Hintergrund

Der Begriff „Anaphylaxie“ leitet sich aus dem Griechischen ab (Ana = gegen, phylaxis = Schutz) und wurde von Richet und Portier geprägt, die für ihre Beobachtungen 1913 den Nobelpreis erhalten haben: Sie hatten Hunden Gift von Quallen verabreicht und anders als erwartet, entwickelten die Tiere nach wiederholten Injektionen keine Schutzreaktion gegen die giftige Substanz, sondern verstarben unter den Zeichen einer allergischen Allgemeinreaktion. Somit wurde der Begriff „Anaphylaxie“ (Schutzlosigkeit) geprägt, noch lange bevor das Immunglobulin E (IgE), das Schlüsselmolekül bei allergischen Erkrankungen, entdeckt war.

Heute werden als Anaphylaxie schwere allergische Reaktionen bezeichnet, die mastzellabhängig sind und in der überwiegenden Zahl der Fälle über IgE-abhängige Mechanismen vermittelt werden. Aus der Literatur ist bekannt, dass die häufigsten Auslöser schwerer allergischer Reaktionen Nahrungsmittel, Insektengifte und Medikamente sind.

Schwere allergische Reaktionen können potenziell tödlich verlaufen. Gemäß einer Auswertung von Daten des statistischen Bundesamtes traten in Deutschland zwischen 2004 und 2008 bis zu 150 Todesfälle infolge einer Anaphylaxie auf. Wahrscheinlich sind die tatsächlichen Zahlen um ein Vielfaches höher, da eine hohe Dunkelziffer anzunehmen ist. Systematische prospektive Untersuchungen zur Häufigkeit der Anaphylaxie gab es für den deutschsprachigen Raum jedoch bislang nicht. Aus diesem Grund haben wir 2006 das Anaphylaxie-Register initiiert [1]. Zu Beginn wurde ein Fragebogen entwickelt und dieser in einer Pilotphase mit ausgewählten Zentren validiert.

Da allergische Erkrankungen in der Bevölkerung sehr häufig sind, wurde für das Anaphylaxie-Register festgelegt, nur Fälle mit schweren Reaktionen, das heißt solche mit Beteiligung des Herz-Kreislauf- und/oder respiratorischen Systems, zu dokumentieren. Leichte Symptome einer allergischen Reaktion können sich an der Haut oder Schleimhaut als Urtikaria (Nesselsucht) beziehungsweise Angioödem (Schleimhautschwellung zum Beispiel am Auge) manifestieren oder den Gastrointestinaltrakt betreffen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall).

Erfasst werden neben den Symptomen an den verschiedenen Organsystemen (Haut und Schleimhaut, Magen-Darm-Trakt, Atemtrakt und Herz-Kreislauf-System) demografische Daten der betroffenen Patienten einschließlich Alter, Geschlecht und das Vorliegen von Begleiterkrankungen. Die Daten werden bislang in erster Linie durch allergologische Zentren eingegeben. Dies hat den Vorteil, dass das Register ausschließlich Daten zu medizinisch und vor allem allergologisch sehr gut dokumentierten Fällen enthält. Aufgrund dieses Designs (Meldung durch Allergologen) liefert es klinische Fakten zu den Patienten und ihrer Versorgung, jedoch keine Daten zur Prävalenz und Inzidenz der Anaphylaxie. Hierfür wären zusätzliche Daten beispielsweise aus Notfallambulanzen erforderlich.

Frühere Daten aus England und auch aus den USA legen nahe, dass die Anaphylaxie in der Bevölkerung sehr selten auftritt. Aktuell wird von einer Anaphylaxie-Inzidenz von ungefähr zehn bis 50 Personen auf 100.000 Einwohner ausgegangen; dabei sind regionale Unterschiede zu berücksichtigen [2, 3].

Die Online-Verfügbarkeit des Fragebogens ermöglicht es, regelmäßig Auswertungen durchzuführen und deren Ergebnisse auch an die teilnehmenden Zentren zu kommunizieren. Neben der prospektiven Datenerhebung ist es ein wesentliches Ziel des Anaphylaxie-Registers, Daten zu generieren, um die Prävention und Prophylaxe von schweren allergischen Reaktionen zu verbessern.

Bisher vorliegende Daten

Insektengifte, Nahrungsmittel und Medikamente sind die häufigsten Auslöser einer Anaphylaxie bei Kindern und Erwachsenen (Tab. 1). Bis Juni 2011 wurden über 3000 anaphylaktische Reaktionen an das Anaphylaxie-Register gemeldet. Eine Auswertung der bis November 2010 gemeldeten Fälle ergab 2114 anaphylaktische Reaktionen gemäß der definierten Einschlusskriterien. Bei der Auswertung wurden Patienten mit einem hohen Risiko für eine schwere Anaphylaxie (solche mit der Begleiterkrankung Mastozytose, bei der die Zahl der für anaphylaktische Reaktionen besonders wichtigen Mastzellen vermehrt ist) nicht berücksichtigt. Eine Analyse des verbleibenden Datensatzes von 2012 betroffenen Patienten zeigte, dass die Haut mit 84% am häufigsten von einer anaphylaktischen Reaktion betroffen war, gefolgt vom kardiovaskulären System (72%) und dem Respirationstrakt mit 68% (Tab. 2). Der Gastrointestinaltrakt war nur bei 40% der gemeldeten Reaktionen beteiligt.

Tab. 1 Auslöser anaphylaktischer Reaktionen bei den im Anaphylaxie-Register gemeldeten Patienten [n = 2012, davon 427 (21%) Kinder und Jugendliche und 1585 (79%) Erwachsene; in 108 (5%) Fällen war der Auslöser unbekannt]
Tab. 2 Symptomprofil der im Anaphylaxie-Register gemeldeten Patienten (n = 2012, Mehrfachnennungen möglich)

Bei der Mehrzahl der gemeldeten Reaktionen (95%) war der Auslöser der anaphylaktischen Reaktion bekannt. In der Gesamtgruppe waren die häufigsten Auslöser Insektenstiche, gefolgt von Nahrungsmitteln und Medikamenten. Interessanterweise zeigt sich hier jedoch eine Altersabhängigkeit: Bei Kindern sind Nahrungsmittel die häufigsten Auslöser für schwere allergische Reaktionen, während es bei Erwachsenen Insektengifte sind (Tab. 1).

Die Datenanalyse zeigt, dass im vorliegenden Kollektiv Wespengift der häufigste Auslöser für eine Insektengiftanaphylaxie war (70% der gemeldeten Insektengiftreaktionen), während ca. 20% der schweren Reaktionen durch Bienengift hervorgerufen wurden.

Bei den Nahrungsmitteln stammen die häufigsten Auslöser schwerer allergischer Reaktionen aus der Gruppe der Hülsenfrüchte. Bei Erwachsenen steht hier Soja im Vordergrund, bei Kindern sind es die Erdnüsse. Weitere häufige Auslöser einer Nahrungsmittelanaphylaxie sind tierische Lebensmittel (Hühnereiweiß und Milcheiweiß) sowie die Gruppe der Baumnüsse.

Über das Anaphylaxie-Register können auch Daten zu seltenen Auslösern einer Anaphylaxie gewonnen werden. In der Gruppe der Nahrungsmittel gehören hierzu beispielsweise Buchweizen und Pastinake sowie bei den Medikamenten Biologika und ACE-Hemmer.

Bislang wurden dem Register sechs Todesfälle gemeldet. Ein zehnjähriger Junge verstarb nach dem Verzehr von Haselnuss und Kiwi, ein 14-jähriges Mädchen nach dem Konsum eines erdnusshaltigen Müsli-Riegels. Ein 44-jähriger, 47-jähriger und ein 53-jähriger Mann verstarben jeweils durch den Stich einer Wespe und eine 81-jährige Frau nach der Einnahme von Metamizol.

Atopische Begleiterkrankungen

Die Erfassung von Begleiterkrankungen zeigt, dass diese bei über 50% der betroffenen Patienten vorliegen. Bei Kindern finden sich als Begleiterkrankungen am häufigsten atopische Erkrankungen wie die atopische Dermatitis, das allergische Asthma bronchiale und die allergische Rhinokonjunktivitis, bei Erwachsenen kommen kardiovaskuläre Erkrankungen häufig vor. Ob diese Begleiterkrankungen tatsächlich signifikant häufiger bei Anaphylaxiepatienten auftreten, ließe sich nur durch eine Berücksichtigung von Kontrollkollektiven ermitteln. Allerdings zeigen die ersten Ergebnisse mit den bislang vorliegenden Daten, dass bei Patienten mit einer Nahrungsmittelanaphylaxie häufiger atopische Begleiterkrankungen vorliegen als bei Patienten mit einer Insektengiftanaphylaxie.

Behandlung schwerer allergischer Reaktionen

Die Analyse zur akuten Versorgungssituation der Patienten zeigt, dass bei Erwachsenen sehr häufig eine notärztliche Versorgung erfolgt, während bei Kindern häufiger Angehörige die initiale Versorgung durchführen. Am häufigsten werden zur Behandlung der schweren allergischen Reaktionen Antihistaminika und Kortikosteroide eingesetzt, während das Mittel der Wahl, Adrenalin, nur bei weniger als 20% der Fälle Anwendung findet (Abb. 1). Der Vergleich zwischen den Ländern (Deutschland, Österreich und Schweiz) und auch innerhalb Deutschlands (Norden, Süden, Osten und Westen) zeigt diesbezüglich keine signifikanten Unterschiede.

Abb. 1
figure 1

Medikamentöse Notfallversorgung bei den im Anaphylaxie-Register gemeldeten Patienten (n = 2012; Mehrfachnennungen möglich)

Weniger als 20% der Patienten werden direkt nach ihrer anaphylaktischen Reaktion einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung zu den Auslösern beraten und erhalten einen Allergiepass. Instruktionen zum Umgang mit den Notfallmedikamenten erhielten 75% der Patienten.

Adrenalin als Autoinjektor zur präventiven Notfallbehandlung wird weniger häufig verordnet als Antihistaminika (Daten unpubliziert). Bei den Insektengiftallergikern steht die spezifische Immuntherapie als kausale Behandlungsmöglichkeit zu Verfügung; sie wird allerdings bei weniger als 50% der gemeldeten Fälle auch tatsächlich durchgeführt.

Zusammenfassend zeigen die ersten Daten zur Versorgungssituation der betroffenen Patienten mit schweren allergischen Reaktionen, dass Verbesserungsmöglichkeiten auf allen Ebenen der Prävention (primär, sekundär und tertiär) bestehen und die Empfehlungen der vorliegenden Leitlinien in der Praxis nicht umgesetzt werden [4].

Diskussion

Die bislang aus dem Anaphylaxie-Register erhobenen Daten verdeutlichen, dass es möglich ist, mittels einer Online-Fragebogenerhebung regelmäßig und kontinuierlich Daten von Patienten mit schweren allergischen Reaktionen zu erfassen. Das Anaphylaxie-Register eignet sich auch, seltene Auslöser einer Anaphylaxie frühzeitig zu erfassen sowie Risikofaktoren und die Versorgungssituation von Betroffenen zu erforschen.

Die Daten zeigen, dass die im deutschsprachigen Raum beschriebenen Symptome und Auslöser von schweren allergischen Reaktionen mit denen aus anderen europäischen, aber auch außereuropäischen Ländern vergleichbar sind [5, 6].

Insbesondere die Daten zu den Nahrungsmitteln weisen darauf hin, dass die Erdnuss wahrscheinlich auch in Deutschland als Auslöser einer Anaphylaxie an Bedeutung gewinnt [7].

Die Daten zu den Anaphylaxie-auslösenden Nahrungsmitteln, aber auch den Medikamenten sind von besonderer Bedeutung, da sie neue Auslösergruppen, die bislang nicht oder nur wenig bekannt waren, frühzeitig anzeigen. Somit erfüllt das Anaphylaxie-Register eine wichtige Sentinelfunktion.

Durch die regelmäßige Informationsweitergabe an die beteiligten Zentren, aber auch durch eine regelmäßige Publikationen der Daten, wird die Aufklärung zur Anaphylaxie, einer potenziell lebensbedrohlich verlaufenden allergischen Erkrankung, für betroffene Patienten verbessert.

Darüber hinaus kann mithilfe der Daten die aktuelle Versorgungssituation auf allen Ebenen der Prävention abgebildet werden und mögliche Versorgungslücken identifiziert werden. Sollte es perspektivisch – beispielsweise durch Umsetzung eines nationalen und perspektivisch internationalen Schulungsprogramms – gelingen, die Aufklärung der betroffenen Patienten zu verbessern, könnte mit Hilfe des Anaphylaxie-Registers die Erfolgsrate einer solchen Maßnahme (zum Beispiel veränderte Rangfolge bei der verabreichten Notfallmedikation) ermittelt werden.

Perspektiven

Zukünftige Aufgaben des Anaphylaxie-Registers sind die Erfassung von Risikofaktoren schwerer allergischer Reaktionen und die Entwicklung begleitender Forschungsprojekte zu den Mechanismen und Biomarkern der Anaphylaxie. Vordringliche Ziele sind hier im Besonderen, neue Biomarker zu definieren, um eine schwere allergische Reaktion zu diagnostizieren oder idealerweise auch vorherzusagen. Aktuell ist es uns gelungen, unseren Fragebogen in englischer Sprache bereitzustellen und somit erste Schritte für eine paneuropäische Etablierung des Registers zu ermöglichen. Somit können Daten für Gesamteuropa erhoben und analysiert werden.