Die Erfolge in der Prophylaxe, der demografische Wandel sowie die fachliche Entwicklung und die wissenschaftlichen Fortschritte, das Nachfrageverhalten der Patienten und die politischen Rahmenbedingungen in der Sozialgesetzgebung werden die Kieferorthopädie zukünftig grundlegend verändern. Es ist zum Beispiel davon auszugehen, dass vermehrt ältere Patienten (50 Jahre und älter) mit progredienten Zahn- beziehungsweise Kieferfehlstellungen und parodontalen Erkrankungen sowie mit kraniomandibulären Dysfunktionen die kieferorthopädische Behandlung aufsuchen werden. Behandlungsmotive sind die Angst vor drohendem Zahnverlust sowie die Verbesserung der Lebensqualität, der Kaufunktion und der Ästhetik.

Der vorliegende Beitrag soll unter anderem dazu beitragen, die zuvor genannten Zusammenhänge zu beleuchten und dem Leser einen Überblick über zukünftige Trends und Entwicklungen im Fach Kieferorthopädie aufzuzeigen.

Demografischer Wandel – orale Gesundheit – kieferorthopädischer Behandlungsbedarf

Berechnungen des Statistischen Bundesamtes [1] zufolge wird sich die Altersstruktur der Bevölkerung in den nächsten 20 Jahren dramatisch verändern. Die Zahl der Jugendlichen unter 18 Jahren wird von momentan 13,3 Millionen (16% der Gesamtbevölkerung) auf bis zu 11,6 Millionen (14%) sinken. Gleichzeitig wird der Anteil der über 51-Jährigen von momentanen 39% auf 46 bis 49% der Gesamtpopulation ansteigen.

Zudem hat sich in den letzten Jahren auch der orale Gesundheitszustand der Bevölkerung verändert. Während 70% der 12-Jährigen heute ein naturgesundes Gebiss aufweisen, belegen Daten der vierten deutschen Mundgesundheitsstudie [2], dass 40% der Senioren an einer schweren Form der Parodontitis leiden beziehungsweise litten. Mittelschwere und schwere Parodontalerkrankungen haben bei Erwachsenen (35 bis 44 Jahre) und Senioren (65 bis 74 Jahre) von 1997 bis 2005 stark zugenommen. Der aktuelle Bestand an mittelschweren und schweren Parodontalerkrankungen liegt bei den Erwachsenen bei 73,2%, bei den Senioren bei 87,8% [2]. Grund für diese Entwicklung ist, dass in diesen Altersgruppen weniger Zähne durch Karies verloren gegangen sind. Bei den erhaltenen Zähnen besteht jedoch mit zunehmendem Lebensalter ein wachsendes Risiko, an einer Parodontitis zu erkranken. Brunsvold berichtet in seiner Studie, dass bei 30 bis 56% der an Parodontitis erkrankten Patienten pathologische Zahnmigrationen auftreten [3].

Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, der oralen Gesundheit und gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen in Deutschland werden sich unweigerlich auf die kieferorthopädischen Behandlungsmaßnahmen auswirken: Die Zahl an kieferorthopädischen Interventionen bei Kindern und Jugendlichen wird sich zukünftig verringern [Voraussetzung: gleich bleibende(r) Behandlungsbedürftigkeit/-bedarf in dieser Altersgruppe], während nicht nur bei jüngeren, sondern insbesondere auch bei älteren Erwachsenen mit einer zunehmenden Zahl an Behandlungen zu rechnen ist, auch wenn diese Leistungen nicht Gegenstand der Versorgung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sind.

Primäre Dysgnathien

Zu den primären Dysgnathien zählen angeborene (Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Syndrome, Anomalien der Zahnzahl, Zahnstellung und Kieferform) und genetisch bedingte Malokklusionen/Dysgnathien (Klasse II/2 und III), echtes Diastema, Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße, Hyper- und Hypodontie, Verlagerung und Retention von Zähnen, genuine mandibuläre Retro- und maxilläre Prognathie [4].

Während noch 25,3% der Kinder im Milchgebiss regelrechte Okklusionsbeziehungen aufweisen, sind es im Wechselgebiss nur noch 7,3% [5, 6]. An Anomalien finden sich zu 49,3 beziehungsweise 59% vor allem Distalokklusionen/große Frontzahnstufen und zu 7,2 beziehungsweise 12% seitliche Kreuzbisse. Dies ist vor allem auf die steigende Prävalenz (61,6 beziehungsweise 80,8%) orofazialer Dysfunktionen zurückzuführen, da die gestörten Funktionsabläufe mit fortschreitender Gebissentwicklung keine Selbstausheilungstendenzen mehr zeigen und mit hoher Wahrscheinlichkeit in das bleibende Gebiss übernommen werden [7]. Finden sich neben der Gebissanomalie zusätzlich eine Haltungsschwäche oder zwei aktive Dysfunktionen, muss man von einem „kieferorthopädischen Risikokind“ ausgehen. Die kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) erlauben jedoch bei ausgeprägten kieferorthopädischen Befunden nur wenige Frühbehandlungen [8], sodass ein hoher kieferorthopädischer Präventions- und früher Therapiebedarf unberücksichtigt bleiben [9]. Nicht frühbehandelte Kinder bedürfen dann im zunehmenden Maße einer umfangreichen, kostenintensiven Normalbehandlung oder werden als Erwachsene eine kieferorthopädische Behandlung benötigen.

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten

Die verschiedenen Formen der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten (LKG) kommen bei 1 bis 2 auf 1000 Geburten vor [10]. Ob sich deren Inzidenz im Laufe der Jahrzehnte aufgrund veränderter Umwelteinflüsse erhöht hat (beziehungsweise sich in Zukunft erhöhen wird), lässt sich auf Basis der aktuellen Datenlage nicht klären.

Um bei Patienten mit LKG-Spalten ein funktionell und ästhetisch stabiles Therapieergebnis zu erreichen, muss die kieferorthopädische Behandlung streng interdisziplinär ausgerichtet werden [11]. Hier wird auch in Zukunft eine engmaschige Betreuung der Patienten über die gesamte Wachstumsphase hinweg unabdingbar sein: Diese umfasst die präoperative Säuglingsbehandlung, eine kieferorthopädische Frühbehandlung im Milchgebiss, die Vorbereitung auf die Kieferspaltosteoplastik, die „normale“ kieferorthopädische Therapie und lange Retentionsphasen (Abb. 1 a,b).

Abb. 1
figure 1

a Sechs Monate altes Mädchen mit linksseitiger Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte. b Nach interdisziplinärer Behandlung (MKG-Chirurgie, Kieferorthopädie, Implantologie, Prothetik, HNO, Logopädie) im Alter von 19 Jahren

Veränderte Operationsmethoden hin zu funktionellen Muskelhabilitationen und die stärkere Betonung der Entwicklung einer normgerechten Sprache und Mimik werden die kieferorthopädische Behandlung auch zukünftig beeinflussen.

Syndrome

Für den Kieferorthopäden stehen bei den verschiedenen Syndromen mit Wachstumsstörungen im Kopfbereich (zum Beispiel Goldenhar-Syndrom, Apert-Syndrom) während der Wachstumsphase die Normalisierung der Funktion und gegebenenfalls die Retention des Ergebnisses nach Kallusdistraktion im Vordergrund. Nach Wachstumsende sind besonders die kombinierten kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Therapien eine Herausforderung, da hier häufig umfangreiche, dreidimensionale Planungen [auch basierend auf Computertomographie (CT) oder digitaler Volumentomographie (DVT)] zur korrekten Einstellung der Kiefersegmente erforderlich sind.

Kinder mit Trisomie 21 werden nach Absprache mit den behandelnden Physiotherapeuten und Logopäden schon im zweiten Lebenshalbjahr der kieferorthopädischen Säuglingsbehandlung im Sinne der Erinnerungsplatte zugeführt [12]. Dank dieser Frühförderung zeigen die Kinder heute eine bessere orofaziale Funktion (Mundschluss, Zungenlage). Damit haben sich die Voraussetzungen für die „normale“ Kieferorthopädie mit dem Ziel eines verbesserten Kau- und Artikulationsvermögens und einer leichteren Integration in die Gesellschaft verbessert.

Ob sich die Anzahl der Geburten mit Fehlbildungen im Gesichtsbereich (LKG) und Syndromen mit Gesichtsbeteiligung (zum Beispiel Morbus Down) und damit auch der Behandlungsbedarf in Zukunft aufgrund der Möglichkeiten der Pränataldiagnostik (zum Beispiel Gentests, Ultraschalldiagnostik) verändern wird, lässt sich heute noch nicht abschließend beurteilen. Diesbezügliche Einflussfaktoren sind die moralisch-ethische Einstellung unserer Gesellschaft und veränderte Inzidenzen zum Beispiel aufgrund umweltbedingter Einflüsse.

Zahnunterzahl durch Aplasie oder Trauma

Zahnaplasien gehören zu den primären, der traumatische Zahnverlust zu den sekundären Dysgnathien. Ohne Beachtung der Sapientes kommen Aplasien von ein oder mehreren Zähnen bei 3,4 bis 10,1% der Bevölkerung vor [13]. Untere zweite Prämolaren sind am häufigsten nicht angelegt, gefolgt von den oberen zweiten Inzisiven und den oberen zweiten Prämolaren.

Traumatische Zahnschädigungen besonders der oberen Frontzähne kommen bei ca. 8,4% der Bevölkerung vor [14]. Eine Zunahme der Inzidenz ist durch die vermehrte Ausübung von Trendsportarten zu erwarten. Ein vergrößerter Overjet und eine inadäquate Lippenbedeckung erhöhen das Risiko für und den Schweregrad von Frontzahntraumata [15, 16]. Für die kieferorthopädische Behandlung relevante Traumafolgen sind Wurzelresorptionen, Ankylosen und Zahnverlust. Bei beginnender Wurzelresorption sind kieferorthopädische Zahnbewegungen nach endodontischer Behandlung mit geringen Kräften möglich. Auch kann heute eine Wachstumshemmung nach Ankylose des traumatisch geschädigten Zahnes während der Gebissentwicklung durch eine Segmentosteotomie und anschließende Kallusdistraktion gegen eine skelettale Verankerungseinheit therapiert werden [17].

Bei fehlenden Zähnen aufgrund von Aplasien oder Zahntrauma kann die Lücke für einen späteren prothetischen Ersatz (Implantat, Brücke) oder einen kieferorthopädischen Lückenschluss [18, 19] offen gehalten werden. Neben den rein kieferorthopädischen Aspekten (Platzangebot, Okklusion) sind auch Überlegungen zur Ästhetik (Farbe und Form der Nachbarzähne, Gingivaverlauf) von Bedeutung. Die kieferorthopädische Therapie wird zur Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen (Mittellinienverschiebungen, Zahnbogenabflachung) häufig durch eine skelettale Verankerung [20] unterstützt. Diese neue Technologie wird wohl zukünftig die Therapie von Aplasien und von traumatischen Zahnverlusten zugunsten eines kieferorthopädischen Lückenschlusses verschieben [21]. Vorteile dieses Vorgehens liegen in der Positionierung der natürlichen Zähne in den Lückenbereich und im Verzicht auf eine prothetische Versorgung (Implantat beziehungsweise Brücke).

Sekundäre Dysgnathien

Unter den sekundären Dysgnathien werden alle erworbenen Anomalien zusammengefasst. Als verursachende exogene Faktoren kommen zum Beispiel Besonderheiten bei der Ernährung und Atmung, Rachitis, Habits, frühzeitiger Milchzahnverlust, Verlust permanenter Zähne und Erkrankungen des Parodontiums mit daraus resultierenden pathologischen Zahnwanderungen sowie die zuvor beschriebenen Traumafolgen in Betracht.

Nur 22% der 20- bis 49-Jährigen haben ein anatomisch korrektes oder „nahezu regelrechtes“ Gebiss [22]. Die Anomalien sind nicht nur auf eine fehlende oder unzureichende kieferorthopädische Behandlung im Kindes- und Jugendalter, sondern auch auf die weiteren Veränderungen der Gebiss- und Gesichtsmorphologie nach Abschluss der Wachstumsphase [23] sowie auf pathologische Zahnwanderungen [3] zurückzuführen. Pathologische Zahnwanderungen, die bei 30 bis 56% der Patienten mit Parodontiden auftreten, haben folgende potenzielle Ursachen: (1) Destruktion des Zahnhalteapparates (marginaler Knochenabbau), (2) Druck des entzündlichen Gewebes in den Parodontaltaschen [24], (3) gestörte Okklusion (durch Bissvertiefung nach Verlust erster Molaren, Supraposition von Zähnen, verkürzte Zahnreihe, anteriore Komponente der Kaukraft mit Mesialkippung der Seitenzähne und Ausbildung eines frontalen Engstands) sowie (4) unbalancierte periorale Muskelkräfte, Bruxismus und Habits.

Diese aufgrund von Erkrankungen und Alterungsvorgängen neu auftretenden Dysgnathien sind nicht als Rezidive früherer Behandlungen, sondern als eigenständige Krankheitsbilder zu sehen (Abb. 2 a,b). Die kieferorthopädische Therapie wird bei diesen Patienten oft erschwert, zum Beispiel wenn durch interdentalen Knochenabbau veränderte biomechanische Verhältnisse vorliegen [25] oder wenn durch Pharmakotherapie (zum Beispiel Bisphosphonatmedikation) die orthodontische Zahnbewegung extrem langsamer abläuft.

Abb. 2
figure 2

a 40-jährige Patientin nach progredienten pathologischen Zahnmigrationen aufgrund einer Parodontalerkrankung bei gesunder Zahnhartsubstanz ohne Restaurationen. b Zustand nach Parodontalbehandlung und orthodontischer Reorientierung mit einer festsitzenden Apparatur; dadurch Zahnerhalt

Schon 2004 wurden 20% aller kieferorthopädischen Therapien bei Erwachsenden durchgeführt [26]; dieser Anteil wird in Zukunft deutlich ansteigen. Gründe dafür sind der Wunsch nach Zahnerhalt, Verbesserung des Lippenschlusses und der Kau- und Abbeißfunktion sowie eine bessere dentofaziale Ästhetik [27].

HTA-Bericht zur festsitzenden Kieferorthopädie

Vom Bundesgesundheitsministerium wurden ab dem Jahr 2000 externe Studien zur systematischen Bewertung medizinischer Prozesse und Verfahren (Health Technology Assessment, HTA) in Auftrag gegeben. Eine dieser Studien betraf die „Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaturen“ [28]. Ihr Autorenteam setzte sich aus einem Wirtschaftswissenschaftler, einer Logopädin und einer Psychologin zusammen. Zahnmedizinischer Sachverstand war somit nicht vertreten. Als Ergebnis des HTA-Berichtes wurde unter anderem festgestellt, dass die langfristige Verbesserung der Mundgesundheit durch die Anwendung festsitzender kieferorthopädischer Apparaturen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht belegt ist. Daraus wurden folgende Empfehlungen abgeleitet: Die interdisziplinäre Betrachtung der Mundgesundheit und die wissenschaftliche Absicherung der kieferorthopädischen Indikationsstellung sollten Priorität haben – und zwar aus folgenden Gründen: für den Patienten aus ethischen, für das Sozialversicherungssystem aus finanziellen und für den Behandler aus evaluativen und legitimatorischen Gründen.

Nach eingehender Prüfung des HTA-Berichtes durch ein Expertenteam der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) [29] kam das Gremium zu der abschließenden Bewertung, dass die HTA-Studie zahlreiche gravierende methodische Mängel, Unzulänglichkeiten und Fehleinschätzungen aufweist und ihre Aussagen somit als nicht stichhaltig und relevant einzustufen sind. Positiv wurde jedoch gewertet, dass eine Diskussion darüber angeregt wurde, zukünftige Studien mit höherer Evidenzgüte (≥III) als bisher durchzuführen.

Grundsätzlich wären langfristig angelegte (>30 Jahre), multizentrische RCT-Studien (Randomized Controlled Trial) wünschenswert, um den Zielen des HTA-Berichtes zu entsprechen. Eine Randomisierung im Sinne der zufälligen Nichtbehandlung ganzer Patientengruppen mit Dysgnathien ist jedoch ethisch nicht zu vertreten und wahrscheinlich auch nicht durchführbar; nicht zuletzt auch wegen der Patientenbeteiligung bei der Entscheidungsfindung. Auch aus den für das Sozialversicherungssystem genannten finanziellen Gründen liegt bei vielen Indikationen auf der Hand, dass die kieferorthopädische Lösung die kostengünstigere und aus medizinischer Sicht nachhaltigste ist. Dies betrifft zum Beispiel den Bereich der Nichtanlagen und den Zustand nach Zahnverlust (natürlicher Zahn in der Lücke, gute Langzeitprognose) (Abb. 3).

Abb. 3
figure 3

a Skelettale Verankerung am Gaumenimplantat zum kieferorthopädischen Lückenschluss bei Zahnaplasie 15 und 25. b Zustand am Behandlungsende: In der Lücke steht ein natürlicher Zahn; restaurative Maßnahmen sind nicht erforderlich. (Mit freundl. Genehmigung von P. Göllner)

Forschung in der Kieferorthopädie

Die Forschung in der Kieferorthopädie wird sich zukünftig auf zwei elementare Pfeiler stützen: auf die Versorgungsforschung, beziehungsweise klinische Forschung auf einem möglichst hohen Evidenzniveau, und auf die klinisch relevante Grundlagenforschung. Nicht zuletzt aufgrund immer knapper werdender finanzieller Ressourcen und der Notwendigkeit zur Bündelung von Synergien wird die Bildung von Forschungsnetzwerken (zum Beispiel interuniversitäre Schwerpunkte) zukünftig immer wichtiger.

Die Versorgungsforschung wird sich einerseits ausschließlich auf das Gebiet der Kieferorthopädie beziehen, andererseits werden vermehrt – nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Anteils an Erwachsenenbehandlungen (auch älterer Erwachsener) – interdisziplinäre Aspekte beleuchtet werden müssen. Dies bedeutet eine stärker problemorientierte synoptische Betrachtung der Behandlung zur Erforschung parodontologisch-kieferorthopädischer, prothetisch-kieferorthopädischer, implantologisch-kieferorthopädischer und chirurgisch-kieferorthopädischer Fragestellungen. Auch kraniomandibuläre Dysfunktionen vor und nach der Kieferorthopädie, Risiken der kieferorthopädischen Zahnbewegungen bei zahn- und allgemeinmedizinischen Erkrankungen werden in den Blickpunkt rücken [30].

Zudem ist davon auszugehen, dass die Evaluation des Nutzens bildgebender Verfahren (CT, DVT, Ultraschall und Magnetresonanztomographie) bei der Diagnostik und Therapie kieferorthopädischer Anomalien beziehungsweise von Erkrankungen vermehrt im Fokus des wissenschaftlichen Interesses stehen werden.

In der kieferorthopädischen Grundlagenforschung (die bisherige Grundlagenforschung wurde übrigens im HTA-Bericht nicht berücksichtigt) werden zukünftig verstärkt zell-, molekular- und mikrobiologische, biomechanische und bildgebende (Histologie, Mikro-Computertomographie) Untersuchungsmethoden angewendet werden, um fachlich relevante Fragestellungen zu beantworten (unter anderem auch genetische Forschung zu Syndromen, Retentionen und Wurzelresorptionen).

Kieferorthopädische Apparaturen

Bei Kindern und Jugendlichen werden herausnehmbare Apparaturen (zum Beispiel aktive Platten, funktionskieferorthopädische Geräte: Aktivator, Bionator oder Funktionsregler nach Fränkel), festsitzende labiale Apparaturen sowie extraorale Apparaturen (Headgear, Delaire-Maske) ihren festen Stellenwert auch zukünftig behalten. Die bei ihnen angewendeten festen Apparaturen bestehen meist aus vorprogrammierten Brackets mit konfektionierten durchlaufenden Bögen. Dies wird auch so bleiben.

Bei Erwachsenen gestaltet sich die Situation aus folgenden Gründen etwas differenzierter: veränderte biologische Reaktionslage, reduziertes Attachmentniveau/fehlende Zähne, gestiegenes ästhetisches Bewusstsein sowie Vorliegen von Allgemeinerkrankungen mit Pharmakotherapie.

Bei reduziertem Attachmentniveau/fehlenden Zähnen liegen eine verminderte Wurzeloberfläche im Alveolarknochen, eine reduzierte Verankerungsqualität der Zähne sowie eine Verlagerung des Widerstandszentrums nach apikal vor [31]. In diesen Fällen ist die Biomechanik den veränderten Bedingungen anzupassen, das heißt, erforderlich sind die Anwendung der Segmentbogentechnik zur Applikation kontrollierter Kraftsysteme (vorprogrammierte Brackets, individualisierte passive Segmentbögen und intersegmentale aktive Segmentbögen/Federn) sowie die Nutzung der skelettalen Verankerung (Gaumenimplantate, Kortikalisschrauben), um die reduzierte desmodontale Verankerung zu erhöhen beziehungsweise nicht in Anspruch zu nehmen [21, 31]. Dadurch werden Behandlungen ermöglicht, die früher als nicht erfolgreich eingestuft wurden.

Für Erwachsene ohne parodontale Erkrankungen stehen heute auch „unsichtbare“ beziehungsweise „weitestgehend unsichtbare“ Apparaturen zur Verfügung. Erstere werden als Lingualapparaturen (festsitzend) ([32], Abb. 4) und die Zweiten als Aligner (herausnehmbar) [33] bezeichnet. Beide Apparaturen können mithilfe der CAD-CAM-Technologie hergestellt werden. Dadurch lassen sich individualisierte Lingual-Brackets und -Bögen beziehungsweise individualisierte Alignersequenzen herstellen, die den Therapieablauf vorherbestimmen. Im klinischen Alltag zeigt sich jedoch, dass beide Verfahren mit Blick auf den Behandlungsablauf und das angestrebte Behandlungsziel permanenter Kontrollen durch einen erfahrenen Therapeuten und gegebenenfalls Korrekturen der Apparatur bedürfen. Bei Anwendung einer vollständig individuellen lingualen Apparatur kann das geplante Behandlungsergebnis weitestgehend [34, 35], bei anderen Verfahren annähernd erreicht werden [36]. Der Traum von einer digitalisierten kieferorthopädischen Apparatur (intraoraler Scan zur virtuellen Modellherstellung, mit der CAD-CAM-Technologie hergestellte vollprogrammierte Apparaturen), die das simulierte Behandlungsziel automatisch erreicht, konnte somit noch nicht vollständig realisiert werden.

Abb. 4
figure 4

Von außen unsichtbare, vollprogrammierte Lingualapparatur, gefertigt mit CAD-CAM-Technologie

Ausbildung zum Kieferorthopäden/Qualitätssicherung

Es gibt immer wieder Bestrebungen, die Fachzahnärzte abzuschaffen beziehungsweise die Ausbildung zum Fachzahnarzt für Kieferorthopädie infrage zu stellen. Dies ist aus den oben beschriebenen Gründen strikt abzulehnen. Tatsache ist, dass die zukünftigen Behandlungsaufgaben (innerhalb und außerhalb der GKV) komplexer und umfassender werden, was eine profundere Ausbildung und Qualitätssicherung erforderlich macht.

Auf dem Gebiet der Kieferorthopädie gibt es derzeit verschiedene Möglichkeiten der Weiterbildung: „Tätigkeitsschwerpunkt Kieferorthopädie“, „Master of Science Kieferorthopädie“ und den „Fachzahnarzt für Kieferorthopädie“. Der „Tätigkeitsschwerpunkt Kieferorthopädie“ bedeutet eine Beschränkung auf einen speziellen therapeutischen Bereich, ohne jedoch einen Qualifikationsnachweis für diesen Bereich zu erbringen. Der „Master of Science Kieferorthopädie“ kann berufsbegleitend (Dauer zwei Jahre, Wochenendkurse) erworben werden. Eine ausreichende Qualitätssicherung gewährt nur die Weiterbildung zum „Fachzahnarzt für Kieferorthopädie“. Die Weiterbildung hat ganztägig und in Vollzeit zu erfolgen und nimmt in den meisten Kammerbereichen vier Jahre in Anspruch (ein allgemeinzahnärztliches Jahr und drei kieferorthopädisch-spezifische Weiterbildungsjahre). Von diesen muss in den meisten Kammerbereichen ein Jahr an einer Universitätsklinik abgeleistet werden. Nach der strukturierten Weiterbildung ist vor dem Prüfungsausschuss der jeweiligen Zahnärztekammer eine Facharztprüfung abzulegen. Erst nach bestandener Prüfung darf die Berufsbezeichnung geführt werden.

In den letzten Jahren wurden Initiativen ergriffen, um das aktuell uneinheitliche Fort- und Weiterbildungssystem bundesweit einheitlich gemäß den europäischen Richtlinien und Gesichtspunkten neu zu strukturieren (unter anderem auch Implementierung eines modularen Systems, Orientierung am Erasmusprogramm). Dieses berücksichtigt trotz aller Komplexität und Innovation zwei Grundsätze: Die Weiterbildung wird durch Masterstudiengänge nicht abgelöst, und der Fachzahnarzt bleibt die höchste Stufe der Weiterbildung. Dieses Konzept garantiert den zukünftig innerhalb und außerhalb des Sozialversicherungssystems zu behandelnden Patienten eine Qualitätssicherung auf hohem Niveau [37].