Die Interaktion zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin (im Folgenden A-P-Interaktion abgekürzt) wird durch das Geschlecht der interagierenden Personen sowie durch Geschlechtsrollenerwartungen und -stereotype beeinflusst. Im vorliegenden Beitrag sollen einige diesbezüglich relevante Aspekte diskutiert und veranschaulicht werden. Dabei wird der Fokus nicht auf biologische Geschlechterunterschiede gelegt („sex differences“), sondern auf sozial konstruierte Vorstellungen darüber, wie Männer und Frauen sich verhalten bzw. verhalten sollten („gender differences“). Unter Gender-Konstrukten werden in Anlehnung an Deaux und LaFrance [1] die Aufteilung gesellschaftlicher Positionen und Rollen in Abhängigkeit vom Geschlecht verstanden sowie Geschlechterstereotype, d. h. Vorstellungen über angemessene und erwünschte Verhaltensweisen und persönliche Charakteristika von Männern und Frauen.

Geschlechterrollen gelten als hauptverantwortlich für die deutlichen Geschlechterunterschiede in den Krankheitsrisiken und im gesundheitsrelevanten Verhalten sowie bei der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe und insbesondere präventiver medizinischer Angebote. Wenn Männer und Frauen ärztliche Hilfe aufsuchen, kann es bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu geschlechtsstereotypen Fehlurteilen und Fehlbehandlungen kommen. In der A-P-Kommunikation spielen sowohl das Geschlecht des Arztes/der Ärztin eine Rolle als auch das Geschlecht des Patienten/der Patientin. Die Notwendigkeit, Geschlechteraspekte stärker in die ärztliche Ausbildung zu integrieren, wird abschließend diskutiert.

Die Bedeutung von Geschlechterrollen für gesundheitsrelevantes Verhalten

Zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit ist das Geschlecht – neben Alter und sozialer Schicht – ein bedeutender Faktor. Frauen haben beispielsweise ein höheres Risiko, an einer Depression zu erkranken, hingegen sind Alkoholabhängigkeit und Suizide bei Männern häufiger. Frauen erkranken häufiger an weniger lebensbedrohlichen chronischen Krankheiten wie chronischer Sinusitis, Arthritis, Allergien, Schilddrüsenerkrankungen, Gallenblasenerkrankungen, Diabetes (insbesondere in höherem Alter) oder Migräne. Männer sind dagegen häufiger von akuten und lebensbedrohlichen Krankheiten betroffen wie Arteriosklerose, koronare Herzkrankheit, Aids, Lungenkrebs oder Lungenemphysem sowie Leberzirrhose. Männer in mittleren Altersgruppen haben ein deutlich höheres Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden und daran zu sterben [2], für höhere Altersgruppen gilt das jedoch nicht [3].

Eine große Rolle zur Erklärung der unterschiedlichen Krankheitsrisiken spielen Geschlechterunterschiede im Risikoverhalten (Rauchen, Alkoholkonsum, riskante Sportarten) und im Präventionsverhalten (Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe sowie von Früherkennungs- und Vorsorgeuntersuchungen, gesunde Ernährung [4, 5]). Solches Verhalten wird maßgeblich durch Geschlechterrollen und -stereotype beeinflusst [6, 7, 8, 9, 10]. Dabei wirken sich diese zum Teil direkt auf das gesundheitsrelevante Verhalten aus, und zwar insbesondere dann, wenn es klare geschlechtsabhängige „Gebote“ oder „Verbote“ gibt. Beispiele sind der Gruppendruck in Richtung starken Trinkens oder die Demonstration von Männlichkeit über gesundheitliches Risikoverhalten wie z. B. riskantes und schnelles Autofahren in bestimmten männlichen Populationen [11]. Hingegen gilt die weite Verbreitung eines unnatürlich dünnen Schönheitsideals in den Medien als eine wichtige Ursache für die Entwicklung von Essstörungen bei Frauen. Allerdings steigt seit einigen Jahren – einhergehend mit Veränderungen der weiblichen Rolle – gerade in der Gruppe der Mädchen und jungen Frauen der Tabak- und Alkoholkonsum an, sodass hier eine gewisse Angleichung im Verhalten der Geschlechter zu beobachten ist [12].

Indirekt wirken Geschlechterrollen auf die Gesundheit, indem sie durch Prozesse der Sozialisation, Erziehung und sozialen Interaktion die Entwicklung individueller Merkmale wie Persönlichkeitsmerkmale, Geschlechtsrollen-Selbstkonzept und gesundheitsrelevante Selbsteinschätzungen bei Männern und Frauen beeinflussen. Diese individuellen Merkmale können sich wiederum über verschiedene vermittelnde Pfade auf die Gesundheit auswirken [10]. Ein Pfad führt über gesundheitsrelevantes Verhalten wie Risikoverhalten, gesundheitsförderndes Verhalten sowie den Umgang mit Stress (Coping); ein anderer Pfad führt über die emotionale und physiologische Stressreaktivität [13]. Bedeutsam ist insbesondere die Identifikation mit gesellschaftlichen Geschlechterrollen im Selbstkonzept (auch Geschlechtsrollen-Selbstkonzept [14]). Dieses wird meist über Selbstbeschreibungen mit Persönlichkeitseigenschaften erfasst, die als typischer für das männliche (wie selbstsicher, aktiv, durchsetzungsfähig) oder das weibliche Geschlecht (wie fürsorglich, einfühlsam, hilfsbereit) gelten.

Die Bedeutung dieses Geschlechtsrollen-Selbstkonzeptes wurde beispielsweise in einer Studie zur Stressreaktivität untersucht. Im Labor wurde eine Bewerbungssituation simuliert, in der die subjektive und kardiovaskuläre Stressreaktivität erfasst wurden [15]. Es zeigte sich, dass das Geschlechtsrollen-Selbstkonzept zur Vorhersage der Stressreaktivität wichtiger war als das biologische Geschlecht. Personen mit einem maskulinen Selbstkonzept beschrieben sich erwartungsgemäß in den verschiedenen Aufgabenphasen als vergleichsweise wenig gestresst, wiesen jedoch gleichzeitig, insbesondere während des Selbstdarstellungsvortrags und des anschließenden Bewerbungsinterviews, deutlich stärkere Anstiege im Blutdruck auf als Personen mit einem femininen Selbstkonzept. Eine solche emotional-kardiovaskuläre Reaktionsdissoziation, die auch für einen defensiven Stressbewältigungsstil typisch ist [13, 16], kann aus verschiedenen Gründen gesundheitsschädlich sein: Einerseits könnte die eigene objektive Stressbelastung unterschätzt oder verdrängt werden, eine gesundheitsgefährdende Selbstüberforderung (z. B. im Berufsleben oder im Sport) könnte die Folge sein. Andererseits können Personen mit einem solchen Verhaltensmuster auch auf andere Personen sehr sicher und gelassen wirken. In der ärztlichen Anamnese wird das Thema Stress oder Überforderung bei solchen Personen unter Umständen zu wenig beachtet.

Geschlechterunterschiede bei der Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe

Frauen nutzen medizinische Dienstleistungen und Hilfsangebote deutlich häufiger als Männer, und zwar zu kurativen sowie präventiven Zwecken. In den USA werden beispielsweise ca. zwei Drittel aller Klinikbesuche von weiblichen Patienten unternommen [17]. Eine Analyse der bundesweiten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2007 erbrachte, dass Frauen im Durchschnitt 20 Arztkontakte pro Jahr hatten, Männer dagegen nur 14 [18]. Nur zu einem gewissen Teil kann diese Differenz auf gynäkologische Indikationen zurückgeführt werden. Bereits in der Münchner Blutdruckstudie zeigte sich bei Männern ein stärkerer Zusammenhang zwischen chronischen Krankheiten und Arztbesuchen als bei Frauen. Es wurde vermutet, dass Frauen wegen leichterer und akuter Leiden eher ärztliche Hilfe aufsuchen, während Männer länger warten: „Männer gehen wahrscheinlich erst dann zum Arzt, wenn sie bereits manifeste physische Leiden haben.“ ([19], S. 152) Diese Vermutung wurde in mehreren nachfolgenden Studien mit unterschiedlicher Methodik bestätigt. Einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung im Alter zwischen 14 und 92 Jahren wurde beispielsweise eine Liste mit krankheitsrelevanten körperlichen Symptomen mit der Frage vorgelegt, ob sie bei diesen Symptomen einen Arzt aufsuchen würden. Männer waren auch bei relativ eindeutigen körperlichen Symptomen vergleichsweise weniger motiviert, einen Arzt aufzusuchen. Außerdem gab es unter Männern mehr arzt-“averse“ Personen, d. h. Personen mit einer besonders skeptischen Einstellung Ärzten gegenüber [20].

Männer und Frauen scheinen zum Teil unterschiedliche Kriterien zur Definition von „Behandlungsbedürftigkeit“ anzuwenden. Dabei nehmen Frauen eher Symptome wahr, sehen diese als behandlungsbedürftig an und suchen auch eher aus präventiven Gründen ärztliche Hilfe auf. Sobald sich Männer jedoch selbst als krank definiert und einen Arzt oder eine Ärztin aufgesucht haben, unterscheidet sich ihr weiteres Inanspruchnahmeverhalten nicht mehr von dem der Frauen. Dies ergaben differenzierte Analysen der Kennziffern zur ambulanten Inanspruchnahme des Nationalen Gesundheitssurvey mit dem Fazit: „Männer gehen seltener und sie gehen auch weniger regelmäßig zum Arzt; wenn sie aber in eine Behandlungsperiode eintreten, dann gehen sie in diesem Zeitintervall keineswegs seltener zum Arzt als die Frauen.“ ([21], S. 31)

Mit zunehmendem Alter verlieren die Geschlechterunterschiede bei der Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe an Bedeutung; im hohen Alter verschwinden sie ganz. In der Berliner Altersstudie [22], in der Männer und Frauen im Alter von 70 bis 100 Jahren untersucht wurden, ließen sich keine Geschlechterunterschiede bei der Inanspruchnahme medizinischer Hilfe mehr feststellen. Männer und Frauen unterschieden sich weder in der Häufigkeit der Hausarztkontakte noch in der Zahl der eingenommenen Medikamente.

Die größten Geschlechterunterschiede finden sich bei der Inanspruchnahme präventiver Angebote. So ist bei Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, die unter anderem von Krankenkassen angeboten werden, regelmäßig nur eine Minderheit der Teilnehmer männlich [23]. 2009 nahmen 76% Frauen vs. 24% Männer an primärpräventiven Angeboten zur Bewegung teil, zur Ernährung 81% vs. 19%, zur Stressbewältigung 83% vs. 17%. Bei Angeboten zum Suchtmittelkonsum fiel die Differenz mit 53% vs. 47% am geringsten aus [24].

Um zu untersuchen, inwieweit diese Geschlechterunterschiede durch Geschlechtsrollenerwartungen erklärt werden können, wurden in einer Studie Medizinstudierende sowie Ärzte und Ärztinnen, die an einer Universitätsklinik arbeiteten, gefragt, ob sie Interesse hätten, an einem Stressbewältigungskurs teilzunehmen [25, 26]. Neben der subjektiven Stressbelastung wurde auch das Selbstkonzept anhand eines semantischen Differentials erfasst und überprüft, wie ähnlich dieses einem traditionell männlichen Stereotyp (dem „Marlboro-Mann“ aus der Kinowerbung) war. Dieses Stereotyp war in einer Vorstudie anhand des gleichen semantischen Differentials ermittelt worden. Es zeigte sich, dass Mediziner deutlich weniger als Medizinerinnen motiviert waren, an einem Stressbewältigungskurs teilzunehmen. Darüber hinaus erwies sich die Maskulinität (definiert über die Ähnlichkeit zum „Marlboro-Mann“-Stereotyp) des Selbstkonzeptes als ein relevanter Prädiktor für das Interesse, und zwar in stärkerem Maße beim männlichen Geschlecht. Unabhängig von ihrer subjektiven Stressbelastung konnten sich Medizinstudierende und Ärzte, die ein traditionell maskulines Selbstkonzept aufwiesen, deutlich seltener vorstellen, an einem Stressbewältigungskurs teilzunehmen, als Mediziner, die ein weniger traditionelles Selbstkonzept aufwiesen. Nach den Gründen befragt, warum sie nicht interessiert seien, antwortete pars pro toto einer der Befragten: „Ich bewältige meinen Stress selbst!“

Auch von den in Deutschland angebotenen und von den Krankenkassen bezahlten Standarduntersuchungen zur Krebsfrüherkennung machen deutlich weniger Männer als Frauen regelmäßig Gebrauch. Die Hochrechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Vereinigung ergaben beispielsweise, dass innerhalb eines Jahres ungefähr jede zweite anspruchsberechtigte Frau die Untersuchungen zur Standard-Krebsfrüherkennung in Anspruch nimmt, aber nur jeder fünfte Mann [27]. In einer Erhebung in 29.000 bundesdeutschen Haushalten zeigte sich, dass 29% der befragten Männer im Alter von 50 bis 70 Jahren noch nie einen Stuhlbluttest zur Darmkrebsfrüherkennung hatten durchführen lassen, bei den Frauen lag diese Quote bei 17,5%. Regelmäßig, d. h. alle 1 bis 2 Jahre, nutzten nach eigenen Angaben 62,5% der Frauen, aber nur 46% der Männer diesen Test [28]. In der gleichen Erhebung fand sich auch ein deutlicher Geschlechterunterschied in der Wahrnehmung einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung („Checkup 35“). Jeder vierte Mann gab an, noch nie einen solchen Checkup gemacht zu haben (Frauen: 14%), deutlich weniger Männer als Frauen gaben an, sich regelmäßig, d. h. alle 1 bis 2 Jahre, einem Gesundheits-Checkup zu unterziehen (46 vs. 62%).

In einer Fokusgruppenstudie mit Männern im Alter von 45 bis 60 Jahren wurden Gründe für Geschlechterunterschiede im präventiven Verhalten (insbesondere bei der Inanspruchnahme von Krebsfrüherkennungsuntersuchungen) erfragt. Als ein wichtiger Grund wurde genannt, dass Männer eine andere Beziehung zu ihrer Gesundheit und ihrem eigenen Körper hätten und nicht – wie Frauen – bereits wegen „Bagatellerkrankungen“ zum Arzt gingen. Die typische Äußerung eines Fokusgruppenteilnehmers soll hier stellvertretend für andere zitiert werden: „Und der Mann sagt einfach, das tut weh. Ich meine, das geht uns wahrscheinlich allen so. Da tut was weh, und trotzdem geht er zur Arbeit und rennt nicht gleich zum Arzt.“ [29]

Hinweise auf ähnliche Hinderungsgründe erbrachte eine Fokusgruppenstudie, in der US-amerikanische niedergelassene Allgemeinmediziner(innen) über die Gründe diskutierten, warum Männer bei medizinischen Problemen weniger und später ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen [30]. Faktoren, die mit der traditionellen männlichen Rolle zusammenhängen, wie das Gefühl der eigenen Unverletzlichkeit, die Schwierigkeit, Kontrolle abzugeben und Hilfe in Anspruch zu nehmen, wurden auch hier als persönliche Barrieren identifiziert.

Abhängigkeit der Diagnose und Therapie von Krankheiten vom Geschlecht des Patienten

Geschlechterrollen und -stereotype wirken nicht nur auf das Selbstkonzept und die Selbstbeurteilung, sondern auch auf die Beurteilung anderer Personen. So wird vermutet, dass männliche und weibliche Patienten von Ärzten und Ärztinnen unterschiedlich wahrgenommen und behandelt werden. In einer qualitativen Studie bei (männlichen) Ärzten wurden Stereotype von männlichen und weiblichen Patienten erfragt. Dabei stellte sich heraus, dass ein Krankheitsverhalten, das eher von weiblichen Patienten erwartet wird: „more frequent attending … more trivial problems … more trivial medical speaking“ von Ärzten bei männlichen Patienten als „unmännlich“ wahrgenommen wurde [31]. Der empirische Nachweis geschlechtsabhängiger Fremdbeurteilungsbiases bei der Diagnose und Therapie von Beschwerden und Krankheiten ist jedoch sehr schwierig, da andere Einflussvariablen kaum kontrolliert werden können. Dennoch gibt es einige Studien, die abhängig vom Geschlecht der Patienten/Patientinnen systematische Unterschiede in der Diagnose und Therapie nachweisen konnten.

In einer prospektiven Beobachtungsstudie aus den USA (basierend auf Daten von 1500 Patienten und 350 Ärzten) wurde gezeigt, dass Ärzte und Ärztinnen ihren Patientinnen im Vergleich zu männlichen Patienten mit äquivalenten Beschwerdemerkmalen mehr als 3-mal so häufig eine Einschränkung ihrer alltäglichen Aktivitäten empfahlen [32]. Dieser Unterschied bei den therapeutischen Empfehlungen konnte nicht auf Differenzen in der Gesundheit der Patienten und auch nicht auf deren Rollenverpflichtungen (wie Erwerbstätigkeit) zurückgeführt werden. Vielmehr waren die unterschiedlichen Therapieempfehlungen das Resultat von Geschlechterunterschieden im Krankheitsverhalten der Patienten sowie eines Geschlechterbias der behandelnden Ärzte.

Auch bei der koronaren Herzkrankheit (KHK) wurden Ungleichheiten bei der Diagnose und Behandlung von Männern und Frauen beobachtet [33]. Da gerade die KHK nach wie vor als „Männerkrankheit“ gilt, scheinen Frauen sowie behandelnde Ärzte entsprechende Symptome bei Frauen seltener auf eine mögliche Herzerkrankung zurückzuführen. So erwies sich in einer Studie mit 5000 KHK-Patienten, dass bei Frauen die Diagnose KHK im Durchschnitt erst nach 68 Monaten andauernder klinischer Beschwerdesymptomatik gestellt wurde, während dies bei Männern schon nach 9 Monaten der Fall war [34].

Zur Überprüfung geschlechtsabhängiger Fehlurteile in der medizinischen Behandlung von KHK-Patienten bekamen in experimentellen Studien [35] Medizinstudierende und Ärzte Patientenvignetten zu lesen, in denen Patienten eindeutige KHK-Symptome aufwiesen. Manipuliert wurden in den Vignetten das Geschlecht der Patienten sowie Berichte über Stresssymptome bei ihnen. Die Studienteilnehmer sollten die Herkunft der Symptome erklären, eine Diagnose stellen sowie eine Behandlungsempfehlung geben. Bei weiblichen Patienten wurde die Diagnose KHK signifikant seltener gestellt. Auch eine Überweisung an einen Kardiologen erfolgte weniger häufig als bei Männern, und zwar besonders deutlich dann, wenn Patientinnen als gestresst und ängstlich beschrieben wurden. In diesem Fall wurde von den Medizinern bzw. Medizinerinnen die Herkunft der Symptome häufiger auf psychogene Ursachen (im Vergleich zu organischen) zurückgeführt. In einer weiteren experimentellen Studie wurden erfahrenen Ärzten und Ärztinnen Videoaufnahmen von Simulationspatienten, die klassische Symptome einer KHK äußerten, gezeigt [36]. Ärzte wie Ärztinnen konnten häufiger bei Frauen als bei Männern mittleren Alters die Symptome nicht korrekt zuordnen, sodass bei Frauen seltener die Diagnose KHK gestellt und ihre Symptome signifikant häufiger auf eine psychische Störung zurückgeführt wurden (31% vs. 16%). Auch in einer Untersuchung mit Muskeldystrophiepatienten wurde die korrekte somatische Diagnose bei Frauen im Durchschnitt mehr als 3 Jahre später als bei Männern gestellt und das Krankheitsgeschehen zunächst häufig psychosomatisch gedeutet [37].

Diese experimentellen Studien sind erste Hinweise auf mögliche Fehlurteile bei der ärztlichen Urteilsbildung und Therapieempfehlung in Abhängigkeit vom Geschlecht der Patienten. Man muss allerdings davon ausgehen, dass im klinischen Alltag komplizierte Wechselwirkungsprozesse vorliegen. Ausgehend von einer unterschiedlichen Selbstwahrnehmung und Ursachenzuschreibung von Beschwerden auf Patientenseite sind Geschlechterunterschiede in der Interaktion mit behandelnden Ärzten anzunehmen. So führen Frauen Krankheitssymptome häufiger als Männer auf Stress und psychische Probleme zurück [38]. Aber auch Ärzte und Ärztinnen neigen bei Frauen eher dazu, das Krankheitsgeschehen psychosomatisch zu deuten. Dies kann zu Beobachterfehlern führen, die eine korrekte somatische Diagnose verzögern oder sogar verhindern können. Umgekehrt können ein traditionell männliches Selbstkonzept und das damit verbundene Verhaltensmuster seitens des Patienten dazu führen, dass Stress sowie psychische und psychosomatische Symptome von Männern in der ärztlichen Untersuchung nicht benannt und von ihren Ärzten bzw. Ärztinnen übersehen werden [39]. Tatsächlich zeigte sich z. B. in einer prospektiven Studie mit 500 Patientinnen und Patienten von Allgemeinmedizinern in den USA, dass bei gleich hohen, klinisch relevanten Depressionswerten die Diagnose „Depression“ bei Männern seltener gestellt wurde als bei Frauen [17].

Abhängigkeit der A-P-Kommunikation vom Geschlecht der interagierenden Personen

Als im Jahr 1906 die erste Frau in Deutschland ein Medizinstudium aufnahm [40], konnte man nicht ahnen, dass etwa 100 Jahre später weibliche Studierende die Mehrheit der zum Medizinstudium Zugelassenen bilden würden. In Deutschland sind inzwischen mehr als 60% der Medizinstudierenden weiblich [41]. Eine ähnliche Entwicklung wird auch in anderen europäischen Staaten und in den USA beobachtet. Obwohl sich die Gesundheitssysteme dieser Länder und ihre sozialen Zusammenhänge durchaus voneinander unterscheiden, zeigt sich überall ein ähnliches Muster mit Blick auf die horizontale und vertikale Aufteilung der Geschlechter: Frauen sind in bestimmten Arbeitsfeldern überrepräsentiert und in höheren Positionen unterrepräsentiert [42]. Der für die Zukunft zu erwartende hohe Anteil an Frauen im Arztberuf wird zuweilen als „Feminisierung der Medizin“ etikettiert. Es ist anzunehmen, dass der hohe Frauenanteil auch den ärztlichen Alltag und die Patientenversorgung beeinflussen wird. Nach den Ergebnissen mehrerer US-amerikanischer Studien wandten Ärztinnen beispielsweise mehr Zeit für die psychosoziale Beratung sowie für präventive Untersuchungen auf als ihre männlichen Kollegen [17].

Parallel zu einer Erhöhung des Frauenanteils im ärztlichen Beruf haben sich in den letzten Jahrzehnten die Anforderungen an die A-P-Kommunikation gewandelt – weg von einem paternalistischen Modell hin zu einer stärkeren Einbindung der Patientinnen und Patienten in die Entscheidungsfindung [43]. Eine patientenorientierte Gesprächsführung, Partizipation und Information charakterisiert das sich wandelnde A-P-Verhältnis und wird von einem großen Teil der Patienten und Patientinnen eingefordert. Der Kommunikationsstil des Arztes oder der Ärztin ist assoziiert mit der Zufriedenheit und dem Vertrauen der Patienten und Patientinnen und hat damit – teilweise vermittelt über die Kooperationsbereitschaft – Folgen für die Gesundheit [38].

Analysen zum Kommunikationsverhalten im Alltag ergaben, dass Frauen einen vergleichsweise wärmeren und ausdrucksvolleren Kommunikationsstil haben und ihre Gesprächspartner häufiger zu einer offenen und intimen Kommunikation ermutigen. Außerdem können sie nonverbale Hinweise auf Gefühle und Persönlichkeitsmerkmale ihres Gesprächspartners besser erkennen [44]. Studien zur A-P-Kommunikation fanden ähnliche Geschlechterunterschiede. Eine metaanalytische Übersichtsarbeit mit 7 Beobachtungsstudien untersuchte den Zusammenhang zwischen dem Geschlecht des Arztes und dem Patientenverhalten in der A-P-Interaktion [45]. Im Gespräch mit einer Ärztin sprachen die Patienten und Patientinnen länger und gaben mehr biomedizinische und psychosoziale Informationen preis. Es gab mehr „positive“ Gespräche, die Patienten fühlten sich selbstsicherer und unterbrachen das Gespräch häufiger. (Diese Ergebnisse wurden primär bei Patienten in der Allgemeinmedizin ermittelt und lassen sich deshalb nicht auf die Interaktionen mit Ärzten und Ärztinnen in anderen Disziplinen übertragen.) In einem weiteren metaanalytischen Review mit 29 Studien wurde das ärztliche Kommunikationsverhalten abhängig vom Geschlecht des Arztes untersucht [46]. Ein wichtiges Ergebnis dieser Analyse war, dass sich Ärztinnen stärker um ein partnerschaftliches Verhalten bemühten und einen größeren Fokus auf psychosoziale Faktoren legten, und zwar sowohl bei ihren Fragen als auch bei ihren Empfehlungen. Auch in dieser Analyse zeigte sich ein größerer Anteil an „positiven“ Gesprächen bei Konsultationen mit Ärztinnen. Unterschiede in der Menge, Qualität oder Art der biomedizinischen Informationen waren nicht zu erkennen. Allerdings dauerten die Konsultationen durchschnittlich 2 Minuten (ca. 10%) länger, wenn sie mit einer Ärztin stattfanden. Die signifikanten Ergebnisse der beiden Metaanalysen sind in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Metaanalysen zum Einfluss des Geschlechts auf die Arzt-Patienten-Kommunikation: signifikante Effekte

Das Ergebnis der zweiten Metaanalyse, dass die Konsultationen bei den Ärztinnen länger dauerten, findet eine Entsprechung in einer deutschen Studie [40], in der gezeigt wurde, dass Ärzte pro Quartal in einer vergleichbaren Praxis mehr Scheine abrechneten als ihre weiblichen Kolleginnen. Die Anzahl der Krankenscheine, die mit der Anzahl der Patienten pro Zeiteinheit korrelierte, legt den Schluss nahe, dass sich Ärztinnen mehr Zeit für den einzelnen Patienten bzw. die einzelne Patientin nahmen. Ein weiterer Geschlechterunterschied bestand darin, dass Allgemeinmediziner durchschnittlich 70% ihrer Patienten selbst sahen, während dieser Anteil bei den Ärztinnen in den Allgemeinarztpraxen bei 79% lag. Dies könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass es bei Ärztinnen zumindest im Durchschnitt mehr individuelle Zuwendung für den einzelnen Patienten gibt. Damit einher geht allerdings ein durchschnittlich geringeres Einkommen für Ärztinnen, das ebenfalls belegt ist [40]. So verdienten im Jahr 2006 in Deutschland Vollzeit arbeitende Medizinerinnen 24% weniger als ihre männlichen Kollegen in vergleichbaren Positionen [47].

Ausblick

Geschlechterrollen und -stereotype beeinflussen das Gesundheitsverhalten von Patienten und Patientinnen. Männer gehen oft mit körperlichen Symptomen erst später, wenn die Krankheit schon weiter fortgeschritten ist, in ärztliche Behandlung und sind weniger leicht für präventive Untersuchungen zu motivieren. Außerdem zeigen Männer häufiger einen defensiven Stressbewältigungsstil, d. h., sie präsentieren nach außen ein eher „stoisches“ Selbstkonzept, auch wenn sie unter hoher Belastung stehen. Es besteht daher die Gefahr, dass psychosomatische Symptome und psychische Störungen bei Männern übersehen werden [39]. Umgekehrt besteht bei Frauen, die im Allgemeinen eine höhere Aufmerksamkeit für körperliche Symptome zeigen und auch eher bereit sind, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, die Gefahr, dass organische Ursachen fälschlicherweise auf psychische Störungen zurückgeführt werden. Das Geschlecht der Patienten sowie auch der Ärzte hat Auswirkungen auf die A-P-Interaktion sowie auf die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen, und zwar vor allem vermittelt über Geschlechterrollen und -stereotype. Das heißt, dass das Verhalten von Patientinnen und Patienten von Geschlechtsrollenerwartungen und -stereotypen beeinflusst wird, aber auch das Verhalten von Ärzten und Ärztinnen.

Daraus lassen sich Empfehlungen für die ärztliche Ausbildung und Praxis ableiten. Um Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen zu vermeiden, ist es ratsam, Ärzten und Ärztinnen schon in der medizinischen Ausbildung bewusst zu machen, dass Geschlechterrollen und -stereotype sowohl das Verhalten von Patienten und Patientinnen als auch das eigene Verhalten beeinflussen können. Eine Forderung ist daher die Implementierung von Geschlechteraspekten in das medizinische Curriculum. In Kanada wurden beispielsweise Gender-Kompetenzen in der ärztlichen Kommunikation explizit definiert. Danach sollte ein Arzt bzw. eine Ärztin fähig sein:

  1. a)

    in der ärztlichen Kommunikation Informationen aus einer Gender-Perspektive zu erfragen und zusammenzufassen,

  2. b)

    die Einflüsse des biologischen und sozialen Geschlechts („sex- und gender-based influences“) auf die Gesundheit zu verdeutlichen und

  3. c)

    Möglichkeiten aufzuzeigen, mit diesen Einflüssen umzugehen (CanMEDS Role, zit. in: [48]).

Noch differenzierter wurden kürzlich von einer Expertenkommission 4 zentrale Kriterien für eine geschlechtersensible, von Vorurteilen freie Kommunikation formuliert [49].Footnote 1 Eine Herausforderung besteht darin, diese Kriterien in der medizinischen Ausbildung nach dem Motto umzusetzen: „From gender bias to gender awareness in medical education“ [50].

In Deutschland kann die Charité-Universitätsmedizin Berlin als Vorreiter gelten; dort hat die Geschlechtermedizin einen Platz im regulären medizinischen Curriculum ([51], darin f47–f48). In dem seit dem Wintersemester 2010 laufenden Modellstudiengang Medizin an der Charité werden ärztliche Kompetenzen in der Kommunikation, Interaktion und Teamarbeit zu einem frühen Zeitpunkt im Medizinstudium trainiert. Dabei werden Geschlechteraspekte in der Arzt-Patient-Beziehung reflektiert und der Umgang mit geschlechtstypischen Kommunikationsschwierigkeiten praktisch eingeübt.

Zu Beginn des Beitrags wurde ausgeführt, dass das Geschlecht teilweise durch gesellschaftliche Erwartungen konstruiert wird, die sich an die „Träger“ des männlichen oder weiblichen biologischen Geschlechts richten. Folgt man dieser Argumentation, ist davon auszugehen, dass viele der oben ausgeführten Geschlechterunterschiede zeit- und kulturabhängig sind. Der erhöhte Frauenanteil im Arztberuf zeigt ja gerade, wie sehr Rollenzuweisungen und Rollenklischees einem Wandel unterworfen sind. Ebenso wenig dürfte das Kommunikationsverhalten von Ärzten und Ärztinnen in den möglichen A-P-Dyaden ein Fixum sein. Welchen Einfluss die „Feminisierung der Medizin“ tatsächlich in den kommenden Jahren haben wird und wie sich dieser manifestiert, bleibt abzuwarten.