Definition

Die GesundheitsökonomieFootnote 1 als Teildisziplin der Wirtschaftswissenschaften hat sich in den angelsächsischen Ländern seit den 1960er-Jahren wohl etabliert. Im deutschen Sprachraum ist der Beginn etwa zehn Jahre später anzusetzen, das heißt aber auch hier, dass nunmehr Erfahrungen aus über drei Jahrzehnten vorliegen. Die Gesundheitsökonomie vereint bereits in ihrem Namen die Medizin mit der Wirtschaftswissenschaft. Sie ist damit im wörtlichen Sinne interdisziplinär und beinhaltet die Anwendung ökonomischer Analysekonzepte auf Fragestellungen des Gesundheitswesens. Die Beachtung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten spielt in nahezu allen Bereichen des Gesundheitswesens eine wichtige, wenn nicht sogar heute die dominierende Rolle, teilweise zum Leidwesen der dort tätigen Mediziner, wie der negativ belegte Begriff von der Ökonomisierung des Gesundheitswesens zeigt.

Die Kritik an der Ökonomie verkennt, dass sie in vielen Fällen auch eine neue Sachlichkeit in die Diskussionen eingebracht hat. Sofern die Ökonomie dazu beiträgt, dass die knappen Mittel in die beste Verwendung fließen, stellt sie keinen Gegensatz zur medizinischen Sichtweise dar. Vielmehr hat sie in erster Linie eine beratende beziehungsweise unterstützende Funktion, indem sie mit ihren Analysen Wege zu mehr Effizienz aufzeigt und damit der Medizin auch Spielräume eröffnet. Allerdings sollte man bei dieser Sichtweise stets beachten, dass zwischenmenschliche Aspekte nicht verloren gehen. Diesem Anspruch muss auch die Ökonomie gerecht werden, wenn sie gesellschaftliche Akzeptanz weiterhin erfahren möchte.

Internationale Entwicklung

In den USA veröffentlichte Kenneth Arrow 1963 seinen Aufsatz „Uncertainty and the Welfare Economics of Medical Care“, in dem er die Vorteile eines Krankenversicherungssystems aufzeigte und auf Anreizprobleme im Rahmen von Krankenversicherungsverträgen aufmerksam machte, die mit einem vollständigen Versicherungsschutz einhergehen. Mark Pauly, ebenfalls einer der Pioniere der amerikanischen Analyse der Marktstrukturen und Verhaltensweisen im Gesundheitswesen, analysierte bereits 1968 in seinem Beitrag „Efficiency in Public Provision of Medical Care“ die optimale Versorgung von kranken Menschen, das Auftreten von Marktfehlern sowie die Rolle des Staates. Im Jahr 1974 begann Joseph Newhouse mit empirischen Forschungen zum „Health Insurance Experiment“ und analysierte die Bedeutung von Selbstbeteiligungsregelungen in der Krankenversicherung.

Weiterhin ist mit Blick auf Meilensteine der internationalen Entwicklung Uwe Reinhardts theoretische und empirische Untersuchung zur ärztlichen Produktionsfunktion und Nachfrage nach ärztlichen Leistungen zu nennen (Physician Productivity and the Demand for Health Manpower: an Economic Analysis 1975). Aus der frühen Gruppe der amerikanischen und britischen Gesundheitsökonomen sollten sicherlich auch noch Martin Feldstein (Economic Analysis for Health Service Efficiency: Econometric Studies of the British National Health Service 1968), Robert Evans (Supplier Induced Demand: Some Empirical Evidence and Implications 1974), Viktor Fuchs (Who Shall Live? Health, Economics, and Social Choice 1974) und Michael Grossman (On the Concept of Health Capital and the Demand for Health 1972) hervorgehoben werden, wobei diese Aufzählung eher exemplarisch zu verstehen ist und nicht vollständig sein kann [1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8].

Im deutschsprachigen Raum wurden diese Arbeiten später von Friedrich Breyer (Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen 1984), Robert Leu und Reto Doppmann (Die Nachfrage nach Gesundheit und Gesundheitsleistungen 1986), Matthias von der Schulenburg (Systeme der Honorierung frei praktizierender Ärzte und ihre Allokationswirkungen 1981), Peter Zweifel (Ein ökonomisches Modell des Arztverhaltens 1982) und Walter Krämer (Eine ökonometrische Untersuchung des Marktes für ambulante ärztliche Leistungen 1991) weiter analysiert und methodisch angereichert [9, 10, 11, 12, 13].

Seit diesen ersten Analysen wird mit Blick auf die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen weiter untersucht, ob Gesundheit ein sogenanntes superiores Gut darstellt, das heißt mit steigendem Einkommen überproportional nachgefragt wird. Im eigentlichen mikroökonomischen Kontext lässt sich eine Elastizität größer als Eins im Allgemeinen nicht zeigen, da einkommensstarke Personen überwiegend auch gesünder sind (Korrelation Einkommen und Bildung) und zudem eine überproportionale Ausdehnung der Leistungen nur in Ausnahmefällen denkbar erscheint. Allerdings zeigt sich ein überproportionaler Anstieg in vielen Untersuchungen auf der aggregierten Ebene im Ländervergleich (Abb. 1). Die meisten Datenpunkte liegen für die betrachteten OECD-Länder über der Winkelhalbierenden, das heißt zwischen den Jahren 2000 und 2009 wuchsen die Gesundheitsausgaben stärker als die Wirtschaftsleistung. Wagstaff und Culyer [14] rechnen neben diesen Analysen über die Nachfrage nach Gesundheit und Gesundheitsleistungen folgende weitere Themengebiete zu den Feldern, auf denen international am stärksten geforscht und publiziert wird: Wert des Lebens und der Gesundheit, Effizienz und Gerechtigkeit, Public Health, Gesundheitswirtschaft, ökonometrische und statistische Analysen, Krankenversicherung, Angebot an Gesundheitsleistungen, Ressourcen des Gesundheitswesens, Märkte im Gesundheitswesen und gesundheitsökonomische Evaluationen.

Abb. 1
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Wachstum der Gesundheitsausgaben im Vergleich zum BIP-Wachstum 2000 bis 2009 (Quelle: OECD [81])

Wurzeln in Deutschland

In Deutschland beginnt mit den Colloquien der Robert-Bosch-Stiftung im Jahr 1978 (bis 1987) die wissenschaftliche Vernetzung unter den Gesundheitsökonomen; zwei der Pioniere waren Philipp Herder-Dorneich und Gérard Gäfgen sowie auch Hans-Jürgen Firnkorn, der damals zuständige Referent der Robert-Bosch-Stiftung. Philipp Herder-Dorneich, Günter Sieben und Theo Thiemeyer waren die Herausgeber des ersten Bandes der Beiträge zur Gesundheitsökonomie mit dem Titel „Wege zur Gesundheitsökonomie“ [15]. Bis einschließlich 1990 wurden über 20 Bände der Beiträge zur Gesundheitsökonomie veröffentlicht, die die Diskussionen in den Colloquien einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machten. Der von Konrad Selbmann und Fritz Beske herausgegebene 30. Band der Reihe mit dem Titel „Evaluation qualitätssichernder Maßnahmen in der Medizin“ bildet 1995 den Schlusspunkt der Schriftenreihe im Bleicher Verlag [16].

1988 erfolgte in Mannheim die Gründung des Ausschusses für Gesundheitsökonomie im Verein für Socialpolitik, in dem die Arbeiten der Bosch-Colloquien fortgeführt wurden. Die bisherigen Vorsitzenden waren Gérard Gäfgen (1988 bis 1991), Peter Oberender (1992 bis 1995), Eckhard Knappe (1996 bis 1999), Eberhard Wille (2000 bis 2001), Dieter Cassel (2002 bis 2005), Friedrich Breyer (2006 bis 2009) und Stefan Felder (seit 2010). Mit der von Heinz König ab Mitte der 1980er-Jahre vorangetriebenen Öffnung der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik für junge Forscher in einem offenen Programmteil entstand eine weitere Plattform, von der insbesondere Nachwuchswissenschaftler, auch der Gesundheitsökonomie, Gebrauch machen. Seit 2008 gibt es mit der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö: Gründungsvorsitzender war Matthias von der Schulenburg) eine interdisziplinäre, institutionell verankerte Plattform, die die Förderung der Wissenschaft, Forschung und wissenschaftlichen Politikberatung auf dem Gebiet der Gesundheitsökonomie bezweckt. Zu ihren Aufgaben gehören auch die Durchführung wissenschaftlicher Veranstaltungen und Forschungsvorhaben sowie die Vergabe von Preisen und Auszeichnungen. Insbesondere findet jedes Frühjahr eine wissenschaftliche Jahrestagung statt. Nach nur drei Jahren vereint die Gesellschaft in ihren Reihen über 600 Personen mit gesundheitswissenschaftlichem Bezug.

Im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen ist eine hohe fachliche Kompetenz vertreten. Seine Empfehlungen sind ein Ergebnis dessen, was die Mehrheit der Ratsmitglieder aus Medizinern und Ökonomen als wünschenswert beziehungsweise fachlich geboten ansieht. Vom Sachverständigenrat wird natürlich der richtige Ratschlag für die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens gefordert, allerdings gibt es den einzigen richtigen Ratschlag nicht oder doch nur eher selten. Die Zweckmäßigkeit von Maßnahmen hängt immer davon ab, welche Ziele verfolgt werden, und diese variieren je nach (ordnungs-)politischer Vorgabe. Dennoch darf der Einfluss des Rates auf die Gesundheitspolitik nicht kleingeredet werden. Angefangen mit den beiden ersten Gutachten über die medizinische und ökonomische Orientierung (1987, 1988) haben zahlreiche Vorschläge des Sachverständigenrats Eingang in die konkrete Gesundheitspolitik gefunden. Zu erwähnen wären hier beispielsweise die Sichtweise des Gesundheitswesens nicht nur als Kostenfaktor, sondern auch als Zukunftsbranche (1996, 1998), die Ideen zur Steigerung von Effizienz und Effektivität der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Addendum zum Gutachten 2000/2001 oder die Ausarbeitungen zur Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit (2002), insbesondere mit den Auswertungen zur Über-, Unter- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen [17].

Erwähnenswert ist die multidisziplinäre Verankerung der Gesundheitsökonomie in Deutschland, die die Bereiche Gesundheitswissenschaften/Public Health, Medizin, Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre und Sozialrecht umfasst. Daraus resultieren auch unmittelbar zentrale Arbeitsschwerpunkte, wie zum Beispiel das Krankenhausmanagement und Krankenhauscontrolling, die Analyse von Wertschöpfungsketten im Gesundheitswesen, die interdisziplinär durchzuführenden Evaluationsstudien, etwa im Rahmen von HTA (Health Technology Assessment), die Konzepte des Disease Managements oder auch Modellanalysen für eine stärker nachhaltige Finanzierung der GKVFootnote 2.

Ein weiteres Entwicklungsmerkmal der Gesundheitsökonomie in Deutschland stellen die einschlägigen Publikationen dar. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien an dieser Stelle bei den Zeitschriften in alphabetischer Reihenfolge erwähnt: das European Journal of Health Economics (Herausgeber Matthias von der Schulenburg, Wolfgang Greiner), Gesundheitsökonomie und Qualitätsmanagement (Reinhard Rychlik et al.), Gesundheitswesen (Manfred Wildner et al.), Health Economics Review (Matthias von der Schulenburg) und Pharmacoeconomics German Research Articles (Wolfgang Greiner). Bei den Lehrbüchern ist die Situation erfreulicherweise deutlich unübersichtlicher. Den Grundlagentext bildet die kommentierte dreibändige Bibliographie „Basiswissen Gesundheitsökonomie“ von Hanfried Andersen, Klaus Henke und Matthias von der Schulenburg aus dem Jahr 1992. Daneben existieren zahlreiche Lehrbücher zur Gesundheitsökonomie, zum Gesundheitsmanagement, zur Gesundheitspolitik, zur Struktur des Gesundheitswesens, zu Public-Health-Aspekten, zur Evidence-based Medicine oder zur Evaluation von GesundheitsleistungenFootnote 3. Das an Universitäten mit einem gesundheitsökonomischen Studiengang sicherlich am häufigsten eingesetzte Buch, für das auch eine internationale Ausgabe existiert, ist das Lehrbuch Gesundheitsökonomik von Friedrich Breyer, Peter Zweifel und Matthias Kifmann (2005) [31].

Mit Blick auf die aktuelle Forschungsförderung im Bereich der Gesundheitsökonomie beabsichtigt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) die Versorgungsforschung einschließlich der gesundheitsökonomischen Forschung über einen längeren Zeitraum nachhaltig zu unterstützen und auszubauen. Um eine breitere Basis für eine exzellente Versorgungsforschung in Deutschland zu schaffen, werden im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung mehrere Maßnahmen initiiert, deren Beginn unmittelbar bevorsteht beziehungsweise in Teilen bereits begonnen hat:

  • Studien in der Versorgungsforschung,

  • Studienstrukturen für die Versorgungsforschung,

  • Nachwuchsgruppen in der Versorgungsforschung,

  • Zentren der gesundheitsökonomischen Forschung.

Hinzu treten Beteiligungen deutscher Gesundheitsökonomen an Forschungsnetzwerken der Europäischen Union. Mit der Förderung sollen notwendige Strukturen geschaffen beziehungsweise ausgebaut werden, um eine nachhaltige Profilbildung im Bereich der Gesundheitsökonomie an einzelnen Standorten zu erreichen.

Internationale Forschungsergebnisse lassen sich aufgrund der Komplexität des Versorgungsgeschehens und der starken Abhängigkeit des Gesundheitssystems von nationalen Gegebenheiten nur begrenzt übertragen. Eine interessante Frage betrifft dennoch den Beitrag der deutschen Gesundheitsökonomie zur internationalen Literatur. Auf der iHEA-Konferenz 2011 in Toronto stellte Adam Wagstaff in einem Plenumsvortrag einen Beitrag vor mit dem Titel: „4 Jahrzehnte Gesundheitsökonomie durch eine bibliometrische Linse“ [14]. Mit Peter Zweifel (Universität Zürich) liegt ein Autor einer deutschsprachigen Universität unter den Top-100-Gesundheitsökonomen, gemessen mithilfe des Hirsch-Indexes für den Zeitraum von 1969 bis 2010. Unter den Top-300-Zitierungen von wissenschaftlichen Artikeln befindet sich der Beitrag von Zweifel, Felder und Meier [32] aus dem Jahr 1999: „Ageing of Population and Health Care Expenditure: A Red Herring?“, sowie der Beitrag von Pohlmeier und Ulrich aus dem Jahr 1995: „An Econometric Model of the Two-Part Decisionmaking Process in the Demand for Health Care“. Im Ländervergleich belegt Deutschland unter den Top-25-Ländern den siebten Rang (erneut gemessen anhand des Hirsch-Indexes). Insgesamt deuten die Zahlen durchaus auf ein Steigerungspotenzial der deutschsprachigen Gesundheitsökonomen im internationalen Kontext hin, sie vernachlässigen allerdings die positiven Entwicklungen in jüngerer Zeit, die sich in dem hier ausgewerteten Zeitraum der letzten vier Jahrzehnte nicht erkennen lassen.

Wesentliche Themenfelder der Gesundheitsökonomie

Die Themenfelder der Gesundheitsökonomie bleiben heutzutage keineswegs auf den engen kurativen Bereich des Gesundheitswesens beschränkt. In Übereinstimmung mit der WHO-Gesundheitsdefinition, nach der Gesundheit ein „State of Complete Physical, Mental and Social Well-Being and not Merely the Absence of Disease or Infirmity“ [33] darstellt, wird der Fokus auch auf andere wichtige Bereiche gerichtet, die die Gesundheit entscheidend mitbestimmen (Prävention, Lebensstil, Umwelt, mentale Faktoren, sozioökonomische Faktoren). Einen Überblick über diesen erweiterten Gesundheitsbereich enthält Abb. 2.

Abb. 2
figure 2

Themenfelder der Gesundheitsökonomie (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an [82])

Zwei Abgrenzungen sind hierbei erwähnenswert: Unter der Ökonomie der Gesundheit (Economics of Health) subsumiert man beispielsweise die Gesundheitsmessung und die Gesundheitsziele, die Lebensqualitätsforschung, Evaluationsstudien oder allgemein das Abwägen von „Leben beziehungsweise Länge und Qualität des Lebens“ gegen „Geld“ oder andere „Aufwandskennziffern“. Ökonomie des Gesundheitswesens (Economics of Health Care) analysiert dagegen die konkreten Organisationsformen (Umsetzung der Idee des solidarischen Wettbewerbs), die Wirkungen konkreter Honorierungsregeln (Fallpauschalen, Einzelleistungsvergütung) oder die Anreize zur Steuerung im Gesundheitswesen (Bonus-Malus-Regelungen, Selbstbeteiligungen, Eigenverantwortung).

Ökonomie des Gesundheitswesens

Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen von möglichen Ursachen für die Ausgaben- und Finanzierungsprobleme im Gesundheitswesen unterscheiden. In die erste Gruppe fallen die Ineffizienzen des heutigen Organisationssystems, die sich in einer Über-, Unter- und Fehlversorgung niederschlagen und Auswirkungen auf die Beiträge oder die Versorgungsqualität besitzen. Im Mittelpunkt der Analysen stehen insbesondere die Prozesse, nach denen sämtliche Leistungen des deutschen Gesundheitswesens produziert und an die Patienten verteilt werden. Die allgemeine Ursache der Ineffizienz liegt in den vorherrschenden institutionellen Grundbedingungen, von denen Verhaltensanreize für alle Akteure ausgehen. Die zweite Gruppe möglicher Ursachen für Finanzierungsprobleme wird von den langfristigen strukturellen Veränderungen bei der Entwicklung der Leistungsausgaben gebildet. Hier sind insbesondere die demografische Entwicklung und die Wechselwirkungen mit dem medizinisch-technischen Fortschritt zu nennen [34, 35].

In diesem Kontext werden die Effizienzdefizite des korporatistischen Handelns betont: Das gemeinsame Handeln der Krankenkassen schränkt den individuellen Handlungsspielraum jeder einzelnen Kasse stark ein und impliziert zudem fehlende Differenzierungsmöglichkeiten. Die Krankenkassen treten nach wie vor auf dem Versicherungsmarkt mit einem weitgehend ähnlichen Angebot im Leistungsumfang und in der Qualität auf, sodass die Versicherten wenige Chancen besitzen, sich für individuelle Angebote zu entscheiden [36].

Abb. 3 zeigt die drei relevanten Wettbewerbsfelder in der GKV: den Versicherungsmarkt (Kassenwettbewerb um Versicherte), den Behandlungsmarkt (Wettbewerb um Patienten) und den Leistungsmarkt (Wettbewerb um Leistungsverträge).

Abb. 3
figure 3

Solidarisches Wettbewerbskonzept für das Gesundheitswesen. (Quelle: Darstellung in Anlehnung an [83])

Steht es den Krankenkassen frei, auf dem Leistungsmarkt individuell ausgehandelte Verträge mit Ärzten und Krankenhäusern zu schließen, dann hat eine Kasse die Möglichkeit, mit den entsprechend ausgehandelten Konditionen auf dem Versicherungsmarkt individuelle Versicherungsangebote zu machen. Der Patient steuert damit durch die Wahl des Versicherungsangebots einer Kasse indirekt die Leistungsverträge. Die Krankenkassen haben einen Anreiz, solche Konditionen zu erzielen, mit denen sie auf dem Versicherungsmarkt Versicherte gewinnen können, und die Leistungserbringer haben einen Anreiz, dem Patienten auf dem Behandlungsmarkt eine hochwertige Versorgung zukommen zu lassen, da sie dies im Wettbewerb um lukrative Verträge auf dem Leistungsmarkt für sich nutzen können. Die zentrale Frage lautet somit für die künftige Weiterentwicklung des GKV-Systems: An welcher Stelle sind korporatistische Steuerungsmechanismen notwendig und wo sind Spielräume für mehr Wettbewerb und kassenindividuelles Handeln [37]? Auch in der Privaten Krankenversicherung bestehen vielfältige Wettbewerbshindernisse, etwa die mangelnde Wechselmöglichkeit durch keine oder nur eine unzureichende Mitgabe der Alterungsrückstellungen (auch nach Einführung des Basistarifs). Die zentrale Herausforderung für beide Systeme besteht darin, auch künftig eine umfassende medizinische Versorgung für die gesamte, älter werdende Gesellschaft zu sichern. Es sprechen durchaus Gründe für einen Systemwettbewerb durch die Dualität von GKV/PKV im Sinne von „zwei Versicherungssysteme, ein Versorgungssystem“. In jüngerer Zeit wird in der Wissenschaft aber auch die Konvergenz der Versicherungssysteme diskutiert. Die bislang vorliegenden Konzepte einer Bürgerversicherung unterschätzen jedoch insbesondere die Probleme der Verbeitragung weiterer Einkommensbestandteile und geben dadurch in Bezug auf die Frage nach der Beitragsbemessung letztlich die falsche Antwort. Künftig dürfte es aber stärker zu sogenannten hybriden Finanzierungsstrukturen kommen, das heißt zu sogenannten Mehrsäulenmodellen [38]. Gemeint ist damit eine stärkere Kombination aus verpflichtend staatlichen und regulierten privaten Absicherungsformen. Die öffentliche Absicherung der großen Lebensrisiken dürfte stärker ergänzt werden durch eine private Absicherung.

Zu erwähnen bleiben an dieser Stelle zwei (Weiter-)Entwicklungen des deutschen Gesundheitssystems, die auch international Beachtung gefunden haben: Die Einführung des DRG-Systems im Jahr 2003 (G-DRG) nach australischem Vorbild mit all seinen Weiterentwicklungen und Anpassungen, die seitdem stattgefunden haben [39]. Die Schweiz übernimmt die wesentlichen Systemelemente und führt das DRG-System in einer angepassten Variante ab dem Jahr 2012 landesweit ein. Die zweite Entwicklung betrifft den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, der mit der Einführung des Gesundheitsfonds im Jahr 2009 vollzogen wurdeFootnote 4.

Der Risikostrukturausgleich (RSA) dient in erster Linie der Realisierung eines zielorientierten Wettbewerbs. Dabei besitzt der RSA zwei Funktionen: Zum einen soll er gleiche Startchancen der Krankenkassen im Wettbewerb um Versicherte schaffen, zum anderen soll er ein dauerhaftes Auftreten einer Risikoselektion verhindern. Jede Krankenkasse soll unabhängig von ihren jeweiligen Versicherten- beziehungsweise Risikostrukturen eine faire Wettbewerbschance erhalten. Die Einführung des RSAFootnote 5 durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1993 verfolgt dementsprechend den Zweck, die Ungleichverteilung der Beitragseinnahmen, Familienlasten und Morbiditätsrisiken zwischen den Krankenkassen aufzuheben. Dem RSA fiel somit die Aufgabe zu, jede Krankenkasse so zu stellen, „als entspräche der Anteil, den sie zur Bewältigung dieser Risiken aufbringt, genau dem Durchschnitt aller Krankenkassen“ [41]. Zudem zielt der RSA darauf ab, einen „Wettbewerb durch Risikoselektion“ weit möglichst auszuschließen, das heißt, den Krankenkassen keine Anreize zu bieten, mithilfe einer Risikoselektion relevante Wettbewerbsvorteile zu erlangen [42].

Der RSA bildet seiner Intention nach keinen ex-post-orientierten Finanzausgleich, der die Beitragssätze der Krankenkassen so weit als möglich angleicht, sondern ein Ex-ante-Transfersystem, das weiterhin Differenzen in den Beitragssätzen zulässt. Diese sollen allerdings nicht aus den unterschiedlichen Risikostrukturen der Krankenkassen oder erfolgreicher Risikoselektion erwachsen, sondern aus Wettbewerbsvorteilen im Vertragsgeschäft und im Versorgungsbereich [43]. Die Notwendigkeit beziehungsweise Berechtigung zur Einführung eines RSA besteht nur in einem wettbewerblichen Krankenversicherungssystem, das einen Kontrahierungszwang sowie eine einkommensabhängige oder pauschale Beitragsgestaltung aufweist. Der RSA erübrigt sich auf einem Versicherungsmarkt mit risikoäquivalenten Prämien.

Unabhängig von seiner konkreten Ausgestaltung bildet ein RSA bei einer sozialpolitisch motivierten Regulierung der Beitragsgestaltung, das heißt bei nicht risikoäquivalenten Entgelten für den Krankenversicherungsschutz, eine unverzichtbare und dauerhafte Grundlage eines zielorientierten Wettbewerbs der Krankenkassen [44, 45, 46]. Insofern geht es in der GKV nicht um das Ob, sondern nur um das Wie eines zielorientierten RSA.

Mit dem Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-WSG) von 2007 hat der Gesetzgeber das Finanzierungssystem der GKV umgestaltet. Der neu eingeführte Gesundheitsfonds bedingt unmittelbar auch eine Umgestaltung des RSA, da die Beitragszahler die Beiträge nunmehr über die Krankenkassen an den Gesundheitsfonds entrichten. Die Notwendigkeit eines einnahmenseitigen Ausgleichs (dem bisherigen Finanzkraftausgleich) entfällt damit, da die Krankenkassen mit überdurchschnittlichen Einkommen ihrer Versicherten daraus keinen unmittelbaren Vorteil mehr ziehen können. Der neue morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) bezieht sich seit Anfang 2009 nur noch auf die Ausgabenseite, indem die Zuweisungen, die eine Krankenkasse erhält, nach der Risikostruktur der Versicherten differenziert werden.

Bei der unmittelbaren Orientierung an der Morbidität hat das für die Umsetzung zuständige Bundesversicherungsamt sich grundsätzlich an einem im Jahr 2004 von IGES, Lauterbach und Wasem vorgelegten Gutachten orientiert [47]. Dabei wird die Morbidität anhand von Diagnosen sowie verordneten Arzneimitteln für 80 chronische und ausgabenintensive Erkrankungen erfasst. Zum verwendeten Zuschlagsmodell existieren zwar internationale Erfahrungen, allerdings fanden auch hier zahlreiche Anpassungen und Weiterentwicklungen statt, die in die internationale Literatur Eingang gefunden haben. Erwähnenswert sind sicherlich auch Arbeiten, die die Gesundheitsökonomie international befruchtet haben [48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57].

Im internationalen Kontext werden auch die Langsamkeit und der Zickzackkurs bei Reformmaßmaßnahmen kritisch diskutiert [58]. Die Sorge der meisten Staaten gilt der Vermeidung plötzlicher Veränderungen oder der Verhinderung unerwünschter Ereignisse, etwa der adversen Selektion. Seit dem 2. Weltkrieg haben die meisten Länder mit Erfolg versucht, wettbewerbliche Ansätze aus dem Gesundheitswesen fern oder möglichst klein zu halten, zumeist mit Erfolg. Eine Umkehr scheint hier nur sehr schwer möglich zu sein. Arthur Okun [59] hat den Trade-off zwischen Effizienz und Gerechtigkeit bei Reformmaßnahmen im Gesundheitswesen bereits vor einem Vierteljahrhundert gesehen. Die richtige Balance zu finden zwischen diesen beiden Zielen in Kombination mit der Finanzierung steigender Gesundheitsausgaben wird eine der zentralen künftigen Herausforderungen bei der Weiterentwicklung der Gesundheitssysteme.

Ökonomie der Gesundheit und gesundheitsökonomische Evaluation

Ein zentrales Feld ökonomischer Analysen über die Gesundheit ist die gesundheitsökonomische Evaluation. Sie ist der Überbegriff für alle Studien im Gesundheitswesen, bei denen es darum geht, medizinische Maßnahmen im weitesten Sinn ökonomisch zu bewerten. Gesundheitsökonomische Evaluationen können dabei prinzipiell einen vergleichenden oder einen nicht-vergleichenden Charakter haben. Nicht-vergleichend sind Kosten-Studien oder Krankheitskosten-Studien, in denen nur ermittelt wird, welche Kosten bei einer bestimmten medizinischen Maßnahme anfallen beziehungsweise welche Kosten durch eine Krankheit verursacht werden.

Eine Auswahl zwischen Alternativen kann jedoch erst über einen Vergleich mehrerer Alternativen getroffen werden kann [60]. Als Synonyme für den Oberbegriff „Gesundheitsökonomische Evaluation“ werden häufig auch die Begriffe „Wirtschaftlichkeitsuntersuchung im Gesundheitswesen“ und „Kosten-Nutzen-Analyse“ oder die englischen Begriffe verwendet.

Zwar gibt es auch eine wachsende Zahl an Publikationen über die Evaluation von Gesundheitssystemen, das am stärksten wachsende Feld der Gesundheitsökonomie ist aber ohne Zweifel die mikroökonomische Evaluation der medizinischen Versorgung, insbesondere von Leistungen. Dieses Gebiet, das allgemein auch als HTA (Health Technology Assessment) bezeichnet wird, ist in wesentlichen Teilen von der Arzneimittelindustrie mitentwickelt worden, da der Gesetzgeber in den meisten europäischen Ländern Fragen des Kosten-Nutzen-Verhältnisses bei Arzneimittelinnovationen bei der Preisfindung in den Mittelpunkt gestellt hat [61]. Spricht man übergreifend von HTA, hat sich bei Medikamenten der Begriff der Nutzenbewertung eingebürgert. Während die Arzneimittelzulassung in den europäischen Ländern über die europäische Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMA) weitgehend zentralisiert und vereinheitlicht wurde, dominieren bei der Erstattung und Preisfindung nach wie vor nationale Vorgehensweisen. In allen Ländern dient der Bewertungsprozess der Entscheidung darüber, ob die Finanzierung des bewerteten Arzneimittels über das staatliche System voll, eingeschränkt oder gar nicht erfolgen soll.

Im Laufe der letzten 20 Jahre haben fast alle europäischen Länder Prozesse zur Nutzen- beziehungsweise Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln etabliert [62]. Das Ziel ist, in allen Ländern einen möglichst kosteneffektiven Einsatz von Arzneimitteln für eine breite Bevölkerungsschicht zu erreichen. Die Umsetzung unterscheidet sich aber teilweise erheblich, nicht zuletzt bedingt durch länderspezifische Unterschiede in gesellschaftlichen Wertevorstellungen, in der wirtschaftlichen Lage des Landes, im Gesundheitssystem und den daraus bedingten spezifischen Herausforderungen des Landes. Mit Einführung der sogenannten frühen Nutzenbewertung im Jahr 2011 geht Deutschland diesen Weg nun auch [63].

Typischerweise laufen die Arzneimittelbewertungsprozesse in zwei Stufen ab: Zunächst werden die wissenschaftliche Bewertung des Nutzens und gegebenenfalls die Bewertung der Kosten beziehungsweise der Kosteneffektivität des Medikaments gegenüber dem Therapiestandard durchgeführt (Assessment). Im zweiten Schritt erfolgen die Interpretation und Beurteilung der Evidenz (Appraisal). Das Appraisal mündet in eine Erstattungsentscheidung. So übernimmt in Deutschland das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) nur das Assessment. Die abschließende Entscheidung (Appraisal) wird in Deutschland vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vorgenommen, dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung.

Dabei ist zu betonen, dass der Bewertungsfokus von Zulassungsbehörde und G-BA unterschiedlich ist: Die Zulassungsbehörde beurteilt die Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von neuen Arzneimitteln. Dies erfordert weder den Nachweis der Überlegenheit gegenüber anderen Behandlungsmöglichkeiten noch eine ökonomische Betrachtung. Der G-BA dagegen bewertet den gesundheitlichen Nutzen eines Medikaments im Vergleich zu bereits verfügbaren Therapieoptionen unter Berücksichtigung knapper finanzieller Mittel. Dies wiederum erfordert zwangsläufig den direkten Vergleich der Wirksamkeit mit der eines geeigneten Vergleichspräparates. Ein global operierendes forschendes Pharmaunternehmen, das für ein neues Arzneimittel den Marktzugang in Europa anstrebt, steht nun vor der Herausforderung, ein klinisches Entwicklungsprogramm aufzustellen, das den Anforderungen der EMA genauso wie den Anforderungen der 27 nationalen HTA-Agenturen der Mitgliedsstaaten gerecht wird.

In Deutschland ist im Rahmen der frühen Nutzenbewertung keine formale Analyse der Kosteneffektivität vorgesehen. Es sind im Dossier lediglich die direkten Kosten des neuen Arzneimittels und des Vergleichsarzneimittels für die GKV anzugeben. Die Kosten-Nutzen-Bewertung ist im Verfahren ganz nach hinten gerückt, da sie nur eine Option nach erfolgtem Schiedsspruch darstellt und auf Forderung des Herstellers oder des G-BA durchgeführt wird. Diese Verlagerung der Kosten-Nutzen-Analyse an das Ende des Prozesses ist aus gesundheitsökonomischer Sicht unbefriedigend, da die Ergebnisse der Kosten-Nutzen-Bewertung eigentlich Grundlage für die Preisverhandlungen sein sollten und nicht erst im Anschluss an gescheiterte Preisverhandlungen erhoben werden sollten. Insgesamt stellt sich damit die Frage, wie das von der Kassenseite eingeforderte verlangte Kostendämpfungspostulat mit dem Kostendeckungspostulat der pharmazeutischen Hersteller in Einklang gebracht werden kann.

Wissenschaftliche Kontroversen

Zu einer Reihe wissenschaftlicher Kontroversen stammen von deutschen Autoren wesentliche Beiträge beziehungsweise Erkenntnisse. Diese Arbeiten haben einen länger anhaltenden Streit oder eine Debatte zum Inhalt. Im Folgenden werden zwei dieser Kontroversen exemplarisch dargestellt. Eine Kontroverse setzt sich mit dem Einfluss des demografischen Wandels und des medizinisch-technischen Fortschritts auf die Gesundheitsausgaben auseinander [64, 65, 66, 67]. In der Tendenz zeigen diese Arbeiten, trotz aller methodischen Unterschiede, dass der reine demografische Effekt auf die Gesundheitsausgaben überschätzt wird. Es sind insbesondere der Restlebenszeiteffekt und damit die Nähe zum Tod beziehungsweise die Sterbekosten, die die Gesundheitsausgaben im Alter in die Höhe treiben. Das reine Kalenderalter besitzt dagegen nur einen geringeren Einfluss auf die Entwicklung der Gesundheitsausgaben. Neben den Sterbekosten sind es auch die Wechselwirkungen zwischen Demografie und Technologie, die einen Treibsatz für die Entwicklung der Gesundheitsausgaben darstellen. Einige Arbeiten zeigen, dass der medizinisch-technische Fortschritt mit Ausgabeneffekten einhergeht, die bis zu einem Prozentpunkt pro Jahr über der Wachstumsrate des Volkseinkommens liegen.

Mit Blick auf Steuerungswirkungen der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen wurde insbesondere das Schweizer Franchisensystem empirisch untersucht. Die zentrale Frage lautete, ob die gestuften Selbstbehalte im Schweizer Franchisensystem eine erwünschte Nachfrage steuernde Wirkung besitzen oder im Wesentlichen lediglich auf unerwünschten Selektionseffekten beruhen. Die Selektionseffekte treten auf, wenn junge und gesunde Versicherte die höheren Wahlfranchisestufen wählen, die zwar mit einem höheren Selbstbehalt einhergehen, der bei Jungen und Gesunden aber keine zentrale Rolle spielt. Dagegen profitieren diese Gruppen von den auf den höheren Stufen eingeräumten Prämienrabatten. Stefan Felder und Andreas Werblow [68] kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Selbstbehalte grundsätzlich ein taugliches Instrument zur Verhaltenssteuerung sind. In ihrer Studie finden sie zwar auch Selektionseffekte, dennoch beeinflusst der Selbstbehalt auch die Nachfrage des Patienten. Martin Schellhorn kommt in seiner Untersuchung zum gegenteiligen Ergebnis [69]. Er findet einen dominanten Selektionseffekt, während Verhaltensänderungen durch Selbstbeteiligung kaum feststellbar waren. Diese Unterschiede sind im Wesentlichen durch die verschiedenen Methoden und Datensätze erklärbar, die angewandt wurden und zeigen, dass eine Trennung von Selbstselektion und Steuerungswirkungen methodisch einwandfrei letztlich nur in kontrollierten Experimenten möglich erscheint.

In einer neueren Arbeit über das deutsche System untersucht Nikolas Ziebarth [70] die Verdopplung der Zuzahlungen zu Kuren, die das GKV-Beitragsentlastungsgesetz (1997) mit sich brachte. Er kann zeigen, dass die Verdopplung der täglichen Zuzahlungen von 13 auf 25 DM dazu führte, dass die Inanspruchnahme von Kurleistungen in den Folgejahren um etwa 20% sank. Die Ausgaben der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung für Kuren sanken zwischen 1996 und 1997 um fast 25%. Die Verdopplung der Zuzahlungen erlaubte auch, die Preiselastizität der Nachfrage für Gesundheitsleistungen in Deutschland zu schätzen, das heißt die Frage zu beantworten, wie stark die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sinkt, wenn der dafür zu entrichtende Preis steigt.

Die Studie von Ziebarth konnte zeigen, dass die Nachfrage nach medizinischen Rehabilitationsleistungen preisunelastisch reagiert. Dies bedeutet, dass die Nachfrage nicht im selben Umfang zurückgeht wie der Preis steigt. Die Schätzungen ergaben, dass die Nachfrage nach medizinischen Rehabilitationsleistungen um 0,3 bis 0,5% sinkt, wenn sich der Preis dafür um 1% erhöht. Im Gegensatz dazu erwies sich die Nachfrage nach präventiven Vorsorgeleistungen als elastisch, das heißt, dass sie im Verhältnis zur Preissteigerung stärker sinkt. Allerdings muss man insbesondere im Fall von präventiven medizinischen Leistungen wie Vorsorgekuren potenzielle gesundheitsfördernde Langzeiteffekte gegen eine missbräuchliche Inanspruchnahme dieser Kuren abwägen, was extrem schwierig ist, da Langzeiteffekte präventiver Kuren nur sehr schwer nachzuweisen sind.

Industrieökonomie und Gesundheitsökonomie

Die moderne Industrieökonomie gewinnt für Fragestellungen im Gesundheitswesen zunehmend an Bedeutung [71]. Im Wesentlichen wird dabei im Zuge empirischer Untersuchungen versucht, Zusammenhänge zu formulieren, die die Setzung des Preis- und Qualitätsniveaus auf Basis von Marktstrukturen, Marktverhalten und Marktergebnissen erfasst und abbildet. Die Industrieökonomie ist ein volkswirtschaftlicher Ansatz, der sich mit den Mechanismen beschäftigt, die auf durch Anbieterkonzentrationen und Marktabgrenzungen gekennzeichneten Märkten wirken [72]. Da sich die moderne Industrieökonomie immer mehr auch mit den Handlungsmöglichkeiten einzelner Unternehmen befasst, hat die Industrieökonomie auch zunehmend Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre, insbesondere für das strategische Management bekommen. Darüber hinaus steht sie in enger Verwandtschaft zur Wettbewerbstheorie. Die Industrial-Organization-Forschung fragt nach dem Einfluss, den die Organisation auf den ökonomischen Erfolg der Mitglieder der Branche hat. Da die Industrieökonomie den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmungen aus der Marktstruktur heraus erklären will, kommt der Herausarbeitung der relevanten Parameter von Marktstruktur und Marktform eine besondere Bedeutung zu.

Zur Erläuterung kann hier beispielhaft der deutsche Krankenhaussektor genannt werden. In den letzten beiden Jahrzehnten fanden hier deutliche Veränderungen statt. Eine wichtige Forschungsfrage betrifft den Zusammenhang zwischen Eigentumsstruktur und Effizienz der Krankenhäuser [73]. Verschiedene Strategien horizontaler und vertikaler Integration wurden verfolgt, um sich in einem immer härter umkämpften und von Ressourcenknappheit gekennzeichneten Gesundheitsmarkt behaupten zu können. Das alleinstehende Krankenhaus nimmt hierbei zwangsläufig nur noch eine untergeordnete Rolle ein. Wichtiger wird das Gesamtpaket der im englischen Sprachraum als „Hospital Systems“ bezeichneten, multidimensional integrierten Gesundheitsunternehmen. Diese Verbünde sind entscheidend für Unternehmensstrategie und Fragen wettbewerblicher Positionierung [74]. Dennoch erfassen gängige Statistiken zum deutschen Krankenhausmarkt meist nur die Zahl der Krankenhäuser und lassen die Trägerzugehörigkeit unberücksichtigt. Erfolgt die Konsolidierung nun nicht durch die Schließung eines Krankenhauses, sondern durch die Eingliederung in eine existierende Trägergesellschaft, ist diese Veränderung auf Ebene der in der Krankenhausstatistik ausgewiesenen Krankenhäuser nicht sichtbar.

Ein Problem, das mit zunehmender Konsolidierung einhergeht, ist die Gefahr zu großer Konzentration und daraus resultierender Marktmacht aufseiten der Leistungserbringer. Durch die Dominanz kollektivvertraglicher Regelungen sind auf Kassenseite noch keine gravierenden Konsequenzen zu befürchten. Ein verstärkter Einstieg in selektivvertragliche Ansätze zur Qualitätssteuerung oder die punktuelle Einführung von Preiswettbewerb würde dies fundamental ändern. Patienten dürften hingegen bereits jetzt in verschiedenen Regionen Deutschlands die Erfahrung machen, dass sie zwar – wollen sie keine zu große Entfernung zurücklegen – möglicherweise die Wahl zwischen zwei Krankenhausstandorten, nicht aber zwischen verschiedenen Krankenhausträgern haben. Sind sie mit der Leistung eines Trägers nicht zufrieden, haben sie nur eingeschränkte Möglichkeiten, dies durch ein Ausweichen auf alternative Anbieter zu sanktionieren. Die angemessene Erfassung von Konzentration und Marktmacht im Krankenhaussektor ist komplex, und in Deutschland fängt eine breitere Auseinandersetzung mit dieser Thematik erst an.

Gesundheit und Bildung

Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Bildung rückt zunehmend in den Fokus der Betrachtungen, insbesondere da der grundlegende Zusammenhang zwischen Bildung, Gesundheit und Gesundheitsverhalten in Deutschland noch wenig untersucht ist [75]. Stark diskutiert wird in der Literatur der Einfluss der Bildung auf die Gesundheit [76]. Erste empirische Untersuchungen für Deutschland zeigen, dass Bildung das gesundheitsrelevante Verhalten fördert. Zudem zeigt sich, dass Erwerbstätigkeit und Einkommen wichtige Determinanten des gesunden Verhaltens sind.

Bislang weniger thematisiert und empirisch auch schwieriger zu überprüfen ist hingegen der Einfluss der Gesundheit auf die Bildung [77]. Theoretisch implizieren Investitionen in die Gesundheit, beispielsweise von Kindern, langfristige positive Bildungseffekte. Da Bildung einen treibenden Wachstumsmotor darstellt, sind Investitionen in die Gesundheit zudem als Investitionen in die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands aufzufassen. Im Unterschied zum Einfluss der Gesundheit auf das Wachstum ist der Einfluss der Bildung aufgrund der theoretisch unbegrenzten Verfügbarkeit von Wissen zudem dauerhaft [78].

Einige neuere Arbeiten untersuchen den Zusammenhang zwischen Bildungsstand und Einkommen sowie der Lebenserwartung beziehungsweise der Länge der Rentenzahlung. Gaudecker und Scholz [79] finden beispielsweise empirische Evidenz, dass zwischen dem erfassten niedrigsten und dem höchsten sozialen Status eine Differenz bei der Lebenserwartung von sechs Jahren liegt. Auch Hupfeld [80] beleuchtet unerwünschte regressive Umverteilungsergebnisse durch die konkrete Ausgestaltung der bestehenden Systeme der sozialen Sicherung.

Aus den genannten Gründen ist es aus Sicht der Gesundheitsökonomie notwendig, über die gegenwärtig im Rahmen der Prävention diskutierte Beeinflussung der Nachfrage nach medizinischen Leistungen hinauszugehen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stärker zugunsten einer Bildungs- und Informationsgesellschaft, die breite Bevölkerungsgruppen betrifft, weiterzuentwickeln. Insbesondere betrifft dies die Ausschöpfung des Erwerbspersonenpotenzials aufgrund einer gesteigerten Produktivität sowie geringerer Fehlzeiten. Daraus können mittel- bis langfristig Wachstumseffekte resultieren, die sich von einer isolierten Aufrechnung positiver als auch negativer Präventionseffekte deutlich abheben.

Schlussbemerkungen

Das deutsche Gesundheitssystem sieht sich mit schwierigen Herausforderungen konfrontiert: Einerseits findet sich in vielen Publikationen der Begriff von der Krise des Gesundheitswesens, andererseits werden Einspar- und Rationalisierungsreserven in Milliardenhöhe erwähnt, die suggerieren, dass das System noch viel Luft besitzt. Auf der Outcome-Seite zeigen Statistiken, dass die Lebenserwartung weiter ansteigt, das gilt allerdings für alle entwickelten Volkswirtschaften. Als zentrale Ursache für die Ineffizienzen werden sowohl Unzulänglichkeiten auf der Finanzierungsseite (Fehlen einer solidarischen Wettbewerbsordnung) als auch Probleme einer nach wie vor zu stark sektoral ausgerichteten Leistungsseite genannt (insbesondere die Vernachlässigung von Vernetzung und Integration). Eine stärker effizienzorientierte Modernisierung beziehungsweise Ausrichtung des Gesundheitswesens bleibt somit eine Dauerbaustelle der Gesundheitspolitik, um Qualität und Finanzierbarkeit von Gesundheitsleistungen auch langfristig sicherzustellen. Hierzu werden auch die Instrumente der Gesundheitsökonomie weiter dringend benötigt.