In Deutschland hatten im Jahr 2010 19,3% der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund [1]. Diese vermeintlich einheitliche „Bevölkerungsgruppe“ umfasst tatsächlich vielfältige heterogene Gruppen, also Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, aus verschiedenen Migrationsgenerationen, mit unterschiedlichen Bildungsniveaus, unterschiedlichem Aufenthaltsstatus und divergenten sozioökonomischen Lebenssituationen etc. Seit Beginn der 1990er-Jahre werden die Barrieren zum bzw. im Sozial- und Gesundheitswesen, die einer qualitativ gleichwertigen Versorgung von Menschen mit MigrationshintergrundFootnote 1 entgegenstehen, thematisiert. Es wurde unter anderem eine meist geringere Inanspruchnahme durch Personen mit Migrationshintergrund erkennbar, die als Unter-, Über- oder Fehlversorgung charakterisiert wurde [2]. Verantwortlich hierfür können unterschiedliche Faktoren sein, die den Weg in das Versorgungssystem verhindern bzw. verzögern. So gelten als diesbezügliche Einflussfaktoren z. B. alternative innerfamiliäre Bewältigungsstrategien [3], Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen [4], eine fehlende Motivation zur Therapieaufnahme aufgrund von Frustration, sozialem Ausschluss und Perspektivlosigkeit [5]. Eine Unterversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in psychotherapeutischen ambulanten Angeboten [6] kann beispielsweise zu einer „Überversorgung“ im Sinne einer gesteigerten Inanspruchnahme von Notfalleinrichtungen führen [7]. Auch kann die konkrete Behandlungssituation komplikationsreich sein und die erfolgreiche Therapie erschweren. Hohe Abbruchquoten der Behandlung [8] und Hinweise auf Fehlbehandlungen und Fehldiagnosen [9] bekräftigen dieses Bild. So konnten Studien bei Menschen mit Migrationshintergrund in psychiatrischen Kliniken eine signifikante Zunahme der Diagnosen aus dem Spektrum der Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen (F2) feststellen, wofür u. a. Fehldiagnosen verantwortlich sein können [9, 10, 11]. Ebenso wird abweisendes Verhalten, die Wirkung unbewusster Vorurteile, Befürchtung von Mehrarbeit aufseiten der Behandelnden als hinderlich für ein zufriedenstellendes und erfolgreiches Behandlungssetting beschrieben [12].

Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über mögliche Barrieren im konkreten interkulturellen psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlungssetting und benennt individuelle, institutionelle sowie strukturelle Schritte, die dort notwendig und möglich wären, um ein zufriedenstellendes therapeutisches Behandlungssetting für Menschen mit Migrationshintergrund und Professionelle zu gewährleisten.

Mögliche Barrieren im psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlungssetting

Die Faktoren, die hier für Schwierigkeiten im diagnostischen/therapeutischen Setting verantwortlich sein können, sind sehr vielfältig. Sie können sich sowohl auf der individuellen Ebene aller Beteiligten als auch auf struktureller, systemischer Ebene bewegen [13].

„Kulturelle Missverständnisse“

Begegnen sich 2 Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, kann dies von Neugier, aber auch Unsicherheiten begleitet sein. Die Begegnung mit dem vermeintlich oder tatsächlich fremden Anderen sowie die Auseinandersetzung mit anderen Wertorientierungen und wenig vertrauten Rollen können hohe Anforderungen an interkulturelle Behandlungskontexte stellen [14]. Sie können von Verständigungsschwierigkeiten und „kulturellen“ Missverständnissen begleitet sein ([15, 16]; Infobox 1). Diese können beispielsweise aus unterschiedlichen Vorstellungen zu Raum, Ort und Zeit resultieren: So wird beispielsweise im arabischen Raum eine Verspätung im Zusammenspiel mit der jeweiligen sozialen Rolle interpretiert. Dabei wird das Zuspätkommen einer sozial höher stehenden Person eher erwartet. Im deutschen Kontext wird eine derartige Verspätung, unabhängig von den vorliegenden sozialen Rollenunterschieden, als eine Geringschätzung und Respektlosigkeit empfunden und steht in Konflikt mit den zeitlich knappen Ressourcen des therapeutischen Arbeitsalltags [15]. Wenn solche evtl. vorliegenden Unterschiede nicht reflektiert werden, können sie zu kommunikativen Hemmungen, aber auch zu Frustrationen bei den Behandelnden und den PatientInnen bis hin zu Fehldiagnosen führen [14].

Unterschiedliche Erwartungshaltungen und Erklärungsmodelle

Auch scheinen unterschiedliche Erwartungshaltungen zwischen Behandelnden und PatientInnen mit Migrationshintergrund sowie Missverständnisse über die Bedeutung von „Therapie“ vorzuliegen. So wird darauf hingewiesen, dass beispielsweise PatientInnen mit türkischem Migrationshintergrund oftmals direkte, lebenspraktische Hilfe vom Behandelnden erwarten. Im Gegensatz dazu verfolgen „westliche“ Konzepte eher das Ziel, eigene Ressourcen, die Selbstverantwortlichkeit und Autonomie zu stärken und eine sachlich distanzierte, partnerschaftliche Haltung gegenüber PatientInnen einzunehmen. Diese unterschiedlichen Erwartungen und Haltungen führen nicht selten zu einer konfliktreichen therapeutischen Beziehung oder zu deren Abbruch [17].

Auch unterschiedliche Erklärungsmodelle der Beteiligten können eine Behandlung im interkulturellen Setting erschweren [18, 19]; dadurch werden die Behandlungszufriedenheit [20] und Compliance [21] beeinflusst. Die „westliche“ Schulmedizin, die auf naturwissenschaftlich fundiertem Wissen basiert, neigt dazu, das Krankheitsgeschehen auf einen Teil des Körpers zu begrenzen und vor allem den betroffenen Organismus in seinem Nichtfunktionieren zu betrachten [22]. In vielen Ländern werden aber Krankheits- und Gesundheitsmodelle eng mit religiösen Ansätzen, sozialen Systemen oder übernatürlich orientierten Erklärungs- und Handlungsmustern verbunden [15, 23, 24]. Im türkischen Kontext kann ein gesundheitliches Problem als etwas, das von außen in den Körper eindringt und diesen in Besitz nimmt, erlebt werden [23, 24]. Subjektive oder gruppenspezifische Gesundheits- und Krankheitskonzepte prägen die Symptomdarstellung und -interpretation. Dies erfordert von Behandelnden, die Variabilität von Erklärungsmodellen in der Praxis zu berücksichtigen.

Beispielsweise wurden in einer Untersuchung zu Erklärungsmodellen und generellen Erklärungsmustern von abhängigem Verhalten bei deutschen Jugendlichen und Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten deutlich [5, 25]. Die Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund orientierten sich im Gegensatz zu den einheimisch Deutschen oftmals näher am schulmedizinischen Suchtverständnis und unterschieden kaum zwischen „legalen“ und „illegalen“ Drogen. Gleichzeitig lehnten viele Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund klassische Suchtbeschreibungen wie „körperliche Abhängigkeit“ oder Begriffe der Kontrollminderung (z. B. „nicht ohne Hilfe davon wegkommen“) als unwichtig zur Beschreibung von abhängigem Verhalten ab [5, 25]. Da Kontrollminderung als wesentliches Kennzeichen der schulmedizinischen Abhängigkeitsbeschreibung gilt [26], besteht hier ein wichtiger Unterschied. Dass diese unterschiedlichen Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen sowie die damit einhergehenden Symptomausprägungen und -darstellungen Einfluss auf die Behandlungssituation nehmen, konnte eine Befragung von psychiatrisch-psychotherapeutischen Weiterbildungsermächtigten der Weiterbildungsinstitutionen bestätigen [27]. Viele der befragten Professionellen verwiesen auf diagnostische Schwierigkeiten und damit verbunden auf einen erhöhten Zeitaufwand aufgrund der anderen Ausdrucksformen psychischer Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund [27].

Diagnoseunschärfe psychiatrischer Instrumente

Gleichermaßen wird häufig auf die Diagnoseunschärfe vorliegender psychiatrischer Instrumente, die im Hinblick auf Krankheitskonzepte spezifisch für den euroamerikanischen Raum entwickelt wurden und auf einer ethnozentristischen Perspektive beruhen, aufmerksam gemacht [28]. Die psychometrischen Instrumente eignen sich daher im Allgemeinen nicht für die Diagnostik bei Menschen aus anderen kulturellen Kontexten. Die wenigen vorliegenden Übersetzungen sind meist nicht in den entsprechenden Herkunftsländern validiert worden. Die Testdiagnostik im Bereich der transkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie stellt sich daher als problematisch dar [29].

Sprachliche Verständigung

Einige Menschen mit Migrationshintergrund verfügen nicht über ausreichende Deutschkenntnisse, um Begrifflichkeiten zu Körper, Gesundheit, Befinden und Sexualität benennen zu können [24]. Die sprachliche Verständigung spielt jedoch im Kontext von Gesundheit und Krankheit eine wesentliche Rolle. Ohne Verständigungsmöglichkeiten sind eine Anamneseerhebung, Diagnostik und Therapie nur schwer durchführbar und im psychiatrisch/psychotherapeutischen Behandlungskontext nahezu unmöglich.

In der genannten Befragung psychiatrisch-psychotherapeutischer Weiterbildungsermächtigter gaben 77% an, auf sprachliche Verständigungsschwierigkeiten bei der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund zu treffen [27]. Welche Auswirkungen dies haben kann, verdeutlichen z. B. Ergebnisse einer Untersuchung bei Patientinnen mit türkischem Migrationshintergrund und einheimisch deutschen Patientinnen in einer Berliner Frauenklinik [30]. Geringe Deutschkenntnisse von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund korrelierten mit einer schlechten Informiertheit über die Diagnose und Behandlung sowie mit einem Informationsverlust während eines stationären Aufenthaltes und der damit einhergehenden therapeutischen Aufklärungsprozesse [30]. Verständigungsprobleme im therapeutischen Kontext führen außerdem zu geringeren Arztkonsultationen, einem geringeren Verständnis ärztlicher Erläuterungen, häufigeren Laboruntersuchungen und vermehrter Inanspruchnahme von Rettungsstellen [31].

Mögliche Ansätze zur Verbesserung der Interaktion und Kommunikation im interkulturellen Behandlungssetting

Vor dem Hintergrund der dargestellten Probleme von Menschen mit Migrationshintergrund sowohl beim Zugang zu als auch bei der Versorgung im Gesundheitssystem werden in Deutschland sowie in anderen europäischen Ländern Maßnahmen zur Verbesserung der Interaktion und Kommunikation im interkulturellen Behandlungssetting diskutiert und umgesetzt [32].

Der institutionelle Rahmen für interkulturelle Behandlungssettings

Im Rahmen eines EU-ForschungsprojektesFootnote 2 wurden in 16 EU-Partnerländern jeweils 10 ExpertInnen in einem Delphi-Prozess befragt, was sie als „Best Practice“ für die Gesundheitsversorgung von ImmigrantenFootnote 3 erachten [33]. Im ersten Schritt wurde zunächst ein Konsens über die genannten Faktoren erzielt, um dann anschließend aus ihnen die internationalen „Top-Ten“ über alle 16 Länder hinweg zu ermitteln. Diese waren: „Gleicher Zugang“, „Empowerment hinsichtlich Gesundheit für Immigranten“, „Kultursensible Versorgung“, „Qualitativ gute Versorgung“, „Kommunikation“, „Respekt“, „Netzwerkarbeit“, „Aufsuchende Arbeit und Prävention“, „Wissen und Forschung bezüglich der Gesundheitsversorgung für Immigranten“ [33]. Drei dieser Faktoren beziehen sich auf die Interaktion von ÄrztInnen und PatientInnen im interkulturellen Setting. Dies sind: eine kultursensible Versorgung, die es für Professionelle erforderlich macht, kulturelle Einflussfaktoren in der Behandlung mitzudenken; die Kommunikation, die zwischen Ärzten und Ärztinnen und im multiprofessionellen Team ebenso wie zwischen Behandelnden und Inanspruchnehmenden stattfindet, und schließlich der Respekt gegenüber PatientInnen mit Migrationshintergrund.

Ein Großteil der auf EU-Ebene konsensfähigen Faktoren ist in Deutschland unter dem Begriff der „interkulturellen Öffnung von Regelversorgungsangeboten“ bekannt [34]. Diese zielt darauf ab, für Menschen mit Migrationshintergrund einen gleichwertigen und gleichberechtigten Zugang zum Sozial- und Gesundheitswesen und eine sensible Diagnostik und Therapie zu gewährleisten. Auch die von den psychiatrischen Fachgesellschaften formulierten „Sonnenberger Leitlinien“ [28] basieren auf der Idee der interkulturellen Öffnung. Hintergrund dieser Entwicklungen ist, dass nicht mehr die einseitige Anpassung der Menschen mit Migrationshintergrund an das Versorgungssystem in Deutschland erwartet wird, sondern die Öffnung und Qualifizierung des Systems selbst [28]. Dies schließt die Qualifizierung der Professionellen und damit auch der ÄrztInnen mit ein. Die Notwendigkeit zur interkulturellen Öffnung wird zunehmend in Politik und Praxis anerkannt [35]. Deshalb wurde in einer von der VW-Stiftung geförderten Studiengruppe zu „Seelischer Gesundheit und Migration“ („SeGeMi“)Footnote 4 ein Erhebungsinstrument zur Erfassung des Standes der interkulturellen Öffnung in der psychosozialen Versorgung entwickelt [36]. Das Instrument wurde anhand bereits vorliegender Checklisten und Fragebögen, einem webbasierten Delphi-Prozess mit 12 ExpertInnen und einer Piloterhebung in Einrichtungen der psychosozialen Versorgung entwickelt. Es fokussiert Themenkomplexe, die sich als wesentlich für eine interkulturelle Öffnung herauskristallisierten ([36]; Infobox 2).

Während einige dieser Qualitätsrichtlinien auf den Abbau der Zugangsbarrieren zum Versorgungssystem zielen, fokussieren andere auf die Verbesserung der Versorgung. Hierunter fällt beispielsweise die Einstellung von Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund, die als „Türöffner“ fungieren und die Inanspruchnahme des Versorgungssystems durch Menschen mit Migrationshintergrund erhöhen sowie aufgrund ihrer Sprachkenntnisse die Verständigung in der Behandlung verbessern sollen [12]. Zudem sollen sie ihr spezielles Wissen und damit eine besondere Reflektion „des Eigenen und des Fremden“ aufgrund ihrer Migrationsgeschichte und ihres Wissens um kulturelle Unterschiede in Behandlungssettings einbringen [37]. Demgegenüber ist eine Arbeitsteilung nach ethnischer Zuordnung, d. h. die Zuständigkeit von Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund für Personen aus dem „eigenen“ Herkunftskontext, weder organisatorisch aufgrund der Vielzahl der Herkunftskontexte von Inanspruchnehmenden sinnvoll, noch aufgrund ihrer segregierenden Effekte als wünschenswert zu sehen. Vielmehr geht es um die Entwicklung interkultureller Teams und transkultureller Praxen [14]. Deshalb bedarf es eines Vorgehens, das die Kompetenz aller Mitarbeitenden fördert und jene mit Migrationshintergrund nicht auf „ethnische“ Kompetenzen reduziert. Hierzu sind die Berücksichtigung migrationsspezifischer und interkultureller Aspekte in Fallbesprechungen und Supervision, Schulungen zu interkultureller Kompetenz und Arbeiten im interkulturellen Team wesentlich. Interkulturell zusammengesetzte Teams können zu Synergieeffekten im Sinne einer sich gegenseitig anregenden Zusammenarbeit von Mitarbeitenden mit und ohne Migrationshintergrund beitragen. So können sie einen wesentlichen Beitrag zur Auseinandersetzung mit kulturspezifischen Themen und zur Förderung einer interkulturellen Kompetenz des Personals leisten [38].

Wenn für nichtdeutschsprachige PatientInnen eine gleichwertige Behandlung gewährleistet werden soll, müssen auch Sprach- und KulturmittlerInnen eingesetzt werden (sofern keine muttersprachlichen oder über die jeweiligen Fremdsprachen verfügende Mitarbeitende zur Verfügung stehen). Die Bezeichnung „Sprach- und KulturmittlerIn“ beinhaltet eine terminologische Abgrenzung vom gängigeren Begriff der Dolmetscherin/des Dolmetschers. Hierbei wird davon ausgegangen, dass es eine Ebene der Verständigung in interkulturellen Kontexten gibt, die über das Sprachliche hinausgeht (s. Infobox 1). Deshalb soll mithilfe von Sprach- und KulturmittlerInnen versucht werden, kulturelle Differenzen, die den Sprachdifferenzen immanent sind, zu erkennen und sie einer Bearbeitung zugänglich zu machen. Hierbei wird darauf rekurriert, dass Sprach- und KulturmittlerInnen über ein kulturelles Wissen verfügen, das sie in die Behandlungssituation einbringen, um somit auftretende kulturelle Differenzen und daraus resultierende Missverständnisse zu klären. Die Aufgabe der TherapeutInnen ist es, dieses Wissen in den therapeutischen Prozess zu integrieren. Dabei ist eine Offenheit gegenüber anderen Symbolisierungen notwendig [37]. In einem solchen Setting sind – statt üblicherweise 2 Personen – 3 Personen im therapeutischen Raum. Sie kommunizieren in mindestens 2 verschiedenen Sprachen. Dadurch entsteht ein komplexes Gefüge von Verständigungs- und Interaktionsebenen, die ein solches Setting zuweilen schwer überschaubar erscheinen lassen [39].

Zwischenergebnisse eines Forschungsprojektes zum Stand der interkulturellen Öffnung der psychosozialen Versorgung

Im Rahmen des genannten VW-Projektes „Seelische Gesundheit und Migration“ führen wir derzeit (2011/2012) mithilfe des entwickelten Erhebungsinstrumentes eine Erhebung (ca. 120 Versorgungsangebote) zum Stand der interkulturellen Öffnung in der psychosozialen Versorgung (gemeindepsychiatrische und ergänzende psychosoziale Einrichtungen) in einem innerstädtischen Berliner Bezirk durch, in dem der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung ca. 50% ausmacht. Es werden RepräsentantInnen der Einrichtungen mithilfe des Fragebogens zu den jeweiligen Versorgungsangeboten befragt. Die Zwischenergebnisse weisen darauf hin, dass in diesem Bereich viele Schritte zur Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht umgesetzt werden; gleichzeitig wurde aber meist eine große Offenheit der befragten Einrichtungsrepräsentantinnen gegenüber dem Thema deutlich.

Der Abbau von Sprachbarrieren ist vielerorts noch nicht gelungen. 33 der 51 (64%) Versorgungsangebote wurden im Jahr 2010 nicht von Personen mit Migrationshintergrund in Anspruch genommen, die über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfügten. In psychiatrischen Kliniken stellt sich die Situation anders dar. In 3 der 4 bisher in die Untersuchung eingeschlossenen psychiatrischen Angebote verfügten ca. 2–10% der versorgten Menschen mit Migrationshintergrund über keine hinreichenden Deutschkenntnisse, während im vierten Versorgungsangebot sogar ca. 20% der versorgten Menschen mit Migrationshintergrund keine ausreichenden Deutschkenntnisse hatten. Dieses Ergebnis deckt sich mit dem einer Untersuchung zu Verständigungsproblemen in Berliner Krankenhäusern. Bei durchschnittlich 5% der behandelten PatientInnen war nach Einschätzung der befragten 39 Kliniken eine Verständigung auf Deutsch nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich [40].

Unsere Zwischenergebnisse zeigen, dass Menschen mit Migrationshintergrund und geringen Deutschkenntnissen weiterhin mit sprachlichen Zugangsbarrieren zum psychosozialen Versorgungssystem konfrontiert sind. Obwohl 16 (31%) der bisher 51 erhobenen Versorgungsangebote Menschen mit Migrationshintergrund versorgen, die keine oder sehr geringe Deutschkenntnisse haben, setzten lediglich 10 Einrichtungen (18%) einen Dolmetscherdienst ein. Diese Ergebnisse werden von einer europäischen Studie bestätigt, die zeigt, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern in der Gesundheitsversorgung sehr selten DolmetscherInnen eingesetzt werden [41]. Viele Einrichtungen greifen stattdessen auf andere Strategien im Umgang mit nichtdeutschsprachigen PatientInnen/KlientInnen zurück, wie z. B. auf Angehörige/Freunde der Inanspruchnehmenden, auf Sprachkompetenzen der therapeutischen Mitarbeiterschaft sowie auf Personal, das nicht in der Behandlung von PatientInnen/KlientInnen tätig ist, wie z. B. Sekretärinnen. Dies kann in Ausnahmefällen sicher hilfreich sein, führt jedoch oft zu Überforderung der Angehörigen, zu Rollenkonflikten in den Familien und zu unzureichenden Übersetzungen, da z. B. Freunde oder Familienangehörige bestimmte Inhalte aufgrund familiärer oder gruppenspezifischer Dynamiken nicht übersetzen möchten. Auch das Dolmetschen von nicht im therapeutischen Kontext Tätigen ist qualitativ oft unzureichend [42].

Eine wesentliche Ursache für den seltenen Einsatz professioneller DolmetscherInnen ist sicherlich die ungeklärte Kostenübernahme in Deutschland [41]. Dies wird durch die Zwischenergebnisse unserer Untersuchung bestätigt. Acht der 10 Einrichtungen, die im Jahr 2010 einen Dolmetscherdienst in die Behandlung von nichtdeutschsprachigen PatientInnen/KlientInnen einbezogen, gaben an, die Kosten selbst tragen zu müssen. Das heißt, dass die Kosten weder von den Krankenkassen noch von den Kommunen oder Ländern übernommen werden. Eine Einrichtung verwies auf die Kostenübernahme durch PatientInnen/KlientInnen selbst, während eine andere deutlich machte, dass der öffentliche Kostenträger des Projektes für professionelle DolmetscherInnen zusätzliches Geld bereitstellt. Von 41 befragten RepräsentantInnen von Versorgungsangeboten, die nicht mit professionellen DolmetscherInnen arbeiteten, verwiesen 30 (73%) auf den ihres Erachtens nach nicht vorhandenen Bedarf an einem solchen Dienst, da in den jeweiligen Einrichtungen keine Menschen versorgt werden, die nicht ausreichend Deutsch sprechen würden.

Individuelle Möglichkeiten zur Verbesserung eines interkulturellen Behandlungssettings

Unabhängig von notwendigen strukturellen und institutionellen Veränderungen ist es für jeden Behandelnden wichtig, sich entsprechende Kompetenzen anzueignen, um der Internationalisierung der Klientel im Berufsalltag gerecht werden zu können. Hierzu können persönliche Fortbildungen beitragen, aber auch die Integration einer entsprechenden Fort- und Weiterbildung in Ausbildungscurricula für diesen Berufszweig.

Die Berücksichtigung verschiedener Erklärungsmodelle

Neben einer hinreichend guten sprachlichen und inhaltlich adäquaten Verständigung ist es zur Vermeidung von Fehldiagnosen, Therapieabbrüchen sowie von Frustrationen für alle im therapeutischen Prozess Involvierten erforderlich, unterschiedliche Erklärungsmodelle über die Ursache, den Verlauf und die Heilung bestimmter gesundheitlicher Probleme zu beachten [18, 19]. PatientInnen sowie deren Familienangehörige und Professionelle haben während einer akuten Krankheitsepisode jeweils spezifische Vorstellungen über die Ursache, Symptome, Pathophysiologie, den Krankheitsverlauf und über potenzielle Behandlungsoptionen [18, 43]. Erklärungsmodelle differieren einerseits zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten, andererseits aber z. B. auch schicht-, alters- oder geschlechtsspezifisch [44]. Sie sind nicht statisch, sondern können sich gegenseitig beeinflussen und durch Erfahrungen verändern [43]. Deshalb sollten sie individuell erfragt und nicht schematisch vorausgesetzt werden. Die Erfassung und Berücksichtigung von Erklärungsmodellen im jeweiligen Behandlungssetting kann TherapeutInnen dazu dienen, die Perspektive jedes Patienten/jeder Patientin zu verstehen und diese in der weiteren Behandlung mitzudenken. Um sie in die therapeutische Praxis zu integrieren und somit die durch unterschiedliche Erklärungsmodelle entstehenden Konflikte zu vermeiden, ist eine Reihe von Fragen zu klären, die darauf abzielen, die Erklärungsmodelle der PatientInnen zu erfassen und sichtbar zu machen (Infobox 3 [43]).

Zusätzlich ist es wesentlich, PatientInnen die eigene ärztliche/therapeutische Perspektive auf die Erkrankung und potenzielle Heilung zu verdeutlichen. Durch die Berücksichtigung der unterschiedlichen Erklärungsmodelle im therapeutischen Setting können Barrieren, die einer effektiven Behandlung entgegenstehen, ausgeräumt und empathische Beziehungen zwischen Behandelnden und PatientInnen ermöglicht werden. Mangelnde Sensibilität bezüglich unterschiedlicher Erklärungsmodelle kann von PatientInnen als Desinteresse und Respektlosigkeit empfunden werden, was sich negativ auf die therapeutische Beziehung auswirken und zu einem Therapieabbruch führen kann [43].

Die Verwendung eines kultursensiblen Anamneseleitfadens

Um ein adäquates interkulturelles Behandlungssetting gewährleisten zu können, sollte der soziokulturelle Hintergrund eines Patienten/einer Patientin ebenso wie andere mögliche Differenzen im therapeutischen Alltag berücksichtigt werden. Im Anhang F des DSM-VI-TR [45] findet sich ein Vorschlag über einen Leitfaden zur kulturspezifischen Anamneseerhebung und Therapie. Er ermöglicht eine systematische Betrachtung des soziokulturellen Hintergrundes von PatientInnen mit Migrationshintergrund und sollte daher regelmäßig in der Arbeit mit diesen eingesetzt werden.

Vermeidung von Kulturalisierung und Stereotypisierung

Generell sollten im Umgang mit Menschen mit Migrationshintergrund Kulturalisierungen und damit verbundene Stereotypisierungen im Sinne einer Überbetonung des Kulturellen vermieden werden, da sonst Stigmatisierung und Ausgrenzung befördert werden [43]. Der Fokus von TherapeutInnen sollte auf dem individuellen Erleben und Verstehen jedes Patienten/jeder Patientin liegen. Dabei sind kulturelle sowie soziale, alters- und geschlechtsspezifische Einflüsse etc. einzubeziehen. In interkulturellen Settings sollten also nicht kulturelle bzw. ethnische Unterschiede zur Leitdifferenz erklärt werden, sondern es sollte eine Sensibilität für Diversität bestehen [46]. Inwieweit (bestimmte) Differenzen in einer Behandlungssituation bedeutsam sind, muss fallspezifisch erkannt und im Behandlungsprozess berücksichtigt werden [47].

Fazit

Aufgrund von Globalisierung, steigender Mobilität und den damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen nehmen Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern das hiesige Gesundheitssystem zunehmend in Anspruch. Um Barrieren zum bzw. im Versorgungssystem zu reduzieren, sind ein sensibler Umgang mit Differenzen [48], Offenheit und Interesse, die eine Pendelbewegung zwischen dem vermeintlich „Eigenen“ und dem vermeintlich „Fremden“ ermöglichen, notwendig [49]. Erforderlich ist ein reflektierter Umgang mit unterschiedlich kodierter Differenz (der sog. „diversity“), ob basierend auf Bildung, Geschlecht, Migrationshintergrund, sozioökonomischer Situation etc. Es kann kein Zugang zum „Gegenüber“ hergestellt werden, wenn PatientInnen stereotypisiert und kategorisiert werden [50]. Eine transkulturelle Psychiatrie ist eine soziale Psychiatrie, die dem jeweiligen Lebensalltag der PatientInnen mit all seinen Facetten nachgehen muss und sich nicht einseitig am Vorverständnis und an (auch positiven) Vorurteilen der „anderen Kultur“ festhalten darf [50]. Die in Infobox 3 vorgestellten Fragen über individuelle Erklärungsmodelle psychischer Erkrankung [43] können hierbei ebenso wie die Berücksichtigung verschiedener Erklärungsmodelle von Gesundheit und Krankheit helfen. Auf diese Weise können Missverständnisse verhindert bzw. minimiert werden. Damit interkulturelle Aspekte Standards ärztlichen/therapeutischen/pflegerischen Handelns werden, sollte eine Auseinandersetzung mit den im Beitrag ausgeführten Themen ein fester Bestandteil der ärztlichen, therapeutischen sowie pflegerischen Aus-, Fort- und Weiterbildungen sein [28]. Ebenso wichtig sind die Beschäftigung von Menschen mit Migrationshintergrund sowie ein regelhafter Einsatz von Sprach- und KulturmittlerInnen [28]. Die Zwischenergebnisse unseres aktuellen Forschungsprojektes zeigen, dass eine gesetzliche Regelung zur Kostenübernahme beim Einsatz von DolmetscherInnen zur Unterstützung von PatientInnen, die der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig sind, erforderlich ist. Dieser Schritt würde zur höheren Inanspruchnahme der benannten Klientel beitragen und ist für den Abbau von Zugangsbarrieren wichtig.