktiviert werden; dann haben also Medikamente bei den langsamen Metabolisierern unzureichende Wirkungen [11]. Und die Sache kann durch die jeweilige Begleitmedikation der Patienten nochmals komplizierter werden. So kann es beispielsweise sein, dass ein ultraschneller Metabolisierer für Substrate des Enzyms CYP2D6 aufgrund einer inhibitorisch wirkenden Komedikation keine erhöhte Enzymaktivität mehr besitzt, sodass er bei einer Dosiserhöhung, die aufgrund seines Genotyps sinnvoll erscheinen würde, tatsächlich überdosiert wäre [12].

Andere Genvarianten in weiteren Enzymen des Arzneistoffmetabolismus können für toxische Reaktionen verantwortlich sein. Das wohl bekannteste Beispiel ist der Mangel an Glukose-6-Phosphatdehydrogenase. Personen mit einem Mangel an diesem Enzym zeigen in den roten Blutzellen einen verminderten Gehalt an reduziertem Glutathion und leiden nach einer Behandlung mit vielen Medikamenten vermehrt unter Hämolyse [13]. Auch viele weitere Polymorphismen im Phase-II-Arzneimittelmetabolismus prädisponieren für toxische Medikamentenwirkungen, so erhöht z. B. der Mangel an N-Azetyltransferase Typ II die toxische Wirkung von Isoniazid [14].

Ob und in welchem Maße eine pharmakogenetische Diagnostik in der praktischen Medizin Anwendung finden wird, hängt davon ab, inwieweit das Ergebnis einer Genotypisierung die Arzneitherapie konkret verbessern kann. Entsprechend dem heute in den meisten Ländern weitgehend akzeptierten Konzept der „evidence based medicine“ hängt dies insbesondere davon ab, ob geeignete Studien zeigen, dass dieses Vorgehen Wirksamkeit oder Sicherheit von Arzneimitteln bei diesen Patientengruppen tatsächlich verbessert, wenn sie Träger bestimmter Genotypen sind. Andererseits wird man den Beleg für den Wert dieses Vorgehens – genau wie in fast allen anderen Bereichen individuell abgestimmter Therapien (Tab. 4) – nicht in Form der gelegentlich allgemein erwarteten kontrollierten Studien erbringen können. Viele genetische Varianten sind relativ selten, sodass sich derartige Studien für die Vielzahl der bekannten Genvarianten mit Bezug auf die große Zahl von Medikamenten kaum realisieren lassen. Selbst wenn man die Studien mit realisierbaren Fallzahlen durchführt, dürften sie eine zu geringe statistische Power haben [11]. Damit soll keine Abkehr vom Prinzip der „evidence based medicine“ proklamiert werden. Jedoch ist seit Langem bekannt, dass Ergebnisse aus kontrollierten klinischen Arzneimittelstudien oft nur auf einen recht kleinen Teil der betroffenen Personen direkt angewandt werden können. Häufig schließen bestehende Besonderheiten mit Blick auf das Alter, die Leber-, Nieren- und Herzfunktion oder auch auf die individuellen Wünsche eine simple Übertragung der Vorgehensweise aus kontrollierten klinischen Arzneimittelstudien auf den einzelnen Patienten aus.

Eine wesentliche Voraussetzung für die praktische Anwendung der Pharmakogenetik ist, dass klare Regeln in der Gestalt von Guidelines entwickelt werden, die aufzeigen, welche therapeutischen Konsequenzen sich aus bestimmten Diagnosen (Genotypen oder Expressionsprofilen) ergeben. Eine Diagnostik, die nicht zu Therapieentscheidungen beiträgt, ist in der praktischen Medizin wertlos und könnte allenfalls wissenschaftlich interessant sein. Das Fehlen klarer Konzepte über die therapeutischen Konsequenzen, die sich aus den Ergebnissen der pharmakogenetischen Diagnostik ergeben, wird als weiterer Grund für ihre bislang geringe Verbreitung in der Medizin gesehen [15]. Pharmakogenetisch basierte Therapieempfehlungen können in Form einfacher Regeln für die Auswahl und Dosierung vorgegebener Medikamente formuliert werden. Die Grundlagen für diese Empfehlungen sollen im Folgenden veranschaulicht werden.

Implementierung pharmakogenetisch basierter Therapieempfehlungen: Dosierungsanpassungen und Therapiealternativen

Für alle pharmakogenetischen Biomarker mit Bedeutung für die Pharmakokinetik bieten sich nach dem Bioäquivalenzprinzip abgeleitete Dosisempfehlungen an, um die erblich bedingten interindividuellen Unterschiede in Blutspiegeln, Flächen unter der Konzentrations-Zeit-Kurve (AUC) oder der Clearance zu kompensieren. In Abb. 1 ist dieses Prinzip am Beispiel der therapeutischen Auswertungen des Cytochrom-P450-2D6-Polymorphismus verdeutlicht. Bei gleicher Dosierung unterscheiden sich die Plasmakonzentrations-Zeitverläufe eines CYP2D6-Substrates bei Individuen mit genetisch bedingten Unterschieden oft um ein Vielfaches (in Abb. 1 in gestrichelten Linien dargestellt). Will man nun möglichst äquivalente Wirkungen bei den Personen erreichen, müssen individuelle Dosierungen gewählt werden: Der langsame Metabolisierer („poor metabolizer“, PM) erhält in dem Beispiel, das wir in Abb. 1 illustrieren, weniger als 50 % der durchschnittlichen Dosis, der ultraschnelle Metabolisierer (UM) erhält in diesem Beispiel das Doppelte der durchschnittlichen Dosis.

Abb. 1
figure 1

Es werden Charakteristika von 4 Patienten mit unterschiedlichem CYP2D6-Phänotyp [PM defizienter Metabolisierer (poor metabolizer); IM intermediärer Metabolisierer (heterozygot), EM Schnell-Metabolisierer (extensive metabolizer) UM Ultraschnell-Metabolisierer] und schematisch der zugrunde liegende Genotyp gezeigt. Eine identische Dosierung für alle 4 Patienten würde zu sehr unterschiedlichen Konzentrations-Zeit-Kurven (gepunktete Linien) und damit zu sehr unterschiedlichen Wirkungen (keine Wirkung bei UM, Gefahr von starken und lange andauernden Nebenwirkungen bei PM) führen. Erst die an den CYP2D6-Genotyp adaptierte Dosierung, die durch Änderung der Einzeldosis und des Dosierungsintervalls erreicht werden kann (die Säulen zeigen die prozentuale Dosisanpassung für den jeweiligen Genotyp), führt zu den für alle Patienten angestrebten vergleichbaren Konzentrationsverläufen (durchgezogene Linien). (Aus: Habilitationsschrift Kirchheiner, Charité Universitätsmedizin Berlin 2004)

Das Ausmaß der Dosisanpassung hängt von den empirisch gefundenen Genotyp-bedingten Unterschieden in der Pharmakokinetik ab. Diese Unterschiede sind in der Regel erheblich, wenn die Elimination nur von einem erblich extrem variablen Enzym wie z. B. dem CYP2D6 abhängt ist (monogener Erbgang), und sind geringer, wenn viele Faktoren an der Absorption, Verteilung, dem Metabolismus und der Elimination (ADME) beteiligt sind. Klinisch relevante Unterschiede in der Größenordnung von mehr als 50 % können in der Regel über Dosierungsanpassungen wie „eine halbe Tablette mehr oder weniger“ berücksichtigt werden, wobei im Falle von Arzneimitteln mit geringer therapeutischer Breite oder linearer Dosis-Wirkungs-Beziehung unter Umständen auch schon geringere pharmakokinetische Unterschiede klinisch bedeutsam sind [16].

Dosisanpassungen können aus den Unterschieden in der Clearance der Arzneistoffe abgebildet werden, die aus Studien zu entnehmen sind, die Plasmaspiegel, Clearance oder Fläche unter der Konzentrationszeitkurve (AUC) für die einzelnen Gruppen der Genotypen angeben. Die in der pharmakogenetischen Forschung oft verwendeten Metabolisierungsquotienten sind für eine direkte Ableitung einer Dosisanpassung ungeeignet, da sie in keinem linearen Zusammenhang mit der individuellen Exposition stehen. Die Tatsache, dass für eine individualisierte Medizin Metabolisierungsquotienten ungeeignet sind, wird auch dadurch anschaulich, dass sich typische Metabolisierungsquotienten zwischen Menschen um das mehr als 1000-Fache unterscheiden können, während sich typischerweise Dosisanpassungen auch bei monogenen Erbgängen mit großer funktioneller Bedeutung nur bei Faktoren zwischen 1,5 und 5 bewegen (Abb. 2). Auch Halbwertzeiten sind in diesem Zusammenhang schlechter geeignet, zumal Halbwertzeiten von Medikamenten ohnehin oft schlecht definierbar sind, sobald wir es mit komplexeren Zwei- oder Mehrkompartmentsituationen zu tun haben. Unterschiede in der Clearance von Arzneimitteln können hierbei durchaus um das 5-Fache zwischen Trägern bestimmter Genotypen variieren (Abb. 2), was leicht erkennen lässt, dass die Gabe ein und derselben Dosis für alle Patienten in solch einem Fall durchaus gefährlich sein kann. Nur bei wenigen Medikamenten wird man wohl behaupten, dass sorglos auch das 5-Fache der üblichen Dosis verabreicht werden könnte. Ohne eine pharmakogenetische Diagnostik sind aber einige Patienten gegenüber den z. B. in Abb. 2 gezeigten Medikamenten täglich unbeabsichtigt erheblich erhöht exponiert.

Abb. 2
figure 2

Unterschiede im Metabolismus von Antidepressiva und Antipsychotika in Abhängigkeit vom Polymorphismus des Leberenzyms CYP2D6, ausgedrückt als Prozent Unterschiede in der Arzneimittelclearance. (Mod. nach [2])

Die systematische Auswertung der Literatur zu Genotyp-basierten Unterschieden in der Arzneimittelclearance wurde bereits in der Vergangenheit für pharmakogenetische Dosisempfehlungen genutzt [1, 2, 17, 18]. In Abb. 2 ist eine aktuelle Analyse der vorhandenen Daten zu CYP2D6- und CYP2C19-vermittelten Unterschieden in der Clearance von Antidepressiva und Antipsychotika dargestellt [2]. Unterschiede in pharmakokinetischen Parametern, die in einzelnen Studien untersucht wurden, sind hier als prozentuale Unterschiede in der Dosierung dieser Medikamente dargestellt. Dabei wurde die vom Hersteller empfohlene Dosis als mittlere Dosis über die Gesamtbevölkerung zugrunde gelegt, und die Anpassungen jeweils für die charakteristischen Geschwindigkeiten im Arzneimittelstoffwechsel, nämlich langsam bzw. defizient, intermediär, schnell oder ultraschnell als Prozent der mittleren Dosierung ausgedrückt. Wir illustrieren dies hier nur für 2 der Enzyme, für die langsam tatsächlich ein komplettes Fehlen jeder Enzymaktivität bedeutet bzw. ultraschnell eine erheblich gegenüber der Normalkonstellation gesteigerte Aktivität. Bei einem anderen, ebenfalls genetisch polymorphen Enzym, CYP2C9, gibt es keine komplette Defizienz und auch keinen ultraschnellen Metabolisierertyp, aber auch dort gibt es 4- bis 5-fache Unterschiede in der Exposition gegenüber vielen wichtigen Medikamenten bei gleicher Dosierung [19].

Evidenzbasierte Guidelines zu pharmakogenetischen Therapieempfehlungen

Angesichts der in Abb. 2 illustrierten sehr erheblichen Unterschiede in der individuellen Exposition der Organe gegenüber Arzneimitteln erscheint zum Schutz des Patienten eine Dosisanpassung nach einer pharmakogenetischer Diagnostik ein wichtiger Weg zu mehr Therapiesicherheit. Die Darstellung in Abb. 2 zeigt, dass Organe wie das Herz, das Hirn, die Leber und die Nieren bei gleicher Dosierung je nach genetischem Hintergrund einer Person bis zum 5-Fachen gegenüber einem Medikamentwirkstoff exponiert sind.

Dennoch ist vielfach trotz des klaren Zusammenhangs zwischen dem Genotyp und der Plasmakonzentration des Wirkstoffes der prädiktive Wert einer Genotypisierung mit Blick auf das Therapieansprechen und/oder auf unerwünschte Nebenwirkungen nur schwach ausgeprägt [20]. Daraus ergibt sich, dass nicht jeder Einzelfall eines Versuches Genotyp-basierter Therapieoptimierung mit einem sichtbaren Erfolg einhergeht oder das individuelle therapeutische Problem überzeugend erklärt. Jedoch sollte uns dies nicht davon abhalten, die Genotypisierung als Instrument für Therapieverbesserungen zu nutzen, da auch kleine Verbesserungen für manche Patienten einen wesentlichen Gewinn darstellen können und in vielen aktuell noch unbefriedigend gelösten Bereichen der Medizin ein therapeutischer Fortschritt ja nicht mehr ist als eine Summe vieler kleiner Verbesserungen.

Das von uns dargestellte Prinzip der Dosisanpassung basierend auf Blutspiegeläquivalenz (Abb. 1) ist jedoch für viele Medikamente mit aktiven Metaboliten nicht anwendbar. Vor dem Hintergrund der erheblichen Unklarheiten über das „Wann und Wie“ einer pharmakogenetischen Dosisanpassung wurde eine Reihe internationaler Initiativen mit dem Ziel ins Leben gerufen, die beste gegenwärtig verfügbare Evidenz zum „Wann und Wie“ einer pharmakogenetischen Arzneimitteldosierung zu erarbeiten, so unter anderem das Pharmacogenomics Research Network, eine Initiative zur Formulierung evidenzbasierter Guidelines für die Anwendung genetischer Tests im Rahmen bestimmter Arzneimitteltherapien [15]. Dieses Konsortium zur klinischen Implementierung von Pharmakogenomik (Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium of the Pharmacogenomics Research Network, CPIC) besteht aus internationalen Experten aus den Bereichen Pharmakogenomik, klinische Pharmakologie, Pharmazie und klinische Chemie und hat sich zum Ziel gesetzt, für Gen-Medikamenten-Paare, bei denen ein erheblicher Einfluss der genetischen Polymorphismen auf die Therapie besteht, eine Evidenzbewertung der Literatur vorzunehmen und Therapieempfehlungen für spezifische Medikamente und Genotypen herauszugeben [15]. Hierbei steht weniger die Frage im Vordergrund, bei welcher Gelegenheit eine pharmakogenetische Testung stattfinden und wie und wo sie durchgeführt werden sollte, als vielmehr die Frage, wie ein bestimmtes pharmakogenetisches Testergebnis in der Behandlung genutzt werden kann.

Es wurden zunächst Prioritäten für die Gene/Medikamente festgelegt, für die systematische Analysen und Bewertungen der Literatur mit dem Ziel vorgenommen werden sollten, Therapieanpassungen zu formulieren. Die erste auf diese Weise erstellte Guideline betraf die Thiopurinmethyltransferase (TPMT) und die Medikamente Azathioprin und 5-Mercaptopurin [21, 22]. Sie enthält eine systematische Zusammenstellung der relevanten Literatur und eine Therapieempfehlung für unterschiedliche TPMT-Genotypen. Unter den üblichen Thiopurin-Dosierungen haben Träger von Genotypen, die zu einer herabgesetzten Aktivität des TPMT-Enzyms führen, ein erhöhtes Risiko für eine Myelosuppression [23]. Daher dient eine Dosisanpassung nach TPMT-Genotyp dazu, die Exposition mit Thiopurinen zu vereinheitlichen und sie bei Langsammetabolisierern durch die Wahl einer niedrigeren Dosis auszugleichen [21].

In Tab. 3 sind die Gen-Medikament-Paare, für die es derzeit evidenzbasierte Therapieempfehlungen gibt bzw. die in Planung oder Arbeit sind, zusammengestellt.

Tab. 3 Therapieempfehlungen des Clinical Pharmacogenetics Implementation Consortium of the Pharmacogenomics Research Network, CPIC

Neben pharmakogenetischen Varianten gibt es eine Vielzahl von weiteren individuellen Besonderheiten, die bei einer individuellen Arzneitherapie zu berücksichtigen sind (Tab. 4). Ebenso wie die individuelle Herz-, Leber- und Nierenfunktion, eine Schwangerschaft oder sehr niedriges oder sehr hohes Alter sind genetische Faktoren im Zusammenspiel mit weiteren individuellen Eigenschaften bei der individuellen Anpassung der Arzneimitteldosierung zu berücksichtigen.

Tab. 4 Parameter für eine individualisierte Medizin und evidenzbasierte Grundlagen

Klinische Praxis bei der Anwendung pharmakogenetischer Diagnostik

In Deutschland werden Testungen zur Individualisierung der Arzneimitteltherapie in den obligatorischen Fällen im Rahmen der onkologischen Therapien in der Regel während der pathologischen Diagnostik ausgeführt und von den Kassen erstattet. Eine weitere pharmakogenetische Diagnostik wird aber auch von labormedizinischen und humangenetischen Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Auch in den Fällen, in denen eine pharmakogenetische Testung für eine Therapieindividualisierung genutzt werden kann, aber nicht angewandt werden muss, können die Kosten in Einzelfällen von den Kassen übernommen werden; die diesbezüglichen Voraussetzungen und der Erstattungsumfang müssen aber für den einzelnen Patienten immer abgeklärt werden. Pharmakogenetische Testungen zum Arzneistoffwechsel (wie z. B. auf CYP2D6-, CYP2C9-, TPMT-, UGT1A1-Varianten usw.) werden von einigen klinisch-chemischen oder humangenetischen Laboren durchgeführt, die die entsprechenden Datenschutz- und Qualitätssicherungsmaßnahmen für die humangenetische Diagnostik entsprechend dem Gendiagnostikgesetz sicherstellen können. In der Regel erhalten die anfordernden Ärzte oder auch die Patienten selbst eine detaillierte Mitteilung des Ergebnisses – oft auch mit einer gewissen Beratung darüber, wie ihre persönliche Arzneimitteltherapie mit Blick auf den vorliegenden Genotyp angepasst werden muss. Allerdings besteht hier nach unserer Einschätzung noch viel Bedarf nach einer Standardisierung. Für die pharmakogenetische Diagnostik gelten die Bestimmungen des Gendiagnostikgesetzes, also – verglichen mit anderen labordiagnostischen Untersuchungen – erhöhte Anforderungen an die Patienteninformation, Beratung, Einwilligung und den Datenschutz.

In den gängigen Therapieleitlinien wird auf pharmakogenetische Testungen nicht oder nicht sehr genau eingegangen. Konkrete Hinweise zur Individualisierung der Therapie anhand der Patientenbesonderheiten werden in den meisten gegenwärtig vorliegenden Therapieleitlinien nicht gegeben.

Es gibt erhebliche ethnische Unterschiede mit Blick auf die Häufigkeit pharmakogenetisch relevanter Genvarianten [24]. Bei der pharmakogenetischen Diagnostik, die auf dem molekulargenetischen Genotyp basiert, muss folglich die ethnische Herkunft berücksichtigt werden, oder es muss – wenn diese unklar ist oder danach nicht gefragt werden soll – auf alle wesentlichen, weltweit relevanten Genvarianten des jeweils interessierenden Proteins getestet werden. Grundsätzlich ist dies bei der hohen und stets steigenden Leistungsfähigkeit der Gendiagnostiktechnologien gut leistbar. Es müssen alle häufigen, weltweit relevanten Allele, die mit einem Funktionsverlust oder einer besonderen Funktionsveränderung der betreffenden Gene einhergehen, getestet werden. So misst z. B. schon ein bereits vor einigen Jahren eingeführtes Diagnostikum (Amplichip CYP450) nicht nur die typischen CYP2D6-Allele, die bei Europäern auftreten, sondern auch einige, die bei Asiaten oder Afrikanern relevant sind. Jedoch wird nie eine 100 %ige Spezifität und Sensitivität zur Prädiktion des auf dem Genotyp basierenden Phänotyps möglich sein, da es viele weitere nichterbliche Einflussfaktoren gibt und auch – in der Summe durchaus viele – sehr seltene und sogar singuläre Genvarianten vorkommen [25]. Und schließlich sind zwar wichtige Genotyp-Phänotyp-Korrelationen für die weltweit häufigen ethnischen Gruppen gut untersucht, aber noch längst nicht für alle. Für die Praxis bedeutet dies zweierlei: zum einen, dass wir die Patienten auch nach einer auf dem Genotyp beruhenden Auswahl und Dosierung von Medikamenten gut hinsichtlich der Wirkungen und Nebenwirkungen beobachten müssen (was aber ohnehin selbstverständlich sein dürfte). Und zum anderen, dass Ärzte und diagnostische Labore bei der Genotypisierung und bei Genotyp-basierten Therapieempfehlungen die ethnische Herkunft berücksichtigen müssen, da in unterschiedlichen ethnischen Gruppen unterschiedliche Allele relevant sind.

Genetische Faktoren sind nur eine von vielen Einflussgrößen auf die individuellen Unterschiede bei der Arzneimittelwirkung. Von Bedeutung sind hier auch das Alter des Patienten, das Gewicht und Geschlecht, aber auch Krankheit (insbesondere Leber-, Nieren-, Herzerkrankungen) oder eine Schwangerschaft (Tab. 4). Zusätzlich können auch der Lebensstil, der Konsum von Genussmitteln wie Zigaretten und Alkohol sowie die Ernährung zu Veränderungen des Arzneimittelstoffwechsels und der Arzneimittelwirkung führen. Nahrungsbestandteile, wie z. B. im Grapefruitsaft enthaltene Stoffe, können die Elimination von Arzneimitteln erheblich beeinflussen [26]. Arzneimittelwechselwirkungen müssen berücksichtigt werden, aber auch Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln und Nahrungsstoffen [27]. Interessant wird zukünftig auch sein, ob durch die molekulare Diagnostik epigenetischer Faktoren eine verbesserte Individualisierung der Therapie möglich sein wird. Es gibt bereits erste Hinweise darauf, dass epigenetische Faktoren hier eine Rolle spielen könnten [28, 29, 30], aber eine praktische Anwendung in der Medizin ist gegenwärtig noch reine Zukunftsmusik.

Sehr wichtig für den Erfolg einer Arzneitherapie ist auch die Berücksichtigung der individuellen Wünsche und Einstellungen der Patienten: Insbesondere werden psychiatrische Pharmakotherapeutika nicht wie verordnet eingenommen [31]. Die auf einer pharmakogenetischen Diagnostik beruhenden Dosierungsempfehlungen sind daher nur eine Möglichkeit zur Individualisierung der Arzneitherapie. Allen diesen Möglichkeiten gemeinsam ist, dass bei ihnen noch ein erhebliches Potenzial verborgen ist, um die Arzneitherapie sicherer und verträglicher zu machen.