In Deutschland wie in anderen westlichen Industrienationen sind über die letzten Jahre steigende Inzidenzzahlen für Krebserkrankungen festzustellen; nach neuesten Hochrechnungen des Robert Koch-Instituts (RKI) für das Jahr 2012 erkranken jährlich circa 486.000 Menschen an Krebs. Dabei variieren die Verteilung und Häufigkeit abhängig vom Geschlecht [1]. (http://www.rki.de). Wenngleich die Sterberate bei einigen Krebserkrankungen gesenkt werden konnte [1], so sind sie doch insgesamt gesehen nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache bei beiden Geschlechtern. Aufgrund einer verbesserten Früherkennung und verbesserter Behandlungsmöglichkeiten (Operation, Bestrahlung, Chemotherapie) sind die Überlebenszeiten für die meisten Tumorarten in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Nach Angaben des RKI [1] finden sich die günstigsten Fünf-Jahres-Überlebensraten mit mehr als 90% für Erkrankungen wie den Lippenkrebs, das maligne Melanom der Haut, den Hodenkrebs oder Prostatakrebs, während sich die ungünstigsten Raten unterhalb von 20% bei Lungenkrebs, Speiseröhrenkrebs oder Krebs der Bauchspeicheldrüse zeigen. Ingesamt kommt das RKI jedoch zur Einschätzung, dass sich die Überlebensraten von Krebspatientinnen und -patienten in Deutschland erheblich verbessert haben. Dieser Trend findet sich auch in den USA, wo die adjustierten Fünf-Jahres-Überlebensraten für die weiße Bevölkerung mit Krebs insgesamt auf circa 70% geschätzt werden [2]. Trotz dieser Verbesserungen wird zunehmend die Bedeutung der behandlungsbedingten Morbidität als Nebenwirkung und auch als Spätfolge einer Tumorbehandlung deutlich. Die Übergänge zwischen Nebenwirkungen und Spätfolgen sind fließend; in der Onkologie werden Nebenwirkungen, die länger als 90 Tage nach Ende der Therapie anhalten, als Spätfolgen definiert. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den psychosozialen Folgeproblemen, die direkt oder indirekt nach der Tumorbehandlung als Spätfolgen auftreten können. Er fasst den aktuellen Kenntnisstand zu den psychosozialen Langzeitfolgen bei Tumorpatienten im Sinne eines narrativen Reviews der wichtigsten Studien zusammen und gibt abschließend Empfehlungen zur Weiterentwicklung der psychosozialen Versorgung.

Psychische Folgeprobleme bei Krebskranken

Die Diagnose einer Krebserkrankung stellt für die meisten Menschen ein äußerst belastendes Lebensereignis dar. Dabei sind im Hinblick auf die Langzeitfolgen vor allem die folgenden Belastungsinhalte von Bedeutung [3, 4, 5]:

Todesbedrohung

Obwohl jeder weiß, dass er irgendwann einmal sterben muss, denkt ein Gesunder normalerweise nicht tagtäglich an das Sterbenmüssen. Sigmund Freud hat sogar angemerkt, dass wir im Unbewussten davon überzeugt seien, ewig zu leben. Diese für die Alltagsbewältigung durchaus sinnvolle „Verleugnung“ des Todes ist für den Krebskranken nicht mehr möglich. Für ihn ist Sterbenmüssen unmittelbare psychische Realität geworden, und zwar zunächst unabhängig davon, ob der Tumor gut behandelbar und wie die Prognose beschaffen ist. Auch nach einer erfolgreichen Primärbehandlung bleibt der Verlauf unsicher. Die Selbstverständlichkeit des Daseins ist radikal infrage gestellt, die Naivität verloren gegangen, mit der Gesunde davon ausgehen, dass ihre Todesstunde noch weit entfernt ist. Krebskranke gewinnen diese Naivität auch nicht wieder zurück. Auch wenn sie nicht tagtäglich ans Sterben denken, so ist dieses Thema doch sehr leicht zu aktualisieren – zum Beispiel wenn jemand von der Krebserkrankung eines anderen Menschen erzählt, wenn ein Nachuntersuchungstermin ansteht oder zum Jahrestag des Diagnosezeitpunkts. Das Konzept der Rezidiv- oder Progredienzangst beschreibt diese spezifische Bedrohung für chronisch körperlich Kranke, insbesondere für Krebskranke [6]. Unter Progredienzangst wird die Angst vor dem Fortschreiten der Krebserkrankung verstanden. Da diese Angst durchaus einen realen Grund haben kann, wird sie von neurotischen Ängsten – zum Beispiel im Rahmen einer Angststörung – abgegrenzt. Erste empirische Ergebnisse weisen auf ihre Bedeutung auch im weiteren Verlauf nach Ende der Behandlung hin.

Verlust der körperlichen Integrität

Hans-Georg Gadamer spricht von der „Verborgenheit“ der Gesundheit. Als Gesunder nimmt man den eigenen Leib meist gar nicht wahr. Man kann sich auf sein Funktionieren verlassen. Erst wenn dieses infrage steht, tritt der Körper ins Bewusstsein. Das Gefühl der Selbstverständlichkeit, mit der man sich auf seinen Körper verlassen kann, ist beim Krebskranken bedroht oder verloren. Er ist von körperlichen Beschwerden und den körperlichen Auswirkungen eingreifender Therapiemaßnahmen betroffen und muss diese in sein Körperbild integrieren. Bei einer Mastektomie beispielsweise ist die körperliche Unversehrtheit auf Dauer verloren gegangen, und dieser Verlust kann auch durch Prothesen nicht wirklich kompensiert werden. Viele Frauen leiden noch Jahre und Jahrzehnte nach einer Axilladissektion unter Bewegungseinschränkungen und Lymphödemen im betroffenen Arm. Wie an späterer Stelle noch aufgezeigt wird, kann auch die tumorassoziierte Fatigue einen chronischen Verlauf nehmen und noch lange nach Abschluss der Therapie fortbestehen. Ähnliches gilt für kognitive Beeinträchtigungen wie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen.

Aufgabe von Alltagsaktivitäten

Infolge der körperlichen Beeinträchtigungen durch die Krankheit und infolge der unter Umständen langwierigen Therapiemaßnahmen müssen nicht selten Alltagsaktivitäten aufgegeben werden, zum Teil vorübergehend, zum Teil auch auf Dauer. Oft ist der ganze bisherige Lebensentwurf infrage gestellt. Lebensziele müssen überdacht oder neu gefunden werden. Hieraus können Prozesse der Trauer über den Verlust, aber auch Auflehnung, Hader und Wut über das als ungerecht erlebte Schicksal resultieren.

Infragestellung sozialer Rollen

Für viele Krebskranke wird bedingt durch die Folgen der Erkrankung und Behandlung die Frage aufgeworfen, ob sie noch in der Lage sein werden, ihre Familie zu versorgen oder ihre Arbeit auszuüben. Durch Frühberentung oder Reduzierung der Arbeitszeit wird die soziale Identität, die sich aus diesen Lebensbereichen speist, infrage gestellt.

Spirituelle Themen und die Sinnfrage

Die Diagnose einer Krebserkrankung wird von vielen Betroffenen als existenzielle Bedrohung erfahren. Die Krankheit bricht wie eine fremde Macht in das Leben ein und stellt die Integrität des Selbst, das Erleben als selbstbestimmte, kompetente und vollständige Person infrage. Durch die Krebsdiagnose werden grundlegende Überzeugungen infrage gestellt, zum Beispiel, das eigene Leben verstehen zu können, die Überzeugung, Kontrolle über das eigene Leben auszuüben, oder der Glauben an eine gerechte Welt, in der jeder das bekommt, was er verdient. Die Diskrepanz zwischen diesen Lebenssinn-Annahmen und dem Einbruch der Krebserkrankung motiviert die Betroffenen, nach Sinn zu suchen. Ein solcher Prozess der Sinnsuche kann, muss aber nicht darin münden, dass Sinn gefunden wird. Sinn zu finden kann auf der einen Seite bedeuten, der Krebserkrankung Sinn zu verleihen, auf der anderen Seite aber auch – was jedoch wohl seltener geschieht – die grundlegenden Lebenssinn-Annahmen aufzugeben oder einzuschränken ([7], Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Modell der Sinnfindung. (Mod. nach [7])

Wie viele Studien gezeigt haben, geht Sinnsuche mit emotionaler Belastung einher, und selbst Betroffene, die einen Sinn finden, sind oft nicht weniger belastet als die, die nie danach gesucht haben [7]. So war in einer Studie mit Brustkrebspatientinnen und einem Follow-up von 18 Monaten das Ausmaß der Suche nach Sinn nicht mit dem Ausmaß der Sinnfindung korreliert, wohl aber mit der Intensität des negativen Affekts. Daraus folgern die Autoren, dass es wohl besser sei, nicht nach Sinn zu suchen [8]. Analog ging in einer Studie mit Partnern von Brustkrebspatienten und einem Follow-up von 18 Monaten die Suche nach Sinn mit erhöhtem Distress einher, selbst dann, wenn Sinn gefunden wurde [9]. Die Suche nach Sinn korreliert mit intrusiven Gedanken, das heißt mit Gedanken, die sich dem Betroffenen aufdrängen, ohne dass er etwas dagegen unternehmen kann, was als Ausdruck des kognitiven Verarbeitungsprozesses interpretiert wird [10]. In einer Studie von Park et al. [11] mit Krebskranken unterschiedlicher Diagnosen und einem Ein-Jahres-Follow-up waren intrusive Gedanken mit einer psychischen Belastung und geringer Lebenszufriedenheit assoziiert. Dieser Zusammenhang fiel jedoch sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob die Betroffenen in ihrer Sinnsuche erfolgreich waren und positive Veränderungen infolge der Krebserkrankung identifizieren konnten oder nicht. Das Erleben, dass durch die Krebserkrankung auch positive Entwicklungen angestoßen wurden, wird als posttraumatisches Wachstum (posttraumatic growth) bezeichnet. Hierzu kann eine Neubewertung dessen gehören, was einem wichtig ist, vertiefte zwischenmenschliche Beziehungen oder auch die Verwirklichung von Wünschen, die man sich bislang nicht erlaubt hat. Posttraumatisches Wachstum wirkte als Moderatorvariable: Bei hoher Ausprägung gingen intrusive Gedanken mit geringerer emotionaler Belastung und größerer Lebenszufriedenheit einher, bei geringem posttraumatischem Wachstum war die Belastung hingegen hoch und die Lebenszufriedenheit gering. Wenn ein Sinn gefunden wurde, war das Denken an die Krebserkrankung also nicht mehr belastend, sondern sogar positiv getönt.

Lebensqualität bei Langzeitüberlebenden

In den letzten Jahren ist auch die Lebensqualität Langzeitüberlebender in den Blickpunkt der Forschung gerückt. „Cancer Survivorship“ wurde als ein wichtiges, aber bisher vernachlässigtes Thema identifiziert. Es wurde erkannt, dass Krebsbetroffene nach Abschluss der Primärbehandlung auch bei kurativer Intention nicht einfach wieder „gesund“ sind, sondern an langfristigen Folgeproblemen leiden können. Vor allem Patienten mit Tumoren mit relativ gutartiger Prognose waren Zielgruppen der Forschung, und hier wiederum insbesondere Frauen mit Mammakarzinom. Daher bezieht sich der folgende Überblick schwerpunktmäßig auf diese. Brustkrebspatientinnen, die fünf Jahre nach der Diagnosestellung rezidivfrei geblieben sind, weisen eine hohe Lebensqualität auf, die mit der der Allgemeinbevölkerung vergleichbar ist [12, 13, 14]. Die körperliche Funktionsfähigkeit, psychische Gesundheit und soziale Funktionsfähigkeit (hier auch inhaltlich bedeutsam) wurden von ihnen sogar signifikant besser beurteilt als von der Allgemeinbevölkerung, die körperliche Rollenfunktion, das heißt die Leistungsfähigkeit in Beruf und Alltag infolge des körperlichen Gesundheitszustandes jedoch etwas geringer [12]. Andere Studien berichten aber auch über eine geringere Bewertung des Gesundheitszustandes im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [15]. Dabei ging es Frauen, die in jüngerer Zeit behandelt wurden, besser als Frauen, die zu einem weiter zurückliegenden Zeitpunkt behandelt worden waren (Kohorteneffekt). Allerdings bestehen Nachwirkungen der Therapie oft noch lange weiter, zum Beispiel Lymphödembeschwerden bei 47% der Befragten [16]. In dieser Studie, die nur eine kurze Nachbeobachtungszeit von im Median zwei Jahren aufwies, wurde auch über eine hohe Prävalenz von Schmerzen und über eine Unzufriedenheit mit dem Aussehen berichtet. Die Lebensqualität war geringer als in einer gesunden Vergleichsgruppe.

Auch kann das emotionale Befinden von Langzeitüberlebenden generell als gut bewertet werden. So fiel bei Brustkrebspatientinnen die Prävalenz einer depressiven Störung von 33% zum Diagnosezeitpunkt auf 15% im fünften Jahr nach Diagnose und entsprach damit dem Wert in der Allgemeinbevölkerung [17]. Die meisten depressiven Episoden lösten sich vier Monate nach Diagnose auf, mit einem weiteren Abfall nach dem zweiten Jahr. In einer anderen Studie wiesen nur noch 11% der Betroffenen vier Jahre nach Behandlungsabschluss in einem Fragebogen auffällige Werte zum emotionalen Befinden (HADS) auf [14]. Im Vergleich zu einer Gruppe von Frauen, die ein anderes belastendes Lebensereignis erlitten hatten, gaben Brustkrebspatientinnen ein stärkeres posttraumatisches Wachstum, aber auch mehr körperliche Nebenwirkungen an [18]. In der psychischen Belastung gab es zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede.

Auch über den Fünfjahreszeitraum hinaus ist die Lebensqualität langzeitüberlebender Krebskranker generell gut bis exzellent. Zu dieser Schlussfolgerung kommt eine Übersichtsarbeit über sieben Diagnosegruppen (Brustkrebs, Eierstockkrebs, Gebärmutterhalskarzinom, Prostatakarzinom, kolorektales Karzinom, Kopf-und-Hals-Tumore, Morbus Hodgkin), in die auch 20 Studien zu Brustkrebs Eingang fanden [19]. Bei Brustkrebs nahm die Lebensqualität im Verlauf der Zeit eher zu, während sie bei Prostatakarzinom eher abnahm. Sechs Studien mit Brustkrebspatientinnen enthielten einen Vergleich mit gesunden Kontrollpersonen; drei davon berichteten über eine vergleichbare oder bessere Lebensqualität der ehemaligen Krebspatienten. Auch zum Prostatakarzinom existieren Studien, die sogar eine bessere psychische Gesundheit der Betroffenen als in der Normbevölkerung fanden. Einschränkungen bei Brustkrebspatientinnen betreffen, wie auch schon in der kürzeren Nachuntersuchungsperiode, vor allem die körperliche Domäne (zum Beispiel Schmerzen und Lymphödembeschwerden im betroffenen Arm sowie Fatigue). Auch ist die Überzeugung, dass das eigene Leben kontrollierbar ist, vermindert. Ein Risikofaktor für eine Einschränkung der Lebensqualität ist das junge Alter der Patientinnen. Eine Partnerschaft ist als Schutzfaktor zu betrachten; hingegen gehen Probleme in der Partnerschaft mit einer geringeren Lebensqualität einher.

Eine Studie mit Brustkrebspatientinnen, die sechs Jahre nach Diagnose nachuntersucht wurden, beschreibt ein exzellentes körperliches und emotionales Wohlbefinden sowie ein unverändertes Energieniveau und unveränderte soziale Beziehungen [20]. Es wurden lediglich leichte altersentsprechende Veränderungen beschrieben, unter anderem eine leichte Abnahme der sexuellen Aktivität. Acht Jahre nach der Diagnosestellung klagten noch 37% der Frauen über Armbeschwerden und 8% über Lymphödem. Diese Subgruppe von Patientinnen berichtete eine leicht geringere körperliche und psychische Lebensqualität [21]. In einer Studie, in der rezidivfreie Patientinnen 20 Jahre nach der Diagnosestellung nachbefragt wurden, konnte eine sehr hohe emotionale Funktionsfähigkeit im EORTC QLQ C-30 festgestellt werden [22]. Nur 5% der Frauen wiesen erhöhte Werte für psychische Belastung auf, 29% berichteten jedoch über sexuelle Probleme, 39% über Lymphödem. Allerdings gaben 15% zwei oder mehr Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung an, was zwar nicht die diagnostischen Kriterien erfüllt, jedoch ein Hinweis darauf sein kann, dass das Thema Krebs noch nicht ad acta gelegt ist. Insgesamt erschien jedoch der Einfluss der Krebserkrankung auf die psychische Anpassung minimal.

Fasst man die Befundlage zusammen, so kann man von einer erstaunlich hohen Lebensqualität langzeitüberlebender Krebskranker ausgehen. Dabei sind Einschränkungen eher im körperlichen Bereich zu finden, die auf therapieassoziierte Folgewirkungen zurückgehen. Dass Krebskranke ihre Lebensqualität besser bewerten als Gesunde, ist ein auf den ersten Blick paradox anmutendes Phänomen [23]. Dieses Paradox kann als Folge einer Veränderung des Bewertungsmaßstabs, an dem die Lebenszufriedenheit beurteilt wird, verstanden werden (Response Shift). Ein Response Shift umfasst sowohl ein „Herabsetzen“ des eigenen Anspruchsniveaus als auch eine neue Einordnung der unterschiedlichen Lebensbereiche hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Zufriedensein. Nach Schwartz et al. [24] lassen sich drei verschiedene Arten von Response Shift beschreiben: Rekalibrierung, Reprioritisierung und Neukonzeptualisierung. Bei der Rekalibrierung wird die Bewertungsskala, das heißt der Maßstab verändert, mit dem die eigene Lebensqualität bewertet wird: Was zuvor noch unerträglich erschien, wird nun als bewältigbar wahrgenommen. Bei der Reprioritisierung wird die Bedeutung einzelner Dimensionen der Lebensqualität verändert: Die körperliche Leistungsfähigkeit verliert möglicherweise an Bedeutung, enge persönliche Beziehungen werden wichtiger. Mit der Neukonzeptualisierung entwerfen die Betroffenen ein neues Bild davon, was Lebensqualität ausmacht: Manche Bereiche, die vorher genuine Bestandteile der Lebensqualität waren, wie zum Beispiel der Beruf, verlieren ihre Bedeutung vollkommen, während neue, bisher bedeutungslose hinzutreten, wie zum Beispiel kulturelle Interessen oder Naturerleben.

Der Response Shift, also die oben beschriebene Veränderung des subjektiven Maßstabs zur Bewertung der eigenen Lebensqualität, ist für die Lebensqualitätsmessung zunächst einmal ein Problem: Wenn sich der Maßstab zwischen zwei Messungen ändert, steht die Vergleichbarkeit der beiden Messergebnisse infrage. Verbessert sich die Lebensqualität, lässt sich nicht unterscheiden, ob sich der Gesundheitszustand des Patienten tatsächlich verbessert hat oder ob dieser lediglich sein Anspruchsniveau herabgesetzt hat. Umgekehrt kann bei einer Verschlechterung der Lebensqualität nicht beurteilt werden, ob sich der Gesundheitszustand tatsächlich verschlechtert hat oder ob der Betroffene diesen nur kritischer beurteilt, weil ihm zum Beispiel deutlicher vor Augen steht, was er im Vergleich zu früher alles nicht mehr tun kann. Inzwischen gibt es in der Lebensqualitätsforschung ein Analyseverfahren, das es erlaubt, reale Veränderungen und den Response Shift zu quantifizieren [25].

Andererseits lässt sich jedoch fragen, ob ein Response Shift nicht auch Ausdruck eines Anpassungsprozesses an eine veränderte Lebenssituation sein kann, der im Grunde erwünscht ist. Wie im Kontext der Problematik von Sinnsuche und Sinnfindung dargelegt, kann es für die Betroffenen sehr hilfreich sein, wenn sie ihre Sicht dessen, was das Leben lebenswert macht, verändern, um den Einbruch der Krebserkrankung zu assimilieren. Insofern können Prozesse der Neubewertung eine günstige Wirkung auf die Lebensqualität haben, ohne dass es sich dabei um bloße „Messfehler“ handelt. Der Response Shift könnte also ein anzustrebendes Therapieziel sein, und dies nicht nur im Kontext einer Meaning-making-Intervention. Diese Überlegungen sind jedoch hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine psychoonkologische Versorgung und Lebensqualitätsmessung noch nicht absehbar.

Kognitive Folgeprobleme

Den Therapiefolgestörungen bei kognitiven Funktionen wie der Aufmerksamkeit und bei Gedächtnis- und exekutiven Leistungen wurde bei onkologischen Patienten in der Vergangenheit vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt. Zwar war die Neurotoxizität vieler onkologischer Therapien, speziell auch chemotherapeutischer Substanzen (CHT), schon lange Zeit bekannt, doch fokussiert die klinische Onkologie bis heute weitgehend auf neurologische Aspekte, wie zum Beispiel auf die platin-vincaalkaloid- oder taxaninduzierte periphere Polyneuropathie (Missempfindungen, Taubheitsgefühle oder auch schmerzhafte Zustände in den peripheren Gliedmaßen vor allem an den Händen und Füßen) oder auf massive Beeinträchtigungen des ZNS wie Leukenzephalopathien oder die Hirnnerven betreffende Störungen (zum Beispiel Schädigungen der Hörnerven infolge verschiedener Substanzen). Neuropsychologische Defizite als mögliche Langzeitfolgen der onkologischen Therapie werden hingegen erst in den letzten Jahren systematischer untersucht [26]. Da sich einerseits Umfang und Qualität adjuvanter chemotherapeutischer Strategien in den letzten Jahren deutlich verändert haben und andererseits dank verbesserter supportiver Maßnahmen auch ältere Patienten intensivster Hochdosisprotokolle unterzogen werden, hat die Relevanz neuropsychologischer Folgestörungen aber erheblich zugenommen. Allerdings wird der mögliche Einfluss chemotherapeutischer Strategien sowohl in üblicher Dosierung (wie beim Mammakarzinom) [27, 28] als auch bei der Hochdosistherapie mit nachfolgender Stammzelltransplantation [29, 30] auf kognitive Leistungen auch kontrovers diskutiert. Zumindest kann das eindimensionale Modell der Schädigung bestimmter Hirnareale durch ein oder mehrere Pharmaka die in manchen Studien von bis zu zwei Drittel der Patienten erlebten Defizite allein wohl nicht erklären.

Kognitive Defizite werden – als eine von verschiedenen Therapiefolgestörungen nach onkologischen Behandlungen (speziell nach der Chemotherapie) – von bis zu 50% der Patienten im Praxisalltag berichtet, während die Prozentzahlen bei kognitiven Leistungseinschränkungen als Langzeitfolgen mit circa 15 bis 20% der Patienten beziffert werden. Da vorbestehende Einschränkungen zumeist nicht bekannt sind und nur in wenigen prospektiven Studien untersucht wurden, ist der Anteil an therapiebedingten Folgestörungen nur schwer abzuschätzen. Erfahrungen aus zahlreichen prospektiven Studien deuten auf eine multifaktorielle Genese hin, in der neben möglichen direkten toxischen Effekten sowohl indirekt inflammatorische als auch psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Die in einigen Studien beobachtete, nicht unerhebliche Diskrepanz zwischen der subjektiven Wahrnehmung und objektiv messbaren Einschränkungen mögen sich zum Teil aus diesen Phänomenen erklären.

Die Bedeutung von Östrogenen im zentralnervösen Stoffwechsel ist insbesondere im Zusammenhang mit Brustkrebs untersucht worden [31]. Auch wurde der Einfluss hormoneller Veränderungen auf kognitive Leistungen in verschiedenen Studien evaluiert [32]. Wiederholt fand sich ein Zusammenhang zwischen dem Östrogenstoffwechsel und dem sprachlich-semantischen Gedächtnis, sodass einige Autoren als geeignetes neuropsychologisches Testverfahren sogenannte Paragraph-recall-Tests empfehlen, in denen ein informationsreicher Text möglichst detailliert wiedergegeben werden muss. In die oben bereits dargestellten Studien zu den neuropsychologischen Effekten adjuvanter Chemotherapie wurden auch Patientinnen unter antihormoneller Therapie (AHT) einbezogen, allerdings konnte der spezifische Effekt dieser Behandlung auf neuropsychologische Parameter in keiner Arbeit systematisch untersucht werden. Tchen et al. [33] berichteten, dass in einer explorativen multivariaten Regressionsanalyse menopausale Beschwerden keinen Zusammenhang zur Inzidenz kognitiver Defizite zeigten, allerdings ist nicht klar, ob die menopausalen Beschwerden im Zusammenhang mit der AHT auftraten.

Neuere Untersuchungen zur Frage möglicher Effekte antihormonaler Therapien bei Männern mit Prostatakarzinom [34] konnten in einer kontrollierten, randomisierten Längsschnittstudie auch nach einem Jahr keinen signifikanten Einfluss der antihormonalen Dauertherapie feststellen. Auch wenn einige Studien an Patienten mit Prostatakarzinom widersprüchliche Ergebnisse aufzeigen, deutet die Mehrzahl vergleichbarer Untersuchungen darauf hin, dass Androgen vermindernde Behandlungen keinen nachhaltigen Einfluss auf die kognitiven Funktionen haben.

Bisher liegen nur wenige prospektiv, kontrollierte Interventionsstudien vor, sodass die Effekte unterschiedlicher Strategien von Hirnleistungstraining derzeit noch nicht abschließend bewertet werden können [35, 36]. Aufgrund der Befunde zum möglichen Einfluss psychosozialer Belastungsfaktoren auf das Erleben kognitiver Leistungseinschränkungen erscheint es sinnvoll, diese spezifischen Funktionseinschränkungen im Gesamtkontext der psychosozialen Belastungen von Langzeitüberlebenden zu betrachten. Hier besteht ein hoher Forschungsbedarf gerade zur Frage nach geeigneten neuropsychologischen Interventionen als Teil komplexerer Therapiestrategien.

Fatigue als Langzeitfolge

Die tumorassoziierte Erschöpfung (Fatigue) gilt als eines der häufigsten Folgeprobleme einer Tumorerkrankung beziehungsweise deren Behandlung. Die tumorassoziierte Erschöpfung wird in den meisten Definitionen als ein belastendes Gefühl atypischer Müdigkeit und Schwäche auf körperlicher, emotionaler und kognitiver Ebene beschrieben, die sich durch Ausruhen oder Schlaf nicht wesentlich bessern [37]. Auf der körperlichen Ebene zeigt sich die Fatigue beispielsweise in einer reduzierten körperlichen Leistungsfähigkeit; Antriebs- und Interesselosigkeit sind die häufigsten Symptome auf der emotionalen Ebene, während sich auf der kognitiven Ebene vor allem Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme des Kurzzeitgedächtnisses zeigen. Fatigue kann zu jedem Zeitpunkt der Tumorerkrankung auftreten und führt zur starken Einschränkungen der Leistungsfähigkeit sowie der Lebensqualität der Betroffenen [38]. Angaben zu den Prävalenzraten schwanken zwischen 59% und mehr als 90%. Von der tumorassoziierten Erschöpfung während oder unmittelbar nach Ende der Tumortherapie sind fast alle Patienten betroffen, als Langzeitfolge tritt sie jedoch deutlich seltener auf. Für Fatigue als Langzeitfolge werden Prävalenzen zwischen 20 und 50% berichtet. Kuhnt et al. [39] untersuchten Patienten mit unterschiedlichen Tumoren zwei Jahre nach Ersttherapie und berichten bei 36% moderate, bei 12% starke Fatigue. Arndt et al. [40] fanden in einer Stichprobe von Mammakarzinom-Patientinnen ein Jahr nach Diagnosestellung bei circa 30% der Patientinnen erhöhte Fatiguewerte. In einer Studie von Mehnert et al. [41] waren fünf Jahre nach Beendigung der Mammakarzinom-Therapie im Durchschnitt noch circa 50% der Patienten betroffen. Diese Ergebnisse sind mit Befunden aus internationalen Studien vergleichbar, die zeigten, dass von Fatigue betroffene Langzeitüberlebende unter einer deutlich verminderten Lebensqualität litten [42].

Obwohl in den letzten Jahren intensive Forschungen betrieben wurden, fehlt es bislang an einer umfassenden Theorie zur Erklärung der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge bei der tumorassoziierten Fatigue. Nach heutigem Verständnis ist sie als multidimensionales Konstrukt zu verstehen, das somatische Faktoren ebenso mit einbezieht wie psychologische Faktoren oder Verhaltensaspekte [43]. Als somatische Faktoren werden proinflammatorische Zytokine, eine Dysregulation der HPA-Achse, Desynchronisation des Tagesrhythmus, Muskelabbauprozesse oder genetische Dysregulationen [44, 46, 47, 48] diskutiert. Weiterhin wird einer ungenügenden Sauerstoffzufuhr, metabolischen Störungen, einem hormonellen Ungleichgewicht sowie Veränderungen im Blutbild (Anämie, Hypokaliämie, Hypokalzämie) ein wichtiger Stellenwert beigemessen [49]. Auch wurde eine starke Korrelation der Fatigue mit Schlafstörungen dokumentiert ([50], Abb. 2).

Abb. 2
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Einflussfaktoren auf tumorassoziierte Fatigue

Mit Blick auf die psychosozialen Merkmale wird vorrangig der Zusammenhang zwischen Fatigue und Depression sowie Angststörungen diskutiert [51, 52, 53, 54]. Dabei ist eine differenzialdiagnostische Abgrenzung oft erschwert, und die kausalen Zusammenhänge sind letztendlich nicht vollständig geklärt. Fatigue hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf den Betroffenen, sondern auch auf die Gesundheitsversorgung sowie die im Gesundheitssystem entstehenden direkten oder indirekten Kosten. Patienten, die unter Fatigue leiden, nehmen häufiger Ärzte und andere Gesundheitsdienste in Anspruch, und bei ihnen finden sich höhere Raten an Arbeitsausfällen sowie häufiger Einbußen in der Arbeitsfähigkeit [55]. Weiterhin ist Fatigue ein negativer Prädiktor für eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung [56].

Fazit

Wie in der vorliegenden Übersicht zusammenfassend dargestellt wurde, nimmt die Zahl der Langzeitüberlebenden nach einer Tumorerkrankung, bedingt durch die verbesserte Früherkennung und Behandlung in den letzten Jahren, stetig zu. Zugleich wird deutlich, dass sich die Spätfolgen, insbesondere der komplexen und invasiven Tumorbehandlung, auf verschiedene Funktionsbereiche und die Lebensqualität auswirken können. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass sich die Lebensqualität für die Mehrzahl der Patienten nach Beendigung der Therapie im Zeitverlauf deutlich verbessert und hier kaum Unterschiede zur Normalbevölkerung bestehen, weisen circa 25% der ehemaligen Patienten verschiedene psychosoziale Folgeprobleme auf. Unter den psychischen Belastungen ist insbesondere die Angst vor einem möglichen Rezidiv zu nennen, die die Patienten lebenslang begleiten kann und die vor allem bei den Nachsorge- oder Kontrolluntersuchungen wächst und die psychische Befindlichkeit deutlich einschränkt. Die verbesserte Lebensqualitätseinschätzung beruht teilweise auf einer Sollwertverstellung der Patienten, die im Sinne einer Adaptation an die veränderten Rahmenbedingungen zusehen ist. Betrachten wir die einzelnen Symptombereiche genauer, fällt auf, dass neben Schwankungen der psychischen Befindlichkeit vor allem das Problem der kognitiven Leistungseinschränkung sowie die tumorbedingte Fatigue zentrale Langzeitfolgen der Tumortherapie sind. Während in den Vereinigten Staaten die Probleme langzeitüberlebender Tumorpatienten seit einigen Jahren eine zunehmende Aufmerksamkeit erfahren, ist das Thema in Deutschland erst in den letzten Jahren in den Fokus des Interesses gerückt. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Problembereiche ist es eine große Herausforderung, psychosoziale Interventionen und Konzepte einer Spätrehabilitation für Langzeitüberlebende zu entwickeln sowie Beratungs- und Schulungsangebote sowie bei Bedarf gezielte Behandlung zu etablieren. Je nach Art und Schweregrad der Folgeprobleme gilt es, Behandlungskonzepte zu erproben und systematisch zu evaluieren. Mit Blick auf die tumorassoziierte Fatigue geben kontrollierte, randomisierte Studien sowie Metaanalysen erste Hinweise auf die Wirksamkeit nicht-pharmakologischer Behandlungsmethoden wie kontrolliertes Belastungstraining, Sporttherapie und Psychoedukation [57, 58, 59]. Hingegen liegen hier für die pharmakologischen Behandlungsmethoden noch keine ausreichenden Wirksamkeitsnachweise vor [60]. Zum Thema der neuropsychologischen Trainingsangebote können bislang aufgrund der gegenwärtig noch geringen Zahl an Studien zu diesem Thema keine Empfehlungen ausgesprochen werden [36, 61]. Es ist eine wichtige Aufgabe der psychosozialen Versorgung von Tumorkranken, für diese spezielle Zielgruppe in den nächsten Jahren entsprechende Angebote zu entwickeln und zu implementieren und sie durch Beratung und Angebote der ambulanten oder stationären Rehabilitation besser zu versorgen.