Zusammenfassung
Demografischer Wandel, medizinischer Fortschritt und Versorgungsinnovationen verändern auch in der Pflege die beruflichen Qualifikationserfordernisse. Deren künftige Trends frühzeitig zu ermitteln war Ziel einer Delphi-Studie im Rahmen der FreQueNz – Initiative des BMBF. Qualitativen Experteninterviews folgte eine dreistufige Erhebung mit 243 Befragten in der zentralen zweiten Delphi-Welle. Aus Expertensicht wird in der ambulanten Versorgung Älterer eine Ausdifferenzierung der Unterstützungs- und Beratungsangebote sowie der Palliativversorgung erfolgen, die in beträchtlichem Umfang den Ausbau spezieller Qualifikationen (z. B. Intensivpflege) erfordern. Daneben steigt der Bedarf an interprofessionell, intersektoral und interkulturell ausgerichteten Koordinations- und Kommunikationskompetenzen. In der ambulanten und stationären Versorgung werden sich – unter anderem durch Übertragung ärztlicher Tätigkeiten – neue Aufgaben für Fachkräfte ergeben, z. B. in den Bereichen Assessment, Diagnostik, Therapie und Patientenschulung. Diese erfordern verstärkt Qualifikationsanpassungen wie auch die Fähigkeit zu Evidenzbasierung und Leitlinienorientierung. Folglich wird sich das System pflegerischer Berufe durch Fort-, Weiterbildung und Akademisierung weiter ausdifferenzieren.
Abstract
Demographic change, advances in medicine, and innovative health care services are leading to changes in the professional qualification requirements for nursing and care staff. Detecting future trends in relation to these requirements was the focus of a Delphi study developed as part of the BMBF FreQueNz initiative. After qualitative expert interviews, data collection was organized in three consecutive steps, with 243 interviews realized in the second wave. It was found that home care will further diversify in the fields of supporting and counseling services as well as in palliative care, resulting in the necessary expansion of specific qualifications (e.g., intensive care). Moreover, there will be an increased need for interprofessional, intersectoral, and intercultural coordination and communication skills. As a consequence of the delegation of medical tasks, new duties for nonmedical professions in inpatient and outpatient care will also arise. For instance, qualifications need to be tailored to the new demands of assessment, diagnostics, therapy, and patient education and they should take into account evidence-based knowledge as well as clinical practice guidelines. Consequently, the system of care professionals will further diversify through advanced training programs and the continued academization of nursing.
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Hintergrund
Im Zuge des demografischen, technologischen und ökonomischen Wandels sind Veränderungen bei den institutionellen Leistungsangeboten im Gesundheitssystem zu erwarten, die auch die beruflichen Anforderungen bzw. Tätigkeiten der Beschäftigten auf der mittleren QualifikationsebeneFootnote 1 verändern. Dies für die nächsten 5 bzw. 10 Jahre einzuschätzen war Gegenstand einer im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) von 2010 bis 2011 durchgeführten Studie unter dem Dach der BMBF-Initiative „Früherkennung von Qualifikationserfordernissen im Netz“ (FreQueNz) [1]. Der Forschungsauftrag erstreckte sich auf die Identifizierung der Tätigkeitsfelder und Aufgaben, in denen neue bzw. erweiterte Qualifikationserfordernisse zu erwarten sind, nicht aber auf die Ermittlung konkreter Ausbildungsinhalte.
Neue berufliche Herausforderungen resultieren aus übergeordneten sozialen Wandlungsprozessen und deren Auswirkungen auf berufliche Problemstellungen und Handlungsfelder. Die Früherkennung von Qualifikationen geht somit von Vorannahmen über zentrale gesellschaftliche und gesundheitssystemspezifische Veränderungen aus. Für das Handlungsfeld Pflege ist zunächst auf die Bevölkerungsentwicklung und ihre Folgewirkungen zu verweisen. Infolge der demografischen Alterung ist mit einer Zunahme altersassoziierter und insbesondere neurodegenerativer Erkrankungen zu rechnen, die auf Nachfrageseite zu einem steigenden Pflegebedarf [2, 3], einer stärker ausgeprägten Pflegebedürftigkeit [4] sowie zu veränderten Bedarfskonstellationen führen [5] und auf Angebotsseite einen zunehmenden Personalmangel nach sich ziehen [6, 7].
Gleichzeitig erschweren berufliche Belastungen, die Forderung nach räumlicher und zeitlicher Flexibilität und das fortgeschrittene Alter vieler pflegender Angehörigen die häusliche Versorgung der Betroffenen [8]. Ziel neuerer Politikansätze ist es daher, die ambulante Versorgungslandschaft stärker zu vernetzen und den Betroffenen und ihren Angehörigen die notwendige Information und Vermittlung zukommen zu lassen, um die häusliche Pflege mit konstant bleibender Qualität zu gewährleisten und mit anderen Leistungsanbietern abzustimmen [9]. Zur übergreifenden Koordination des Versorgungsgeschehens und der beteiligten Akteure werden der Pflege zunehmend Case-Management-Funktionen zugeschrieben [10, 11]. Diese gewinnen auch jenseits der ambulanten Versorgung an Bedeutung. Die traditionell starke Trennung der Versorgungssektoren wird als Quell einer kostenträchtigen Fehlkoordination angesehen, die durch eine desegmentierende Neuorganisation zentraler Handlungsabläufe behoben werden soll [3]. Eine bessere Vernetzung der Leistungsbereiche, Evidenzbasierung im Versorgungshandeln und stärkere interdisziplinäre Kooperationen werden generell als wichtige Stellschrauben aktueller und zukünftiger Anpassungsleistungen betrachtet [12].
Zentral für die Pflegeberufe, aber auch für andere Berufsgruppen wie Medizinische Fachangestellte ist zudem die angestrebte Neuordnung von Aufgaben (Delegation), die zu einer Entlastung der Ärzteschaft und zu einer stärkeren Verzahnung von Handlungsabläufen führen soll [13, 14, 15, 16]. In strukturschwachen Regionen mit ärztlicher Unterversorgung erhofft man sich hiervon eine verbesserte flächendeckende Primärversorgung unter der Beteiligung nichtärztlicher Berufsgruppen [15, 16, 17]. Im Krankenhaus werden eine mögliche Entlastung der Ärzteschaft von Dokumentation und Kodierung sowie Assistenzleistungen im OP sowie in Diagnostik und Therapie als mögliche Delegationsfelder diskutiert [18, 19, 20, 21]. Da sich die starre Trennung zwischen den Berufen zunehmend auflöst, wird die Zusammenarbeit in multiprofessionellen und interdisziplinär ausgebildeten Teams als zukunftsweisendes Kooperationsmodell angesehen [12, 22].
Generell unterliegen viele Veränderungen in der gesundheitlichen Versorgung ökonomischen Beschränkungen. So hat über die Einführung diagnosebezogener Fallgruppen im Krankenhaus (G-DRG-System) sowie der Regelvolumina in der ambulanten Versorgung eine starke Pauschalierung der Vergütung von Leistungen stattgefunden, die ökonomische Abwägungen stärker im Handeln der beteiligten Berufsgruppen verankert. Viele der beschriebenen Entwicklungstrends stellen sich für die Gesundheitsfachberufe daher als extrinsische Faktoren von Veränderungen ihres Arbeitsalltags dar, die mit einer spürbaren Arbeitsverdichtung einhergehen [23, 24, 25, 26]. Damit neue Anforderungen nicht ausschließlich als Belastung angesehen werden, ist es notwendig, diese frühzeitig zu identifizieren und systematisch in den Grundlagen von Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verankern. Anknüpfend an das Forschungsziel des FreQueNz-Netzwerks lässt sich also fragen, welche konkreten Entwicklungstendenzen sich im Handlungsfeld Pflege und hier besonders in den Bereichen häusliche Versorgung und Neuordnung von Aufgaben (Delegation) abzeichnen und wie sich Anforderungsprofile und Qualifikationen in der Folge verändern werden.
Methode
In der Qualifikationsforschung werden zur Exploration künftiger Qualifikationserfordernisse verschiedene, häufig qualitative Methoden eingesetzt [27]. Die Delphi-Technik ermöglicht demgegenüber einen stark strukturierten Kommunikations- und Reflexionsprozess auf Basis größerer Stichproben, um so das Feld der vorhandenen Expertise möglichst breit und systematisch zu erfassen [28]. Dabei wird davon ausgegangen, dass Experten über das nötige Fach- und Systemwissen verfügen, um zukünftige Entwicklungen in ihren Konsequenzen bewerten zu können [29]. Auf diese Weise sollen Trendqualifikationen ermittelt werden, in deren Bereich eine weitere Ausdifferenzierung von Ausbildungsinhalten zu erwarten ist [30].
Um die Vielfalt relevanter Perspektiven einbeziehen zu können, wurde das Forschungsfeld auf die gesamte Gesundheitswirtschaft erweitert, und neben dem Gesundheitssystem als solchem wurden auch angrenzende Bereiche wie Fitness, Wellness oder Medizintechnik einbezogen [31]. Aufbauend auf dem Stand der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Debatten sowie explorativen qualitativen Interviews mit Multiplikatoren aus zentralen Institutionen der Gesundheitswirtschaft wurde ein dreistufiger Delphi-Prozess konzipiert. Dieser bestand aus einer offenen und einer standardisierten quantitativen schriftlichen Befragung sowie abschließend bewertenden Expertenworkshops. Hauptinformationsquelle stellt die zweite standardisierte Delphi-Welle dar. Literaturanalyse, qualitative Experteninterviews und erste Delphi-Welle dienten der Entwicklungsarbeit und führten zu einer Verdichtung der bis hierhin gewonnenen Informationen in 6 Szenarien. Jedes Szenario spiegelt zentrale Entwicklungstrends innerhalb der Gesundheitswirtschaft wider, von denen Auswirkungen auf die Tätigkeit der betroffenen Berufsgruppen zu erwarten sind. Für das Berufsfeld Pflege sind in erster Linie 2 Szenarien relevant. Das erste Szenario zielt auf die Konsequenzen der demografischen Alterung für die wohnortnahe Versorgung, das zweite auf mögliche Strukturänderungen in der Leistungserbringung durch Neuverteilung von Tätigkeiten ab (Tab. 1).
Bezogen auf eine kurze Darstellung des jeweiligen Szenarios sollten die Befragten in der entscheidenden zweiten Delphi-Welle hemmende und fördernde Faktoren der nachgezeichneten Entwicklung bewerten (Antwortvorgaben: stimme voll und ganz zu, stimme eher zu, stimme eher nicht zu, stimme überhaupt nicht zu), die Realisierungschance der jeweiligen Subdimensionen abschätzen (Antwortvorgaben: sehr wahrscheinlich, eher wahrscheinlich, eher unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich) und angeben, in welchem Zeitraum aus ihrer Sicht eine nennenswerte Umsetzung zu erwarten wäre (Antwortvorgaben: bis in 5 Jahren, 5 bis 10 Jahren, über 10 Jahren). Nachfolgend sollte, eine Realisierung vorausgesetzt, eingeschätzt werden, ob mit dem Szenario verbundene Tätigkeiten und Anforderungen eine größere Bedeutung erlangen als bisher [Antwortvorgaben: stimme (eher) zu bzw. stimme (eher) nicht zu] und ob sich daraus zusätzliche oder veränderte Qualifikationen (Qualifikationserfordernisse) ergeben (Antwortvorgaben: ja, nein, kann/möchte ich nicht beurteilen). Die 2 Variablen Tätigkeiten und Anforderungen sowie Qualifikationserfordernisse werden im Folgenden zu 4 Ausprägungen zusammengefasst (stimme nicht zu, stimme zu – mit den 3 Varianten: neue Qualifikationen erforderlich, keine neuen Qualifikationen erforderlich, weiß nicht, ob neue Qualifikationen erforderlichFootnote 2).
Der folgende Ergebnisteil fokussiert sich auf die Realisierungschancen der Szenarien und die Beschreibung resultierender Tätigkeiten und Anforderungen und damit verbundener Qualifikationserfordernisse.
Wie häufig bei Delphi-Befragungen wurde eine bewusste Stichprobenauswahl vorgenommen [29, 32], mit der alle relevanten Bereiche der Gesundheitswirtschaft abgedeckt werden sollten. Repräsentativität im statistischen Sinne war nicht intendiert, vielmehr sollte eine ausreichende Fallzahl im dreistelligen Bereich realisiert werden. Aufgrund schwankender Rücklaufquoten bei Delphi-Erhebungen wurde die Ausgangsstichprobe der ersten Delphi-Welle mit 1508 Personen der normativen, strategischen und operativen Ebene der verschiedenen Teilbereiche stark überzogen. Auch der Rücklauf der zweiten Delphi-Welle verteilte sich über alle Gruppen der Ausgangsstichprobe (Tab. 2). Nach Bereinigung der Ausgangsstichprobe ergab sich für die zweite Delphi-Welle eine Nettostichprobe von 1314 Befragten. In der Feldphase gab es einen Rücklauf von 243 Fragebögen (18,5 %) [1].
Ergebnisse
Szenario 1: Neue Dienste und Dienstleistungen zur Betreuung und Versorgung älterer und hochbetagter Menschen im häuslichen Bereich und im Wohnumfeld
Das erste Szenario geht davon aus, dass es künftig zu einem Ausbau wohnortnaher Versorgungsformen und zu einem steigenden Anteil ambulant gepflegter Pflegebedürftiger kommt (Tab. 1). Um eine solche Versorgung zu stärken, sind in den vergangenen Jahren Strategien und Maßnahmen konzipiert und umgesetzt worden, die das Szenario weiter spezifizieren. Ansätze wie betreutes Wohnen (besonders für Demenzkranke), ambulante Palliation oder Pflegeberatung werden nach Ansicht von mindestens zwei Drittel der Experten künftig merklich an Bedeutung gewinnen. Zurückhaltender wird dagegen vor dem Hintergrund mangelnden politischen Willens und begrenzter Ressourcen die Entwicklungsperspektive von Mehrgenerationenhäusern und einem umfassenden Quartiersmanagement eingeschätzt. Der Zeithorizont für einen erkennbaren Ausbau wird insgesamt eher mittelfristig, d. h. in frühestens 5 bis 10 Jahren, gesehen. Nur bei ambulanter Palliation und Pflegeberatung wird ein deutlicher Ausbau in den nächsten 5 Jahren erwartet (Abb. 1).
Vorausgesetzt, dass es künftig zu einem nennenswerten Ausbau ambulanter Versorgungsstrukturen kommt, würden in den Gesundheitsfachberufen eine Reihe von Tätigkeiten und Anforderungen eine größere Bedeutung erhalten und sich neue Qualifikationserfordernisse abzeichnen (Abb. 2, Abb. 3). Das Feld der Versorgung älterer, zumeist gesundheitlich beeinträchtigter Menschen im Wohnumfeld ist durch Schnittstellenproblematik mit hohen Koordinations- und Kommunikationsanforderungen gekennzeichnet. Das Item „In der ambulanten Versorgung steigt der Bedarf an Fachkräften, die verschiedene Leistungserbringer koordinieren und so den Pflege- und Behandlungsprozess besser steuern“ (Abb. 2; Item 1) findet mit 93 % die Zustimmung fast aller Befragten. Dabei halten 85 % aller Befragten diesbezüglich zusätzliche oder veränderte Qualifikationen für erforderlich.
Zur Aufrechterhaltung des häuslichen Pflegealltags ist der wohnortnahe Zugang zu Versorgungsleistungen entscheidend. Für Pflegebedürftige und pflegende Angehörige besteht ein großer Bedarf an gezielter Beratung, die – bei optimaler Nutzung des regional verfügbaren Angebots – alle Unterstützungsmöglichkeiten ausschöpft und diese passgenau zur individuellen Situation bündelt. Der Aussage „Fachkräfte müssen zunehmend in der Lage sein, individuelle Versorgungspläne zu erstellen und ihre Klientel zu wohnortnahen Versorgungsangeboten zu beraten (3)“ stimmen 88 % der Befragten zu, wobei 70 % neue Qualifikationsanforderungen für erforderlich halten. „Fachkräfte müssen mit wohnortnahen Angeboten in den Bereichen Gesundheitsförderung und Prävention für ältere Menschen im Detail vertraut sein (7)“ meinen 81 %, wobei die Notwendigkeit von Neuqualifizierung hier lediglich von 52 % gesehen wird.
Die Umsetzung von Konzepten einer alten-, insbesondere demenzgerechten Umwelt hat zumindest 2 Aspekte: eine die Orientierungsmöglichkeiten verbessernde Gestaltung des öffentlichen Raums und Aufklärung der Bevölkerung mit dem Ziel der Inklusion der Demenzkranken. Damit stellen sich den in diesem Bereich Tätigen neue gestalterische und edukatorische Aufgaben. Die Aussage „Fachkräfte müssen ihren Beitrag leisten können, um Wohnviertel oder Gemeinden ‚demenzfreundlich‘ zu gestalten, damit der Umgang mit Demenz selbstverständlicher wird, als er es heute ist (9)“ bestätigen 60 % der Befragten, wobei 48 % neuen Qualifikationsbedarf sehen. Die Pflege von älteren, insbesondere Demenzkranken, stellt pflegende Angehörige vor eine Fülle von Problemen, die sie ohne professionelle Unterstützung kaum lösen können. Auch Freiwillige, die sich in der Betreuung engagieren, benötigen Beratung und Anleitung. Das Item „Fachkräfte müssen Angehörige und ehrenamtlich engagierte Personen in allen mit der Pflege und Betreuung zusammenhängenden Fragen anlernen und anleiten können (2)“ erhält mit 92 % die zweithöchste Zustimmung in diesem Itemblock. 75 % sehen hier das Erfordernis neuer Qualifikationen. Dass Fachkräfte imstande sein müssen, mit Gewalt in der Pflege umzugehen und bei der Lösung zugrunde liegender Konflikte zu helfen oder Hilfe zu vermitteln (4), meinen 87 %, wobei hier 74 % der Befragten die derzeitigen Qualifikationen nicht als ausreichend erachten.
Zum Kompetenzbereich der Koordination von Leistungen und der Beratung Betroffener komplementär ist die Kompetenz für interdisziplinären Austausch. Dem Item „Im multiprofessionellen Team muss die Fachkraft über gute Kenntnisse zu den Kompetenzbereichen anderer Berufsgruppen verfügen, um so einen interdisziplinären Austausch pflegen und moderieren zu können (6)“ stimmen denn auch 84 % der Befragten zu, wobei 65 % einschlägigen Qualifikationsbedarf sehen.
Der in den letzten Jahren in der Pflege angewachsene Dokumentationsaufwand bindet einen beträchtlichen Teil der Arbeitszeit des Pflegepersonals zulasten der persönlichen Zuwendung. Hier könnten neue Formen der elektronischen Dokumentation eine wesentliche Entlastung herbeiführen. Die Fachkraft muss ihr Handeln – mehr noch als heute – elektronisch dokumentieren können, damit alle beteiligten Berufsgruppen in die Lage versetzt werden, den Versorgungsprozess nachzuvollziehen (8), meinen 80 % der Befragten, Qualifikationsbedarf sehen 63 %. Dass ambulant tätige Fachkräfte mit Medizintechnik nicht nur umgehen können, sondern auch in der Lage sein müssen, einfache Wartungsarbeiten durchzuführen (10), wird lediglich von 50 % der Befragten befürwortet, wobei insbesondere Vertreter des Pflegesektors hier widersprechen.
Das Leben im häuslichen Bereich zu vollenden setzt entsprechende ambulante Palliativangebote und Mitarbeiter mit den notwendigen Kompetenzen voraus. Ambulant tätige Fachkräfte müssen zunehmend in der psychosozialen Unterstützung sterbender Patienten mitwirken. Sie müssen im kommunikativen Umgang mit Sterbenden und deren Angehörigen geschult sein (5), meinen 86 % der Befragten, wobei 77 % weiteren Qualifizierungsbedarf wahrnehmen.
Zur Stärkung des ambulanten Sektors sehen die Experten für eine Reihe von Anforderungen zunehmenden Fachkräftebedarf. Um stationäre Pflege verhindern oder den Zustand ihrer Klientel generell bessern zu können, besteht künftig ein höherer Bedarf an Fachkräften, die spezielle Kenntnisse in folgenden Bereichen aufweisen (Abb. 3; Item 1), meinen 91 % in Hinblick auf aktivierende Pflege, 84 % in Hinblick auf Palliation und 83 % in Hinblick auf ambulante Rehabilitation, wobei 62 % bzw. 76 und 65 % neue oder erweiterte Qualifikationen als erforderlich ansehen. Um eine intensivmedizinische Betreuung ambulant sicherzustellen, muss ein Teil der ambulant tätigen Fachkräfte zunehmend auch spezialisierte intensiv-pflegerische Kompetenzen mitbringen (2), sagen in Bezug auf Schmerzversorgung 86 %, auf künstliche Ernährung 79 % und auf Beatmungspflege 76 %; erweiterter Qualifikationsbedarf wird von 77 %, 60 % bzw. 65 % konstatiert.
In der ambulanten Versorgung werden viele Fachkräfte künftig noch stärker auf einzelne Patientengruppen eingehen müssen, um deren spezifische Bedürfnisse adäquat zu berücksichtigen (3). 91 % der Befragten bejahen dies für die Demenzkranken, wobei 74 % der Befragten die derzeitigen Qualifikationen als nicht ausreichend erachten (3). Mit 85 % steht die Multimorbidität, für deren ambulante Versorgung immerhin noch 60 % erweiterte Qualifikationen einfordern, in diesem Zusammenhang an zweiter Stelle. Auch die Orientierung der ambulanten Versorgung auf Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderungen ist aus der Sicht von ca. drei Viertel der Befragten künftig zu verstärken, wobei 60 % bzw. 51 % eine Qualifikationsanpassung für notwendig halten.
Szenario 2: Neue Aufgaben für die Fachkräfte in der ambulanten und stationären Versorgung
Gefördert durch neue Technologien in Diagnostik und Therapie und getrieben durch den Kostendruck im Gesundheitssystem, durch die wachsende Zahl von älteren Patienten mit chronischen Erkrankungen sowie durch zunehmende Unterversorgung im ländlichen Raum werden sich künftig neue Aufgaben für Fachkräfte im stationären und ambulanten Bereich ergeben (Tab. 1). Als Hemmnis dieser Entwicklung sehen fast zwei Drittel der Befragten jedoch die (standes)rechtlich fixierte dominierende Stellung des Arztes.
Insgesamt zeichnen sich mehrere, das Szenario spezifizierende Tendenzen ab. Über 80 % der Befragten halten es für wahrscheinlich, dass deutlich mehr medizinische und pflegerische Leistungen in den ambulanten Sektor verlagert werden. Eine große Mehrheit der betreffenden Experten sieht diese Entwicklung bereits für die nächsten 5 Jahre. 70 bis 80 % der Befragten rechnen entsprechend mit einem deutlichen Ausbau der Handlungsspielräume für nichtärztliches Personal und der Übernahme ärztlicher Tätigkeiten durch ambulantes Fachpersonal. Allerdings veranschlagt die Mehrheit der betreffenden Befragten für diese Entwicklung mehr als 5 Jahre. Abgesehen von der Dialyse hält dagegen nur eine Minderheit der Experten in Bereichen wie Geburtshilfe, Onkologie oder Anästhesie eine stärkere Delegation von Aufgaben im stationären Sektor für wahrscheinlich (Abb. 1).
Vorausgesetzt, dass künftig in nennenswertem Umfang eine Übernahme neuer Aufgaben stattfindet, würde in den Gesundheitsfachberufen eine Reihe von Tätigkeiten und Anforderungen eine größere Bedeutung erhalten als bisher, andere würden gänzlich neu hinzukommen (Abb. 4). Dabei geht es zunächst um die Erweiterung der Fachkompetenz von Pflegekräften im ambulanten wie auch im klinischen Bereich und darüber hinaus um eine Erhöhung des Professionsniveaus, etwa im Kontext von Leistungskoordination, Interdisziplinarität oder Klientenberatung. Auch die Fähigkeit, leitlinienorientiert zu handeln, wird für Fachkräfte der mittleren Ebene relevant.
Im Falle einer entsprechenden Delegation von Aufgaben müssen Fachkräfte im ambulanten und klinischen Bereich erweiterte Kenntnisse in folgenden Bereichen haben (Abb. 4; Item 1): Sturzprophylaxe und altersgerechte Bewegung, ein Themenkomplex, der sich in allen Versorgungsbereichen, in denen ältere Menschen betreut werden, stellt. Das pflegerische Assessment erfordert hohe Kompetenzen bei der Erfassung und Auswertung von Daten einschließlich der Anwendung von Skalen. In beiden Bereichen halten 87 % bzw. 86 % der Befragten erweiterte Kenntnisse, 59 % bzw. 56 % zusätzliche oder veränderte Qualifikationen für notwendig.
Ein großer Qualifizierungsbedarf wird für Aufgaben im engeren Kontext von Diagnostik und Therapie (EKG, Wundkontrolle, Injektionen) und für die krankheitsbezogene Patientenschulung gesehen. 83 % bzw. 82 % der Befragten halten erweiterte Kenntnisse auf diesem Feld für erforderlich, für je 69 % macht dies zusätzliche oder veränderte Qualifikationen notwendig. Die Fußkontrolle bei Diabetespatienten, die eine Prävention von Wundenbildung und Amputationen darstellt, wird bezüglich der erweiterten Kenntnisse von 78 % der Befragten für relevant gehalten. 54 % sehen hierbei neue oder erweiterte Qualifikationen als erforderlich an. Eher unproblematisch hinsichtlich neuer Qualifikationserfordernisse ist im Urteil der befragten Experten die Vorbereitung der Dokumentation im klinischen und ambulanten Bereich. Nur 39 % sehen hier einen Bedarf an neuen Qualifikationen.
Bei alterstypischen Erkrankungen erfordert die Aufrechterhaltung der häuslichen Wohn- bzw. Pflegesituation in vielen Fällen eine Wohnraumanpassung. Das Wohnumfeld selbst ist im Hinblick auf Barrieren und Gefahrenquellen einerseits, Anpassungsmöglichkeiten andererseits zu beurteilen, und der Gesundheitszustand sowie die Mobilität der Patienten sind einzuschätzen. Fachkräfte im ambulanten Bereich müssen zunehmend in der Lage sein (2), entsprechende Beratungs- bzw. Hilfeleistungen zu erbringen. Um Wohnumfeld, Hilfsmittelgebrauch, Gesundheitszustand und Mobilität der Patienten fachlich zu beurteilen, halten 88 % der Befragten zunehmende Fähigkeiten, 62 % zusätzliche oder veränderte Qualifikationen für erforderlich. Pflegende Angehörige benötigen Assistenz bei der Pflege und Beratung bei der Überwachung der Leistungserbringung durch professionelle Pflege. Bezogen darauf, Angehörige bei der Pflege zu unterstützen, meinen 92 % der Befragten, bezüglich Leistungen der häuslichen Krankenpflege zu überwachen, 79 %, dass Fachkräfte im ambulanten Bereich zunehmend hierzu in der Lage sein müssen, wobei lediglich 47 % bzw. 40 % hierfür neue Qualifikationen als notwendig erachten.
In den letzten Jahren wurde zum Teil sehr heftig über eine weiterreichende Delegation ärztlicher Tätigkeiten an nichtärztliches Personal gestritten. Der gegenwärtige Diskussionsstand lässt sich als ein Spannungsfeld zwischen Delegationsdruck und Beharren auf dem Status quo kennzeichnen. Die Übertragung einer Reihe medizinischer Aufgaben an Fachkräfte der mittleren Qualifikationsebene im klinischen Bereich wird eher skeptisch eingeschätzt: 63 % der befragten Experten erwarten, dass Assessments im Zusammenhang mit fachübergreifender Reha bzw. früh einsetzender Reha von den nichtärztlichen Mitarbeitern selbstständig durchgeführt werden (3), und etwas mehr als die Hälfte (54 %) sieht dies für lebensrettende Maßnahmen auf der Basis neuer Technologien. Mit einer Übertragung der Dialyse und einfacher chirurgischer Tätigkeiten zur selbstständigen Durchführung rechnen 40 % bzw. 36 %. Jeweils 35 % meinen, dass Fachkräfte künftig radiologische Diagnostik auf der Basis neuer Technologien unter ärztlicher Aufsicht durchführen bzw. erweiterte Aufgaben in der Anästhesie wahrnehmen werden. Fast alle Experten, die entsprechende Tätigkeitsdelegationen erwarten, sehen hierfür zusätzliche oder veränderte Qualifikationen als erforderlich an.
Durch die Delegation von Tätigkeiten ist auch eine Reihe komplexer und übergreifender bzw. bislang eher auf akademische Professionen bezogener Kompetenzen betroffen, wobei an erster Stelle Kenntnisse für das Schnittstellenmanagement relevant sind. Fachkräfte müssen über spezielle Kenntnisse verfügen für das Schnittstellenmanagement (unter anderem Dokumenten- und Informationsaustausch) von Krankenhaus, Reha und Pflege (4), meinen 91 % der Befragten, und Fachkräfte müssen ein breites, sektorenübergreifendes Wissen haben, um in multiprofessionellen Teams kooperieren zu können, sagen 86 %. In beiden Bereichen ist nach Ansicht von 76 % bzw. 71 % der Befragten der derzeitige Qualifikationsstand nicht ausreichend.
Dem Item „Fachkräfte müssen mit neuen Formen der elektronischen Dokumentation, zum Beispiel mit sprachgestützten Dokumentationssystemen, umgehen können“ stimmen 85 % zu, wobei 65 % das derzeitige Qualifikationsniveau als unzureichend ansehen. Dass Fachkräfte bisher von ihnen erbrachte Tätigkeiten (z. B. der Grundpflege) an Hilfskräfte delegieren können, halten 81 % der Befragten für eine notwendige Kompetenzerweiterung. 45 % sehen die Fachkräfte auf dem derzeitigen Stand hierfür noch nicht ausreichend qualifiziert. 80 % der Befragten erwarten, dass Fachkräfte selbstständig und eigenverantwortlich Teile des Qualitätsmanagements konzipieren und umsetzen können, und sehen zu 70 % hierfür neuen Qualifizierungsbedarf.
Im Falle einer Delegation ärztlicher Tätigkeiten stellt sich auch das Problem des leitlinienorientierten Handelns. Dass pflegerische Fachkräfte dafür qualifiziert werden müssen, leitlinienorientiert zu handeln (5), bejahen für den ambulanten und klinischen Bereich 82 % respektive 79 % der Experten, wobei 66 % bzw. 61 % zusätzliche oder veränderte Qualifikationen für erforderlich halten.
Weitere spezifische Anforderungen und Querschnittsqualifikationen
Nimmt man alle 6 Szenarien in den Blick, ergeben sich weitere zukunftsweisende Qualifikationserfordernisse [1]. Wie andernorts bestätigt [33, 34, 35], entstehen in Gesundheitsförderung und Prävention (Szenario 3; Tab. 1) aber auch im Bereich Telemedizin und Ambient Assisted Living (Szenario 5; Tab. 1) neue Aufgabenfelder, die das Beschäftigungsspektrum von Pflegekräften aus Expertensicht erweitern und um neue Qualifikationsbedarfe ergänzen. Darüber hinaus fanden sich szenarien- und berufsgruppenübergreifende Qualifikationserfordernisse, mit denen zentrale, überwiegend als Querschnittsaufgabe zu verstehende Anforderungsprofile beschrieben werden. Diese tragen vornehmlich dem demografischen und ökonomischen Wandlungsdruck, künftigen Koordinations- und Vernetzungserfordernissen im Gesundheitswesen sowie sich verändernden Interaktions- und Kommunikationsanforderungen Rechnung. Zu erwähnen sind Kompetenzen wie interdisziplinäre Kommunikation, Teamorientierung und Multiprofessionalität, Zielgruppenorientierung und Patientenedukation, Versorgungsmanagement, Koordination und Vernetzung, Qualitätsmanagement, Dokumentation und Evaluation sowie der Umgang mit Multimorbidität [1].
Diskussion
Die auf den ersten Blick geringe Stichprobenausschöpfung scheint gemessen an repräsentativen Befragungen die Aussagekraft der Ergebnisse zu limitieren. Für Delphi-Studien werden generell Ausschöpfungsquoten von rund 30 % erwartet [29, 32], vergleichbare Untersuchungen liegen jedoch häufig darunter [36]. Da die Beantwortung der Fragebögen für die Befragten einen sehr hohen zeitlichen Aufwand darstellte, ist die Ausschöpfung als gut zu bewerten. Die insgesamt breite Streuung der Stichprobe sichert zudem die Validität der Aussagen ab. Eine weitere Eigenart des hier gewählten Ansatzes liegt darin, dass es sich bei den ermittelten Trends nicht, wie häufig in der Qualifikationsforschung, um technologische Innovationen, sondern vornehmlich um soziale Rahmenbedingungen beruflichen Handelns handelt. Viele der identifizierten Qualifikationserfordernisse wurden nicht neu aufgedeckt, sondern spiegeln gesundheitspolitische und fachliche Diskurse wider, die bereits seit Langem bestehen und auch künftig fortgesetzt werden. Die Methode der Delphi-Befragung ermöglicht es jedoch, die vorhandene Expertise darüber, was an Qualifizierung künftig relevant sein wird, strukturiert zu erfassen und auf einer breiten Basis abzusichern. Einerseits konnten die Ergebnisse früherer Arbeiten im Grunde bestätigt werden [36, 37, 38, 39], andererseits ermöglichte es der Ansatz, zukünftig wichtige Qualifikationserfordernisse umfassender zu beschreiben und konkreter zu benennen.
Die erweiterten Handlungsfelder und Kompetenzen, die sich für die Pflege aus den Entwicklungstendenzen der Gesundheitswirtschaft ergeben, bringen auch deutlich ausdifferenziertere und in Teilen anspruchsvollere Qualifikationsanforderungen mit sich. Für die Gestaltung der Ausbildungsstrukturen stellt sich daher nicht nur die Aufgabe zu prüfen, ob wichtige Trendqualifikationen curricular bereits hinreichend berücksichtigt sind bzw. wie diese in konkreten Ausbildungsinhalten umzusetzen wären. Sondern darüber hinaus ist zu entscheiden, welche Qualifikationsbereiche der grundständigen Ausbildung vorbehalten bleiben, wo spezialisierte Fort- und Weiterbildungen zu entwickeln sind und welche Rolle einer weiterentwickelten akademischen Pflegeausbildung zukommen soll. Insbesondere Querschnittsqualifikationen sollten in Aus-, Fort- und Weiterbildungen professionsübergreifend, etwa in gemeinsamen Modulen bzw. im interprofessionellen Austausch, vermittelt werden, um in einem zunehmend integrierten Gesundheitswesen fachliche Abgrenzungen abzubauen. In der Konsequenz wird es zu einem stark ausdifferenzierten Berufsbild kommen, in dem, aufbauend auf einer tendenziell generalistischen Ausbildung, der Spezialisierung, aber auch der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Berufsgruppen herausragende Bedeutung zukommt.
Notes
Damit sind Fachkräfte mit Abschlüssen in einem anerkannten Ausbildungsberuf (nach BBiG/HwO), in einem der bundeseinheitlich geregelten nicht ärztlichen Heilberufe (nach § 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) oder in einem der länderrechtlich geregelten schulischen Ausbildungsgänge sowie Absolventen mit Fortbildungsabschlüssen gemeint.
Entsprechend beziehen sich in den Ergebnissen zu Szenario 1 und 2 die Prozentangaben zu den Tätigkeiten und Anforderungen sowie zu den Qualifikationserfordernissen jeweils auf alle Befragten.
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Finanzierung der Studie
Die Studie wurde finanziert aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Interessenkonflikt
Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Schüler, G., Klaes, L., Rommel, A. et al. Zukünftiger Qualifikationsbedarf in der Pflege. Bundesgesundheitsbl. 56, 1135–1144 (2013). https://doi.org/10.1007/s00103-013-1754-x
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