Kaum eine Bevölkerungsgruppe in Deutschland wird so häufig im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas genannt wie Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. Dies spiegelt zum Teil Ergebnisse aus epidemiologischen Studien, wie beispielsweise aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS), wider. Eine verallgemeinernde Darstellung dieses Zusammenhanges ist jedoch vereinfachend und falsch, da die Gruppe der Migranten/-innen sehr heterogen zusammengesetzt ist: Je nach Migrationshintergrund unterscheiden sich die wichtigen Lebensbereiche und Partizipationschancen, auch wenn Migranten/-innen einzelne Merkmale miteinander teilen. Auch mit Blick auf die Prävention und Therapie von Übergewicht/Adipositas ist eine differenzierte Sicht auf den Migrationshintergrund geboten, da sich hieraus konkrete Anforderungen an die Passförmigkeit der Angebote stellen.

Als Migranten/-innen werden in Deutschland nach neueren Definitionen (beispielsweise des Mikrozensus) Personen bezeichnet, die „nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugewandert sind, (Änderung durch Autorinnen), … sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ [1]. Dieser Begriff ist weit gefasst und bezieht sich auf Angaben zur Zuwanderung, zur Staatsangehörigkeit und zur Einbürgerung [1].

Entsprechend dieser Definition lebten in Deutschland im Jahr 2011 (bei einer Gesamtbevölkerung von 81,7 Mio. Menschen) 16 Mio. Menschen mit einem Migrationshintergrund (19,5%) und 7,2 Mio. Ausländer bzw. Ausländerinnen (8,8%; [2]). Den größten Anteil stellen mit 3,0 Mio. Personen türkischer Herkunft, gefolgt von 2,9 Mio. mit einer Herkunft aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, 1,5 Mio. mit einer Herkunft aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien sowie knapp 1,5 Mio. mit polnischer Herkunft [2].

Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland hat einen Migrationshintergrund; jedoch variiert dieser Anteil stark nach Alter: So findet sich der höchste Anteil bei den 0- bis 5-Jährigen mit 34,9% und der niedrigste bei den 15- bis 20-Jährigen mit 27,1% ([2], Tab. 1).

Tab. 1 Kinder und Jugendliche in Deutschland: Bevölkerungszusammensetzung nach Migrationshintergrund. Ergebnisse des Mikrozensus 2011 ([2], eigene Darstellung)

Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen: Die epidemiologische Sicht

Übergewicht und Adipositas haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen und insbesondere im Kindes- und Jugendalter eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Nach den Ergebnissen des KiGGS sind 14,1% der Kinder und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund übergewichtig/adipös. Eine geringere Prävalenz findet sich bei Kindern und Jugendlichen mit einem einseitigen Migrationshintergrund (13,7%), eine deutlich höhere bei Kindern und Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund (19,5%; [3]). Eine weitere Differenzierung nach Herkunftsländern verdeutlicht die eingangs getroffene Aussage, dass sich hier große Unterschiede zeigen (Tab. 2). Die höchsten Prävalenzen für Übergewicht finden sich bei Kindern und Jugendlichen mit einer Herkunft aus Polen (12,6%) und aus arabisch-islamischen Ländern (12,5%), gefolgt von Kindern und Jugendlichen türkischer Herkunft (11,5%). In der Tendenz nehmen die Prävalenzraten mit der Aufenthaltsdauer in Deutschland zu. Höhere Prävalenzen für Übergewicht sind sowohl mit einem mittleren als auch einem geringen Grad der Integration assoziiert.

Tab. 2 Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen nach Herkunftsland [3]

Die Adipositasprävalenz bei Kindern und Jugendlichen lag nach den Ergebnissen des KiGGS bei insgesamt 6,5%. Bei Kindern und Jugendlichen ohne bzw. mit einem einseitigen Migrationshintergrund fanden sich Prävalenzraten von 5,9% bzw. 4,9%, bei Kindern und Jugendlichen mit beidseitigem Migrationshintergrund von 8,8% [4, 5]. Die höchsten Adipositasprävalenzen finden sich bei Kindern und Jugendlichen mit türkischer Herkunft (11,7%), mit einer Herkunft aus Mittel- und Südeuropa (9,5%) und aus Polen (7,8%; Tab. 2, [3]). Die Prävalenz nimmt mit der Länge der Aufenthaltsdauer in Deutschland und einem geringeren Integrationsgrad zu.

Erklärungsansätze

In vielen Studien wird der Frage nachgegangen, warum sich bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beziehungsweise aus bestimmten Herkunftsländern höhere Prävalenzen für Übergewicht und Adipositas finden. Die Gründe hierfür lassen sich grob 4 Kategorien zuordnen: Es gibt kulturspezifische Ursachen (z. B. unterschiedliche Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen, Essgewohnheiten), akkulturationsspezifische Ursachen (z. B. Anpassungsprozesse an die Mehrheitsgesellschaft), gesellschaftliche Ursachen (z. B. Zugang zu Bildung, sozioökonomischer Status) und individuelle Ursachen (z. B. persönliche Präferenzen; s. ausführlich weiter unten). Grundsätzlich beinhaltet der Versuch einer solchen Systematisierung immer auch die Gefahr einer Stereotypisierung, da für ausgewählte Bevölkerungsgruppen ihnen gemeinsame Einflussfaktoren und folglich gemeinsame Eigenschaften festgelegt werden. Folglich sollten nicht nur die Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen, sondern immer auch vorhandene Divergenzen betrachtet werden.

Ein allgemeines Modell zum Einfluss von Migration auf die Gesundheit wurde von Razum und Spallek [6] vorgelegt (Abb. 1). In diesem Modell wird sehr deutlich, wie komplex ihr Einfluss auf die Gesundheit im Zielland ist. Hervorzuheben ist, dass hier eine zeitliche Dimension zum Tragen kommt, die sowohl für die migrierende Person selbst als auch für nachfolgende Generationen von Bedeutung ist. Je nach Herkunftsland und Ausgangssituation gelingt es der immigrierenden Person leichter oder schwerer, im Zielland für sie günstige Bedingungen zu verwirklichen, z. B. eine der Ausbildung angemessene Beschäftigung zu finden.

Abb. 1
figure 1

Modell der verschiedenen Einflussgrößen auf die Gesundheit im Lebenslauf von Migranten [6]

Mit Blick auf die Gesundheit und die Inanspruchnahme des Gesundheitssystems treffen kulturspezifische Einflüsse – wie das jeweilige Gesundheitskonzept, die Erfahrungen sowie die Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung im Herkunftsland – auf die im Zielland vorhandenen Vorstellungen von Gesundheit und zum Umgang mit Gesundheit und Krankheit sowie auf das dort vorhandene Gesundheitssystem. Hieraus resultieren – je nachdem wie groß die Divergenzen zwischen Ziel- und Herkunftsland sind – größere bzw. kleinere Hürden. Es ist davon auszugehen, dass zur Gesundheit alle eben genannten Faktoren beitragen, selbst wenn keine eigenen Migrationserfahrungen vorliegen. Grundsätzlich ist von kumulativen Effekten auszugehen, wie dies in Studien beispielsweise zum Zusammenspiel zwischen dem sozioökonomischen Status und dem Migrationshintergrund herausgearbeitet werden konnte. Bei Kindern und Jugendlichen spielen darüber hinaus die Entwicklungsaufgaben in diesen Lebensabschnitten sowie auch Sozialisationsprozesse eine wichtige Rolle.

Konkret werden im Zusammenhang mit Übergewicht und Adipositas in der Literatur folgende Einflussfaktoren diskutiert, die sich auch in das oben genannte Modell einordnen lassen:

  • Unterschiedliche genetische Dispositionen (biologische Unterschiede),

  • unterschiedliches Schönheitsideal und Körperbild (kulturelle Unterschiede),

  • unterschiedliche Gesundheits- und Krankheitskonzepte (kulturelle Unterschiede),

  • unterschiedlicher gesundheitsrelevanter Lebensstil (hier insbesondere Essgewohnheiten und Bewegungsverhalten sowie kulturelle Unterschiede),

  • unterschiedliche Erwartungen an die Gesundheitsversorgung (kulturelle Unterschiede),

  • unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten/-chancen (gesellschaftliche Unterschiede),

  • Einflüsse des Anpassungsprozesses an die Kultur des Ziellandes (Akkulturation).

Deutliche kulturelle Unterschiede finden sich mit Blick auf die Wahrnehmung eines gesunden Kinderkörpers. Studien zeigen, dass in vielen Kulturen eine gewisse Fülligkeit des Körpers mit Gesundheit gleichgesetzt wird [7]. Für Deutschland haben die Analysen des KiGGS [5] gezeigt, dass kulturelle Unterschiede bei der Einschätzung des kindlichen Körpergewichtes durch die Eltern bestehen: Eltern mit Migrationshintergrund und insbesondere Eltern aus arabisch-islamischen Ländern (25,0%) sowie aus der ehemaligen Sowjetunion (22,4%) schätzen ihre Kinder – und hier eher die Jungen als die Mädchen – häufiger als zu dünn ein. Es liegen auch Hinweise darauf vor, dass übergewichtige und zum Teil sogar leicht adipöse Kinder von Eltern mit Migrationshintergrund häufiger als von Eltern ohne Migrationshintergrund als normalgewichtig eingeschätzt werden [8]. Folglich wird von ihnen kein Handlungsbedarf gesehen, das Gewicht des Kindes zu kontrollieren. Eine Ursache hierfür könnte in dem von den Eltern evtl. selbst erlebten Mangel an Nahrungsmitteln im Herkunftsland liegen. Cheah und von Hook [7] untersuchten diese Hypothese in den USA und befragten hierzu Eltern koreanischer und chinesischer Herkunft. Die Ergebnisse zeigen, dass solche Erlebnisse die Ernährungsgewohnheiten und das Körpergewicht ihrer Kinder beeinflussen. Allerdings reduzierte sich der Effekt mit der Akkulturation an die US-amerikanischen Lebensgewohnheiten.

Häufiger finden sich bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Verhaltensgewohnheiten, die mit einem höheren Risiko für Übergewicht und Adipositas einhergehen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang ein hoher Konsum an gesüßten Getränken und Fastfood, ein hoher Fernsehkonsum sowie Bewegungsmangel [9, 10, 11]; für Deutschland: [3, 8, 12, 13, 14]. Gewohnheiten werden vom Prozess der Akkulturation und dem sozioökonomischen Status der Familie beeinflusst. Diese Anpassungsprozesse finden in unterschiedlichem Maße statt und können bis hin zur Angleichung an das Gesundheitsverhalten des Einwanderungslandes führen [15, 16]. Damit gehen Veränderungen und Annäherungen an das Krankheitsspektrum im Einwanderungsland einher.

In allen im KiGGS differenzierten Migrationsgruppen (ohne, einseitig, beidseitig) besteht mit Blick auf Übergewicht/Adipositas ein sozialer Gradient, d. h., die Prävalenzraten von Übergewicht/Adipositas nehmen mit einem abnehmenden sozioökonomischen Status zu [5]. Eine Erklärung für die beobachteten migrationsspezifischen Unterschiede im Körpergewicht der Kinder und Jugendlichen ergibt sich hieraus aber nicht [13, 17, 18], sodass hier neben kumulativen Effekten auch von unabhängigen Migrationseffekten auszugehen ist.

Adipositas und ihre Folgen: der klinische Alltag

Adipositas bei Kindern und Jugendlichen ist weit mehr als ein kosmetisches Problem. Insbesondere ab der Pubertät treten in relevanter Häufigkeit Folgeerkrankungen auf, die sich bis vor einigen Jahren erst in einem höheren Lebensalter manifestierten (Abb. 2). Ganz zentral für die langfristige Morbidität sind hier die Komponenten des metabolischen Syndroms (unter anderem Insulinresistenz, gestörte Glukosetoleranz, Typ-2-Diabetes, Hypertonus, kombinierte Hyperlipidämie), die in einem direkten Zusammenhang zum kardiovaskulären Risiko stehen [19]. Da diese metabolischen Veränderungen meist keine klinischen Symptome verursachen, wäre für ihr rechtzeitiges Erkennen mindestens einmal jährlich eine Nüchtern-Blutentnahme erforderlich, bei extremer Adipositas zusätzlich auch noch ein oraler Glukosetoleranztest (s. S2-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter; http://www.a-g-a.de). Ein metabolisches Syndrom findet sich bei adipösen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bereits bei ärztlicher Erstvorstellung in einem pädriatischen Adipositas-Zentrum signifikant häufiger als bei Kindern und Jugendlichen ohne einen solchen (Abb. 3). Allerdings sind sie zu diesem Zeitpunkt bei gleichem Durchschnittsalter auch bereits stärker übergewichtig als Kinder aus Familien ohne Migrationshintergrund (Abb. 4); Gleiches gilt für Kinder deren Eltern einen niedrigen Bildungsabschluss haben. Besonders von einem metabolischen Syndrom betroffen sind Kinder mit türkischem Migrationshintergrund [20]. Auch bei Kindern steht also das Risiko für Folgeerkrankungen in einem direkten Zusammenhang zum Ausmaß der Adipositas. Die wissenschaftliche und klinische Bewertung dieses metabolischen Risikos wird durch das Fehlen einheitlicher diagnostischer Grenzwerte, die nicht nur Alter, Geschlecht und Pubertätsstatus, sondern auch den ethnischen Hintergrund berücksichtigen, erschwert [38].

Abb. 2
figure 2

Folgeerkrankungen/Komorbiditäten bei Adipositas im Kindes- und Jugendalter (Komponenten des metabolischen Syndroms). (Mod. nach Ebbeling et al., Landet 2002)

Abb. 3
figure 3

Anteil der adipösen Kinder und Jugendlichen mit keinem bzw. mit 1 bis 5 Anzeichen des metabolischen Syndroms bei ärztlicher Erstvorstellung im pädiatrischen Adipositas-Zentrum differenziert nach Migrationshintergrund

Abb. 4
figure 4

Übergewichtskategorien bei Kindern und Jugendlichen bei ärztlicher Erstvorstellung im pädiatrischen Adipositas-Zentrum differenziert nach Migrationshintergrund (Übergewicht > P90 ≤ P97; Adipositas > P97 ≤ P99,5; extreme Adipositas > P99,5)

Barrieren in der Gesundheitsversorgung für Migranten und Migrantinnen, die sogar zu ihrer verzögerten Inanspruchnahme („Treatment Delay“) führen können, wurden auch für Deutschland vielfach beschrieben. Eine mögliche Ursache für eine solche verzögerte bzw. fehlende Inanspruchnahme durch Kindern und Jugendliche mit Adipositas könnte darin liegen, dass Mütter mit Migrationshintergrund in ca. 70% der Fälle das Gewicht ihrer kleinen Kinder selbst bei einer bestehenden Adipositas als „gerade richtig“ beurteilen [8, 21]. Gerade in Familien, die aus ländlichen Regionen immigriert sind, gelten „kräftige“ Kinder oft als Zeichen für Wohlstand und Glück. Folglich ist es ihnen in der kinderärztlichen Praxis häufig auch nur schwer zu vermitteln, dass sich eine im frühen Lebensalter bestehende Adipositas nicht „auswächst“ und sie sogar ein Entwicklungshindernis sein kann, insbesondere dann, wenn die Kinder in ihrer Beweglichkeit bereits eingeschränkt sind. Ein wichtiger therapeutischer Ansatzpunkt ist in dieser frühen Lebensphase z. B. eine kultursensible Ernährungsberatung (s. unten). Häufig setzt sich die Tendenz der Eltern zur Fehlwahrnehmung des Gewichtsstatus ihrer Kinder bis in deren Jugendalter fort, jedoch je nach Geschlecht in einem unterschiedlichen Ausmaß: Auch bei den Mädchen mit Migrationshintergrund finden sich die Normalgewichtigen meist „zu dick“, und der Zeitpunkt der ersten Diäterfahrungen hat sich auch bei ihnen in das Grundschulalter verlagert. Mädchen mit Migrationshintergrund sind in der Gruppe der Jugendlichen mit Verdacht auf eine Essstörung signifikant häufiger vertreten [22].

Mit Beginn der Pubertät nimmt die körperliche Aktivität bei Jugendlichen unabhängig vom Gewichtsstatus ab. Bedingt ist dieses durch eine Veränderung des Freizeitverhaltens insbesondere durch eine zunehmende Mediennutzung [23]. Für adipöse Jugendliche gilt dies im besonderen Maße; sie berichten zudem vielfach über Schmerzen bei körperlicher Belastung, meist im Bereich der unteren Extremität. Orthopädische Probleme wirken sich dabei unmittelbar auf die Möglichkeiten aus, körperlich aktiv zu sein. Gerade extrem adipöse Jugendliche geraten leicht in einen Teufelskreis der Inaktivität und des sozialen Rückzugs. Der Zusammenhang zwischen regelmäßiger Aktivität und sowohl körperlichem als auch psychischem Wohlbefinden ist z. B. für Frauen im mittleren Lebensalter gut untersucht. Ähnliche Studien bei adipösen Jugendlichen sind selten [24] und beziehen sich zumeist auf die Lebensqualität. In einer eigenen Untersuchung mit 143 adipösen Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 14 bis 17 Jahren, die ihr Gewicht in einem kombinierten multiprofessionellen Programm um mindestens − 0,2 BMI-SDS (entspricht einer Gewichtsabnahme von 8% bei Erwachsenen) reduzierten, verbesserten sich alle Bereiche des modifizierten Münchner Fitnesstests signifikant. Parallel dazu nahm die Depressivität signifikant ab (gemessen mit dem Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche, DIKJ). Es zeigten sich dabei keine Unterschiede zwischen Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund. Alle Teilnehmenden gaben an, sich nach der Gewichtsabnahme auch im Alltag mehr zu bewegen als vorher (Wiegand et al.; Publikation in Vorbereitung).

Andererseits können sich hinter häufig berichteten Belastungsschmerzen beim Gehen auch sehr ernsthafte und dringend behandlungsbedürftige Adipositasfolgen, z. B. eine Epiphysiolysis capitis femoris verbergen. Bei dieser kommt es während der Pubertät (meist bei adipösen Jugendlichen) zu einem Abgleiten des Hüftkopfes im Bereich der noch nicht verschlossenen Hüftkopfepiphyse [25]. Die Symptomatik ist oft sehr unspezifisch, Schmerzen beim Laufen, auch im Knie- und Unterschenkelbereich, machen eine klinische Diagnose schwierig. Sie erfordert eine spezielle Röntgenaufnahme (Röntgen der Hüfte nach Lauerstein), die nicht bei allen extrem adipösen Jugendlichen mit gelegentlichen Schmerzen bei schnellerem Laufen routinemäßig durchgeführt werden kann, da die Erkrankung mit einer Prävalenz von 10,8 pro 100.000 eher selten auftritt. Es gibt Hinweise darauf, dass auch für diese Komorbidität bei bestimmten ethnischen Gruppen ein erhöhtes Risiko besteht. So sollen adipöse pubertäre Jungen afrikanischer Herkunft besonders häufig betroffen sein [25]. Wird eine Epiphysiolysis capitis femoris allerdings übersehen und deshalb nicht chirurgisch behandelt (beidseitige Fixierung des Hüftkopfes für ca. 1 Jahr), kann eine Coxarthrose mit der Notwendigkeit eines Gelenkersatzes resultieren. Für Jugendliche und Familien mit Migrationshintergrund ist es bei Vorliegen derartiger Komorbiditäten deutlich schwerer und langwieriger, bis sie eine adäquate Diagnostik und Therapie erhalten. Mögliche Gründe hierfür sind teilweise fortbestehende Sprachschwierigkeiten, selbst in Familien, die bereits viele Jahre in Deutschland leben (insbesondere bei Müttern ohne Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit). Hinzu kommt, dass die medizinischen Versorgungssysteme – jenseits der haus- bzw. kinderärztlichen Versorgung in Wohnortnähe – immer komplexer werden. Wann die Versichertenkarte, eine Überweisung, eine Einweisung, eine Bescheinigung der Krankenkasse, eine ärztliche Stellungnahme oder spezielle Formulare (z. B. für Reha-Sportverordnungen) benötigt werden, ist oft sogar für „Profis“ unübersichtlich.

Die erfolgreiche Behandlung adipöser Jugendlicher ist schwierig und ein nachhaltiger Erfolg viel seltener als bei jüngeren Kindern (< 12 Jahre; [26]) zu erreichen. Hier sind Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Eltern – bzw. Mütter – Sprachschwierigkeiten haben, oft in einer besonders problematischen Situation. Sie müssen dann die Rolle eines/r Sprachmittler/-in – also quasi die Rolle eines Erwachsenen – übernehmen und gesundheitsrelevante Informationen vermitteln, die durchaus in einem deutlichen Widerspruch zu ihren pubertären Denkstrukturen (sehr emotional geprägt; eher gegenwartsbezogen [27]) stehen können. Solche Situationen sollte das Behandlungsteam, wenn möglich, vermeiden und z. B. zu Gesprächen über die Gesundheitsgefährdung der Jugendlichen und zur Therapieplanung ausgebildete Sprach- und Kulturmittler/-innen hinzuziehen (z. B. über den Gemeindedolmetschdienst [4]).

Zusammengefasst bestehen im klinischen Alltag folgende Problemlagen bei der langfristigen Versorgung adipöser Jugendlicher mit Migrationshintergrund:

  • Bei der ärztlicher Erstvorstellung sind Jugendliche mit Migrationshintergrund stärker übergewichtig und haben bereits häufiger ein metabolisches Syndrom als Jugendliche ohne einen solchen („Treatment Delay“).

  • Sowohl den Jugendlichen selbst als auch ihren Eltern ist die gesundheitliche Relevanz einer Adipositas und ihrer Folgen – je nach Bildungsgrad und Integration – zum Teil nur schwer zu vermitteln. Hier können auch fortbestehende Sprachbarrieren eine Rolle spielen.

  • Die Diagnostik und Therapie seltenerer Folgeerkrankungen kann sich verzögern, wenn hierfür einen Koordinierung unterschiedlicher Maßnahmen und die Inanspruchnahme mehrerer Institutionen erforderlich ist.

  • Pubertäre Lebenswelten mit einem zunehmenden Medienkonsum, abnehmender körperlicher Aktivität und ungünstiger Alltagsstruktur (lange Schulzeiten, keine geregelten Mahlzeiten) fördern bei entsprechender Veranlagung eine Adipositas, und zwar unabhängig vom Migrationshintergrund.

Beispiele für migrantensensible Handlungsansätze zur Therapie der Adipositas und ihrer Komorbiditäten

Die vorliegende Arbeit fokussiert auf Jugendliche mit Adipositas und Migrationshintergrund. Spezifische Handlungsansätze können hier aber nur unter Berücksichtigung aller Phasen der kindlichen Entwicklung sinnvoll formuliert werden. So wird die Stoffwechselregulation zum Teil bereits intrauterin geprägt. Sowohl Kinder, die in der Schwangerschaft unterversorgt wurden (z. B. Plazentainsuffizienz durch Rauchen in der Schwangerschaft), als auch die, die „überversorgt“ wurden (hypertrophe Neugeborene bei nicht diagnostiziertem Gestationsdiabetes) haben im Laufe ihrer weiteren Entwicklung ein erhöhtes Adipositasrisiko [28]. Im Kleinkindalter werden viele Verhaltensweisen erlernt, die teilweise lebenslang beibehalten werden – auch und gerade mit Blick auf das Ess-, Ernährungs- und Bewegungsverhalten. „Teller leer essen“, Belohnung mit Süßigkeiten, „viel Essen macht stark“ seien hier nur beispielhaft genannt. In Familien mit Migrationshintergrund kommt hinzu, dass sog. „Kinderlebensmittel“, die in aller Regel nicht nur überflüssig, sondern aufgrund ihres hohen Zucker- und Fettgehaltes auch eher ungünstig sind, als gesund und wertvoll wahrgenommen werden. Da in der Kleinkindphase eine gewisse Geschmacksprägung erfolgt, können damit schon die Weichen in die Richtung einer langfristig ungünstigen Lebensmittelauswahl gestellt werden. Dieses Verhalten setzt sich im Schulalter fort, einer Lebensphase, in der sich Übergewicht und Adipositas häufig manifestieren.

Die Ernährung in Familien mit Migrationshintergrund variiert je nach Herkunftsland und Zeitpunkt der Immigration. Grundsätzlich werden die Hauptnahrungsmittel aus der traditionellen Küche des Herkunftslandes lange beibehalten und die Nahrungs- und Genussmittel des neuen Heimatlandes zusätzlich verwendet [29]. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund spielen dabei „Softdrinks“, Süßigkeiten und Fast Food eine große Rolle. Sie werden oft zusätzlich zu den traditionellen Mahlzeiten verzehrt, z. B. gemeinsam mit der Peergroup. Sie sind deshalb im Ernährungsbereich ein besonderer Schulungsschwerpunkt [30].

In der Ernährungsschulung für adipöse Jugendliche mit Migrationshintergrund wirken sich die Sprachprobleme der Eltern gravierend aus. Dies gilt auch dann, wenn die Jugendlichen selbst sehr gut Deutsch sprechen, da es für sie wichtig ist, dass sie bei ihren Verhaltensänderungen (z. B. Verzicht auf „Softdrinks“) vom familiären Umfeld unterstützt werden. Dazu muss einerseits das „Familienoberhaupt“ (in traditionell orientierten Familien zumeist der Vater) von der gesundheitlichen Notwendigkeit überzeugt und andererseits die „Durchführung“ mit den Familienmitgliedern abgestimmt werden, die für die Haushaltsführung verantwortlich sind (in traditionell orientierten Familien meist die Mutter). Die Lebensmittel „Softdrinks“ [31, 32] sind hier ein gutes Beispiel, da eine entsprechende Bevorratung zum Gebot der Gastfreundschaft gehört, insbesondere im muslimischen Kulturkreis (aufgrund des Alkoholverzichts). Der scheinbar einfache Schulungsinhalt „keine Softdrinks“ kann vor diesem Hintergrund eine durchaus komplexe Familienintervention erfordern, bei bestehenden Sprachschwierigkeiten mit Unterstützung von Sprach- und Kulturmittlern/-innen.

Kulturvermittlung ist auch gefragt, wenn im Rahmen der Adipositasschulung der Umgang mit dem Fasten im Ramadan thematisiert wird. Dies ist besonders wichtig, da Jugendliche in den letzten Jahren zunehmend den Wunsch haben, das Fastengebot einzuhalten; auch während der Schulzeit. Bei bestehender Adipositas führt das Fasten tendenziell zu einer Gewichtszunahme und nicht zu einer Gewichtsabnahme, weil im Ramadan nach Sonnenuntergang (und bis zu einer Stunde vor Sonnenaufgang) 1 bis 3 teilweise üppige und fettreiche Mahlzeiten verzehrt werden und zu seinem Abschluss zudem das dreitägige „Zuckerfest“ mit reichlich Süßigkeiten begangen wird [33].

Bei Interventionen mit Bewegung und körperliche Aktivität kommen in einem stärkeren Maße Genderaspekte zum Tragen: Bei Familien, die aus einem ländlichen Gebiet emmigriert sind, wird körperliche Aktivität zumeist mit Arbeit und nicht mit Freizeit oder sogar Gesundheit assoziiert. Entsprechend gering ist ihre soziale Akzeptanz. Hiervon ausgenommen ist bei Männern/Jungen allerdings der Sport in einem Verein (z. B. Fußball spielen), da die sportlichen Leistungen hier auch (sozialen) Erfolg bedeuten. Vergleichbare Strukturen entwickeln sich für Mädchen bzw. junge Frauen mit Migrationshintergrund nur sehr zögerlich [34]. Die Bekleidungsregeln für muslimische Mädchen/Frauen mögen ein zusätzliches Hindernis sein, sind jedoch nicht die alleinige Ursache dafür, dass adipöse Mädchen mit Migrationshintergrund besondere Probleme haben, regelmäßig Sport zu treiben. In Familien, die aus ländlichen Kulturräumen stammen, können viele Mütter zudem weder schwimmen noch Fahrrad fahren. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass diese Freizeitaktivitäten gerade jugendlichen Mädchen aus Sorge seltener gestattet werden als Jungen.

Immer wenn Verhaltens- oder Verhältnisänderungen im familiären Umfeld angestrebt werden, muss das Behandlungsteam die kulturellen Grundlagen der Status- und Rollenverteilung berücksichtigen. Gerade in Familien aus einem ländlichen, muslimischen Umfeld ist es das männliche Familienoberhaupt (meist der Vater), das einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme zustimmen muss, für ihre Umsetzung im Familienalltag ist jedoch die weibliche Hauptperson (meist die Mutter) verantwortlich.

Ein dritter für die Behandlung der Adipositas bei Jugendlichen wesentlicher Aspekt ist die Mediennutzung. Hier zeigt sich die große Diskrepanz zwischen dem gesundheitlich erwünschten Verhalten (maximal 2 h Medienkonsum und zusätzliche körperliche Aktivität von 1,5 h pro Tag) und dem hohen sozialen Stellenwert, den Medien in dieser Altersgruppe besitzen. Handy und PC sind Statussymbole, soziale Kontakte werden online gepflegt, und die alltägliche Kommunikation erfordert eine Flatrate. Gerade für Familien mit niedrigem Einkommen ist der „mediale Basisbedarf“ der Jugendlichen ein wesentlicher Kostenfaktor. Auch diese Entwicklung beginnt früh. So geben Familien mit Migrationshintergrund bei der Einschulungsuntersuchung signifikant häufiger an, dass ihr Kind bereits einen eigenen Fernseher im Zimmer hat (Tab. 3, [35]). Gleiches gilt auch – unabhängig vom Migrationshintergrund – für Familien in schwieriger sozialer Lage. Aus den genannten Gründen ist der Medienkonsum ein sehr wesentlicher Schulungsaspekt in der Betreuung adipöser Jugendlicher mit Migrationshintergrund, nicht zuletzt auch, weil mit Medien verbrachte Zeiten in aller Regel mit körperlicher Inaktivität einhergehen [36, 37]. Die Bedeutung von Spielkonsolen zur sportlichen Freizeitgestaltung wird mit Blick auf den Energieverbrauch deutlich überschätzt.

Tab. 3 Selbstauskunft der Eltern zum Medienkonsum der Kinder bei der Einschulungsuntersuchung in Berlin-Mitte 2008 nach sozialer Lage und Herkunft; Angaben in % [35]

Zusammengefasst sind für Emmigranten insbesondere aus ländlichen Regionen die Adipositas-fördernden Umwelt- und Lebensbedingungen im Einwanderungsland meist positiv besetzt, da sie ein Zeichen des sozialen Aufstiegs darstellen. Wenn adipöse Jugendliche im Rahmen eines Behandlungsprogramms ihr Verhalten teilweise verändern sollen, um ihr Gewicht zu reduzieren und/oder Folgeerkrankungen (z. B. ein metabolisches Syndrom) zu behandeln, ist dies nur möglich, wenn die Betroffenen und ihre Familien von der Notwendigkeit bzw. Sinnhaftigkeit der Maßnahmen überzeugt werden können. Dieser Prozess kann auch bei erfahrenen Adipositas-Teams erhebliche Zeit in Anspruch nehmen, ist aber Grundvoraussetzung für einen langfristig erfolgreichen Verlauf des Programmes.

Fazit

Die Einflüsse des Migrationshintergrundes auf die Entstehung sowie auch auf die Behandlung einer Adipositas sind vielfältig. Sie müssen im Zusammenhang mit der Bildung, dem Sozialstatus und der Kultur des Herkunftslandes betrachtet werden. Entsprechend komplex stellt sich ein kultursensibler Umgang mit betroffenen Kindern/Jugendlichen und ihren Eltern dar. Das therapeutische Team ist gefordert, die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensweisen und Einstellungen zu erkennen und diese jeweils angemessen in den Behandlungskontext zu integrieren. Der Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern/-innen ist dabei ausgesprochen wünschenswert. Neben der Verdeutlichung der zentralen Bausteine einer Adipositastherapie gilt es, kulturangemessene Umsetzungsstrategien zu entwickeln, die einerseits dem jeweiligen familiären und kulturellen Kontext entsprechen und die andererseits eine dauerhafte Gewichtsreduktion bei den Jugendlichen ermöglichen.

Verschiedene Interventionsmethoden zeigen, wie Kinder/Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund bei einer Adipositasbehandlung langfristig unterstützt werden können. Unbestritten ist aber, dass langfristige Erfolge meist nur schwer erreicht werden können, vor allem dann, wenn bereits eine Adipositas oder sogar eine extreme Adipositas vorliegt. Gelingende Strategien setzen immer voraus, dass ein Team von Therapeuten/-innen gemeinsam mit dem Kind/Jugendlichen und seiner Familie die erforderlichen Verhaltensveränderungen in den Bereichen Ernährung, Bewegung und Medienkonsum umsetzt. Voraussetzung hierfür ist, dass für Jugendliche mit Migrationshintergrund und für ihre Familien tragfähige und vor allem gemeinsam entwickelte Ansatzpunkte gefunden werden.