Immer mehr Bürgerinnen und Bürger werden immer dicker [1]. Dass dies nicht allein für die Betroffenen problematisch ist, wird inzwischen gesamtgesellschaftlich wahrgenommen. Die hohe und steigende Prävalenz von Adipositas ist in den letzten Jahren zu einem public issue geworden, das heißt zu einem allseits thematisierten Problem. Man ist sich im Klaren, dass extremes Übergewicht nicht nur individuelles Leid, sondern auch soziale Kosten verursacht. Das „Zu-dick-Sein“ und „Dick-Werden“ des Einzelnen ist seither nicht mehr bloß Teil des individuellen Lebenslaufs, sondern es steht im Fokus eines gesamtgesellschaftlichen Interesses.

Dieses Interesse besteht vor allem darin, die Zahl der Adipösen zu verringern beziehungsweise sie wenigstens nicht noch weiter ansteigen zu lassen. Vorrangiges Ziel ist die Prävention von Adipositas; hierüber ist man sich einig. Auf welchem Wege und mit welchen Mitteln man dieses Ziel anstrebt, ist jedoch umstritten. Wofür tragen Einzelne Verantwortung und wofür das Kollektiv? Inwieweit darf und muss man auf die Eigenverantwortung der Einzelnen setzen? Die Diskussionen über diese Fragen sind inzwischen weit gediehen. Allerdings gibt es noch keine konsensfähigen Antworten. Die Beurteilung der bisher politisch ergriffenen Maßnahmen bleibt daher kontrovers.Footnote 1

Im Folgenden wird zunächst die These erläutert, dass die Kontroverse auf der mangelnden Differenzierung zwischen dem sozialen und dem individuellen Adipositasproblem beruht. Durch die Verknüpfung beider Problemlagen gerät der Einzelne in den Blick einer Strategie, die vor allem darauf abzielt, die individuelle Eigenverantwortung zu stärken. Weil jedoch die Einzelnen nicht als Verursacher der sozialen Problemlage anzusehen sind und sie darüber hinaus auch nicht die nötige Handlungsmacht besitzen, um den Anstieg der Adipositasprävalenz zu stoppen, sind Appelle und Forderungen nach Eigenverantwortung prima facie als ungerecht einzustufen. Diese Feststellung führt, wie sich im Fortgang des Beitrags zeigen lässt, zu weitreichenden Solidaritätspflichten. Angesichts der kollektiven Verursachung des sozialen Adipositasproblems muss die Gesamtstrategie modifiziert werden: Nicht die Einstellungen und Verhaltensweisen der Einzelnen müssen ihren Kern bilden, sondern die Veränderung von Strukturen, durch die gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen begünstigt werden.

Adipositas als soziales und als individuelles Problem

Die Problematik der Fettleibigkeit hat eine lange Geschichte. Einmal abgesehen davon, dass die Schönheitsideale der verschiedenen Gesellschaften mal mehr und mal weniger Körperrundungen zuließen, war der extrem adipöse Körper zu keiner Zeit erstrebenswert. Unter ästhetischen, funktionalen, ökonomischen, ethischen und gesundheitlichen Gesichtspunkten wird in der abendländischen Tradition der schlanke Körper dem adipösen vorgezogen [2]. Für die Adipösen stellt ihre Fettleibigkeit somit von jeher ein Problem dar, und zwar nicht bloß im Hinblick auf die körperlichen Einschränkungen, die mit ihr verbunden sind, sondern auch in normativer Hinsicht, das heißt mit Bezug auf die offenen und unterschwelligen Sanktionen seitens der gesellschaftlichen Umgebung.

Obgleich aber – historisch betrachtet – die verschiedenen Gesellschaften adipöse Körperformen immer schon missbilligten, waren sie kaum je ein ernst zu nehmendes gesellschaftliches Problem. In dieser Hinsicht haben wir es heute jedoch mit einem Bruch zu tun: Heute ist Adipositas zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden.

Kern dieses Problems ist die hohe und steigende Prävalenz von Adipositas. Mit der Zahl an Adipösen steigt absehbar auch die Zahl derjenigen, die bestimmte therapiebedürftige Krankheiten entwickeln und Hilfen benötigen. Mit steigendem Bedarf an Therapien und Hilfen ist ein steigender Bedarf an Ressourcen verbunden, die gegebenenfalls wohlfahrtsstaatlich, das heißt kollektiv bereitgestellt werden müssen [3]. Der absehbar steigende Bedarf an Ressourcen bildet den eigentlichen Grund für die mit der Adipositas verbundene gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderung. Die Gesellschaft muss sich darauf einstellen, mit diesem Bedarf fertig zu werden, und sie muss Strategien entwickeln, um dem weiteren Anstieg von Adipositas entgegenzuwirken. Wie ihr das gelingen kann, das ist der eine Teil der erforderlichen öffentlichen Auseinandersetzungen mit dieser Thematik.

Hiervon zu unterscheiden ist das Problem auf der individuellen Ebene. Es besteht darin, das mit der individuellen Adipositaserkrankung verbundene Leid gesamtgesellschaftlich nicht einfach hinnehmen zu dürfen. Von den unmittelbaren körperlichen Auswirkungen der Fehlernährung einmal abgesehen, gehen mit der Fettleibigkeit Leidenszustände einher, die durch kollektive Maßnahmen gegebenenfalls verhindert oder gemindert werden könnten. Ob und inwieweit sich hieraus Pflichten des Kollektivs und Rechte des Einzelnen ergeben, das ist der andere Teil der erforderlichen öffentlichen Auseinandersetzung.

Im Grunde beinhaltet die Adipositasproblematik also zwei Probleme. Zum einen das quantitative, soziale Adipositasproblem, das in der hohen und steigenden Zahl an extrem fettleibigen Bürgerinnen und Bürgern besteht. Zum anderen das qualitative, individuelle Adipositasproblem, das in der gesundheitsabträglichen, die Fettleibigkeit begünstigenden Ernährungsweise der Einzelnen liegt. Zweifellos sind beide miteinander verbunden und gleichermaßen wert, gesamtgesellschaftlich thematisiert zu werden. Dennoch müssen beide Probleme in der öffentlichen Debatte viel stärker voneinander differenziert werden, als es bislang der Fall ist. Für die Beurteilung der Gesamtproblematik und die Suche nach Problemlösungen macht es nämlich einen erheblichen Unterschied, ob man die Adipositasprävalenz oder die Ernährungsweisen der Einzelnen problematisiert [4].

Für die laufenden Debatten ist es jedoch kennzeichnend, beide Problematiken von vornherein miteinander zu verknüpfen: Das quantitative Problem entsteht demnach aus dem qualitativen, das heißt, die hohe und steigende Adipositasprävalenz wird als Folge der Ernährungs- beziehungsweise Verhaltensweisen der Einzelnen betrachtet. Entsprechend dieser Sichtweise gerät der Einzelne in den Blick, weil versucht wird, das quantitative, das heißt das soziale Problem zu lösen, indem man auf das qualitative beziehungsweise individuelle einwirkt. Die Einstellungen und Verhaltensweisen der Einzelnen werden so zum Zielpunkt der kollektiv veranlassten Präventionsmaßnahmen. Um es bei diesem kollektiven Engagement nicht zu belassen, wird auf der anderen Seite die Eigenverantwortung der Einzelnen betont. Nicht nur kollektiv und öffentlich, sondern auch individuell und privat sollen Einstellungen und Verhaltensweisen so geändert werden, dass Einzelne nicht dicker werden und sich in der Folge auch das soziale Adipositasproblem auflöst.

Für die Quantität der Adipösen ist nicht der Einzelne verantwortlich. Sein individueller Ernährungsstil führt nicht zu dem sozialen Problem, mit dem wir es gegenwärtig zu tun haben. Es ist also einigermaßen absurd, das soziale Adipositasproblem mit dem Essverhalten der Einzelnen in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Dass dies dennoch geschieht, ist vor allem mit der epidemiologischen beziehungsweise medizinischen Sichtweise zu erklären, die für die aktuelle Debatte leitend ist. In dieser Perspektive geht es vorrangig um das individuelle Adipositasproblem, das heißt tatsächlich um die gesundheitlichen Auswirkungen verschiedener Ernährungsstile. Es ist jedoch pragmatischFootnote 2 und ethisch kritikwürdig, die Debatten vorwiegend mit Blick auf den Einzelnen und nicht mit Blick auf die Gesellschaftsstrukturen zu führen. Dies soll im Folgenden unter Bezugnahme auf Thematisierungen von Eigenverantwortung konkretisiert werden.

Eigenverantwortung

Der Ausdruck Eigenverantwortung ist ein politischer Begriff, mit dem sich ein einigermaßen unübersichtliches und vielschichtiges Bündel von Zuschreibungen, Appellen und Forderungen verbindet [5]. Signalisiert werden damit Solidaritätsgrenzen beziehungsweise moralische Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv. Wo Eigenverantwortung verlangt ist, kann mit kollektiven Hilfen nicht gerechnet werden. Mit der Verwendung des Ausdrucks „Eigenverantwortung“ geht somit beides einher: die Aufforderung an den Einzelnen, negative Konsequenzen des eigenen Tuns zu bedenken und zur Vermeidung dieser Konsequenzen dadurch zu motivieren, dass man sie als persönlich zu tragende Last begreift. Eigenverantwortung – so kann man es sehen – appelliert gewissermaßen an eine politische Sicht auf das eigene Tun. Sie verlangt die Bereitschaft zu einem Perspektivenwechsel, durch den eigene Notlagen nicht nur individualistisch, sondern auch sozialpolitisch und kommunitär betrachtet werden. Der Einzelne soll bedenken, dass sein Tun das Kollektiv gegebenenfalls belastet, und er soll dies zum Anlass nehmen, anders zu handeln. Man kann es auch so formulieren: Der Einzelne soll sich nicht bloß als Individuum, sondern auch als Bürger und Mitglied von Solidargemeinschaften verstehen und auf dieser Basis seine Interessen verfolgen.

Was dies bezogen auf das Adipositasproblem bedeutet, bleibt jedoch unklar [6]. Wofür genau soll der Einzelne Verantwortung übernehmen oder tragen? Ist der Gegenstand der (Eigen-)Verantwortung die Gesundheit im medizinischen Sinne? Bezieht sich Eigenverantwortung im Kontext des Adipositasproblems auf die Ernährungsweise des Einzelnen, das heißt darauf, wovon er wie viel isst? Oder ist die Kontrolle des eigenen Körpergewichts beziehungsweise die Unterschreitung eines BMI von 40 gemeint? Ähnlich diffus bleibt der Appell an die ökonomische Eigenverantwortung. Es bleibt unklar, ob es ganz allgemein darum geht, sich mit Blick auf etwaige kostenintensive Notlagen vorsorglich ökonomische Selbstständigkeit zu erhalten, das heißt, sich privat zu versichern, oder darum, auf Solidarleistungen zu verzichten.

Strukturell wird auf Verantwortung einmal eher retrospektiv und einmal eher prospektiv Bezug genommen. Einmal wird der Einzelne als Verursacher eines Problems ausgewiesen und ihm die Haftung übertragen. Bei anderen Verwendungen gilt er als derjenige, der Sorge für die Vermeidung eines Problems zu tragen hat. Welches Problem gemeint ist und wie die Verantwortung haftend beziehungsweise sorgend zu übernehmen ist, woraufhin er sich also wie verhalten soll, das wird letztlich jedoch nicht deutlich.

Was darf man verlangen?

Je mehr allerdings Eigenverantwortung gefordert ist, desto klarer müssen ihre Inhalte bestimmt sein. Wer einer Forderung entsprechen soll, muss wissen können, was genau gefordert ist. Bleibt dies unklar, dann ist die Forderung für sich genommen ethisch fragwürdig und erst einmal illegitim. Man muss sich hierbei vor Augen führen, dass jede an den Einzelnen gerichtete Forderung seine Freiheit beschränkt. Die konsistente und kohärente Begründung der jeweiligen Forderung ist deshalb nicht bloß ein Wunsch, sondern ein handfestes Recht des Einzelnen.

Aus diesem Grunde sind inzwischen zahlreiche Diskurse darüber entstanden, was im Hinblick auf das Adipositasproblem aus welchem Grunde vom Einzelnen gerechterweise verlangt werden kann. Auf der einen Seite setzt man sich systematisch damit auseinander, was der konkrete Gegenstand der Eigenverantwortung im Kontext des sozialen oder individuellen Adipositasproblems ist, wofür der Einzelne also Verantwortung zu übernehmen und zu tragen hat, wem gegenüber er rechenschaftspflichtig ist, welche Rechtfertigungsgründe zählen und welche nicht, mit welchen Sanktionen zu rechnen ist. Auf der anderen Seite fragt man sich, ob paternalistische Maßnahmen ergriffen werden und wie weit sie gegebenenfalls reichen dürfen [7]. Wobei Eigenverantwortung und Paternalismus in pragmatischer Hinsicht gewissermaßen als alternative Strategien verstanden werden können: Einmal legt man es darauf an, dass Einzelne von sich aus in gewünschter Weise agieren, und einmal will man sie wohlwollend dazu „zwingen“, in gewünschter Weise zu agieren.

Vom ethischen Standpunkt aus betrachtet, bestehen gegenüber paternalistischen Strategien prinzipielle Vorbehalte, weil sie dem Einzelnen Wertsetzungen unterstellen, die er womöglich nicht teilt. Strategien, die auf Eigenverantwortung setzen, sind ethisch daher prinzipiell eher zu verteidigen. Die Debatte dreht sich deshalb zwar insgesamt um die Frage, ob und inwieweit der Einzelne in seiner Freiheit beschränkt werden darf und muss beziehungsweise inwieweit er dazu verpflichtet werden darf und muss, für die negativen Konsequenzen seines Tuns allein aufzukommen. Die Freiheitsfrage ist aber unterschiedlich platziert. Im Kontext der Eigenverantwortung kann vorausgesetzt werden, dass die Freiheit des Einzelnen zumindest auf konzeptioneller Ebene erhalten bleibt, während sie im Kontext paternalistischer Strategien grundsätzlich eingeschränkt ist. Fraglich ist allerdings, ob sich die mit dem Konzept Eigenverantwortung gesicherte Autonomie normativ so konkretisieren lässt, dass sie letztlich auch faktisch gegeben ist. Genau dieses Problem kennzeichnet die Debatten über Forderungen nach Eigenverantwortung im Kontext der Adipositasproblematiken.

Scheitern an den Realitätsbedingungen

Es ist hier nicht der Raum darzulegen, welche Forderungen Gegenstand der jeweiligen Debatten sind. Nur so viel ist zu sagen: Die Forderungen müssen an den Realitätsbedingungen scheitern [8]. Das Problem besteht darin, nicht genau genug sagen zu können, wo der Entscheidungsspielraum des Einzelnen überhaupt liegt: Fraglos ist es dem Einzelnen freigestellt, wie viel er zu sich nimmt. Der Einzelne ist keine Marionette seiner sozialen Umwelt; jedenfalls wäre es ethisch höchst problematisch und im Übrigen auch sachlich unangemessen, ihn so zu sehen. Man kann also davon ausgehen, dass der relevante Entscheidungsspielraum nicht bloß theoretisch, sondern auch faktisch besteht. Wann immer aber an das Essverhalten Forderungen gestellt werden, zeigt sich, dass der Einzelne nicht „Herr im eigenen Haus“ ist, sondern eine Vielzahl von Faktoren auf die punktuelle Entscheidung einwirkt, die dem Subjekt nicht hinreichend zugänglich sind.

Hier tritt in den Diskursen mehr als deutlich zutage, dass der Entscheidungsspielraum, auf dem das Konzept und die Strategie der Eigenverantwortung basieren, korrumpiert ist. Welche Faktoren das Subjekt bei seinen Entscheidungen über das, was vom Teller in den Schlund gelangt, beeinflussen, ist im Groben bekannt. Erziehung, die nähere soziale Umgebung und generell der soziale Kontext des Essens spielen eine Rolle, deutlich auch das Einkommen und das damit verfügbare Speisenangebot. Einfluss haben auch diätistische Kenntnisse und Kompetenzen sowie – nicht zuletzt – die individuelle Einstellung, das heißt die Bereitschaft, sich überhaupt mit dem Problem Adipositas zu befassen. Wie diese Faktoren zusammenspielen und inwieweit sie den individuellen Entscheidungsspielraum beschränken, ist noch weitgehend unbekannt. Für die laufenden Debatten ist diese Erkenntnislücke problematisch; für das Konzept der Eigenverantwortung ist sie fatal. Es droht nämlich nicht nur die Gefahr, dass die Adressaten das Geforderte nicht erfüllen können, sondern auch die Gefahr, dass Forderungen mit Bezug auf das individuelle Ernährungsverhalten ethisch prinzipiell nicht zu rechtfertigen sind [9]. Egal ob der Einzelne haften oder ob er Sorge tragen soll, beides kann nur in dem Maße verlangt werden, in dem er faktisch handlungsmächtig ist. Weil aber unterstellt werden kann, dass die Einzelnen aus verschiedenen Gründen motiviert waren und sind, nicht übergewichtig zu werden, kann die misslungene Kontrolle des Körpergewichts weder ohne Weiteres auf die Einstellungen und Verhaltensweisen Einzelner zurückgeführt werden, noch kann man darauf hoffen, dass die Kontrolle fortan gelingt. Zur Fettleibigkeit kommt es, obwohl die Einzelnen generell eine Präferenz haben, schlank zu sein, und obwohl viele darum bemüht waren und sind, ihre Ernährungsweisen entsprechend zu ändern.

Wenn aber selbst diejenigen scheitern, die gewillt sind, konkretisierte Forderungen an die Eigenverantwortung zu erfüllen, dann hat dies erhebliche negative Konsequenzen. Zum einen schwindet die Aussicht auf die Lösung der Adipositasproblematik insgesamt. Zum anderen werden zusätzliche individuelle und soziale Probleme produziert. Jedes Scheitern der Person hinterlässt Spuren; zum Beispiel Frustration und Peinlichkeitsgefühle. Diese sind nicht schlicht in Kauf zu nehmen, sondern sie sind ethisch relevant. Als absehbare negative Folgen des Anspruchs an Eigenverantwortung schlagen sie deutlich zu Buche, wenn die Verantwortung nicht übernommen werden kann.

Zahlreiche Maßnahmen werden ergriffen, um Einzelnen mehr Möglichkeiten zur gelingenden Eigenverantwortung zu eröffnen: Mit umfangreichen Informationsprogrammen wird Aufklärung über das betrieben, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt als eine gesunde Ernährung angesehen wird; man diskutiert variantenreich, wie Lebensmittel zu kennzeichnen sind, damit Einzelne ihr diätistisches Wissen auch umsetzen können; man bemüht sich um veränderte Speisenangebote, damit die Einzelnen tatsächlich Zugang zum „besseren“ Essen haben [10]. Was aber letztlich an diesen Maßnahmen und auch an den laufenden Diskursen mehr als deutlich wird, ist die Tatsache, dass das soziale Adipositasproblem, das heißt die Prävalenz von Adipositas nicht im Privaten (das heißt in den Haushalten) und Intimen (das heißt in den Einstellungen) verursacht ist, sondern seine Ursachen liegen offenkundig in gesellschaftsstrukturellen Verhältnissen. Wahrhaft bestritten wird dies nicht. Wenn es jedoch um die Bewältigung der Adipositasproblematik geht, ist bei den gesellschaftsstrukturellen Verhältnissen schlecht anzusetzen. Man weiß noch zu wenig über das Ineinandergreifen der Einzelfaktoren. Außerdem sind die politischen Gestaltungsmöglichkeiten beschränkt und dort, wo sie greifen können, wirken sie langsam. Den strukturellen Zusammenhang zwischen geringem Bildungsstand, Armut, gesundheitsabträglicher Ernährungsweise und dem Vorkommen von Adipositas wahrnehmen zu können, heißt noch lange nicht, ihn in absehbarer Zeit auch auflösen zu können. Zwischenzeitlich an die Einzelnen zu appellieren, in puncto Ernährung mehr Besonnenheit walten zu lassen, dagegen ist ethisch nichts einzuwenden. Aber Selbstverschuldung zu unterstellen, wo im Grunde strukturelle Bedingungen ausschlaggebend sind, ist ethisch fragwürdig [11]. Die Einseitigkeit, mit der die multifaktoriell verursachte Fehlernährung Einzelnen tendenziell als Fehlleistung zugeschrieben wird, ist eine ungerechte Beurteilung der Sachlage; sie rechtfertigt nicht, den Einzelnen haftbar zu machen. Und auch in prospektiver Hinsicht Eigenverantwortung zu fordern, ist höchst fragwürdig. Man unterstellt den (vielen) Einzelnen damit nämlich eine Handlungsmacht, über die sie nicht verfügen, und fordert, was letztlich nicht erfüllt werden kann. Dies mit dem Entzug von Solidarität zu sanktionieren ist – wie im Folgenden erläutert wird – ebenfalls ungerecht.

Solidarität und Gerechtigkeit

Wenn man mit Fug und Recht sagen kann, dass das soziale Adipositasproblem, das heißt die Prävalenz von Adipositas, nicht individuell, sondern gesellschaftlich verursacht ist und man darüber hinaus begreift, dass die Einzelnen nicht in der Lage sind, dieses Problem zu lösen, dann hat dies erhebliche Implikationen für das konkrete Verhältnis von Solidarität und Autonomie oder anders ausgedrückt für das Verhältnis von kollektiver und individueller Verantwortung. Die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für die Entstehung des Adipositasproblems wurde nicht früh genug erkannt. Man hat nicht wahrgenommen, was wozu führt, und folglich nicht rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergriffen. Dieses Versäumnis ist sowohl für die Beurteilung von Solidaritätspflichten des Kollektivs gegenüber dem Einzelnen als auch mit Bezug auf dessen Grundrechte äußerst relevant [12].

Im allgemeineren, die Thematik von Adipositas überschreitenden gesellschaftlichen Diskurs wird für die Beurteilung der Frage, ob und inwieweit Solidaritätspflichten des Kollektivs gegenüber Einzelnen bestehen, zunehmend auf das Kriterium der Selbstverschuldung Bezug genommen. Der Umstand, dass sich jemand in einer Notlage befindet, ist demnach noch kein hinreichender Anlass für Solidarleistungen. Es muss hinzukommen, dass die Notlage nicht selbst verursacht wurde. Was man mit dieser veränderten Auffassung von (wohlfahrtstaatlicher) Solidarität beabsichtigt, ist bekannt: Es soll verhindert werden, dass Einzelne zulasten der Allgemeinheit höhere Risiken eingehen, als sie es täten, wenn sie die Risiken allein tragen müssten. In der Tat ist es nicht ohne Weiteres hinzunehmen, wenn Risiken nur deshalb eingegangen werden, weil man sie von vornherein auf die Allgemeinheit überträgt. Hierüber besteht weitgehender Konsens. Dennoch ist das Kriterium der Selbstverschuldung ethisch wie auch politisch umstritten. Zum einen steht infrage, ob nicht die pure Bedürftigkeit hinreichende Voraussetzung für solidarische Leistungen und daher jedes leistungsbegrenzende Kriterium abzulehnen ist. Zum anderen beurteilt man kontrovers, ob Leistungsbegrenzungen nicht gegebenenfalls an anderen Kriterien als dem der Selbstverschuldung orientiert werden sollten.

Ist das Kriterium der Selbstverschuldung schon als solches heikel und umstritten, so ist seine Anwendung im Kontext des Adipositasproblems allerdings erst recht infrage zu stellen. Mag die individuelle Fettleibigkeit in Einzelfällen selbst verschuldet sein; obgleich auch dies nur mit Einschränkungen so gesehen werden kann. Weder kann individuelles Ernährungsverhalten noch können Einstellungen der Einzelnen in dem Maße als moralisch verfehlt gelten, dass dies die Einschränkung oder gar den Entzug von Solidarität rechtfertigen könnte. Im Gegenteil: Gerade weil bekannt ist, dass strukturelle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens die individuelle Ernährungsweise nennenswert beeinflussen, gebührt denjenigen, die adipös sind oder zu werden drohen, die volle Solidarität [11]. Und zwar sowohl die gesamtgesellschaftliche Solidarität als auch die Solidarität der relevanten Gemeinschaften, das heißt beispielsweise die der (gesetzlichen) Krankenversicherungen. Wohlfahrtstaatliche, das heißt gesamtgesellschaftliche Solidarität ist nicht allein in Wohltätigkeitsüberlegungen fundiert. Sie ist auch darin begründet, dass die Gesellschaft bzw. das Kollektiv sich als Verursacher von bestimmten Notlagen Einzelner versteht. In solchem Zusammenhang entspringen Solidaritätspflichten der Gerechtigkeit, und zwar der ausgleichenden Gerechtigkeit. Weil und insofern individuelle Notlagen, die mit oder infolge von Adipositas auftreten, auch sozial verursacht sind, haben betroffene Einzelne ein Recht auf die Solidarität des Kollektivs. Darüber hinaus auch deshalb, weil sie sich (auch) aufgrund der sie umgebenden Gesellschaftsstrukturen aus den Notlagen nicht ohne Weiteres selbst befreien können. Solidaritätspflichten bestehen also, und zwar nicht nur im Sinne eines wohlmeinenden Angebots, sondern als handfestes Recht der Vielen, die sich nicht so ernähren, wie sie sollten. Aus diesem Grunde sind sanktionsbewehrte Forderungen nach Eigenverantwortung für das Adipositasproblem infrage zu stellen.

Die Einzelnen erwarten zu Recht, in der individuellen sozialen Existenz, das heißt im Hinblick auf Selbstständigkeit, Teilhabechancen und materielle Versorgung, gesichert und geschützt zu werden. Die Solidaritätspflicht des Kollektivs mit denjenigen, die adipös oder von Adipositas bedroht sind, erschöpft sich daher nicht in der Gewährleistung medizinischer Leistungen und der Übernahme von finanziellen Kosten. Die Verpflichtung zur Solidarität mit den Betroffenen erfordert auch, sie vor mittelbaren Gefährdungen ihrer sozialen Existenz zu schützen. Konkret gesprochen, gehört dazu beispielsweise der Schutz vor Stigmatisierungen und Diskriminierungen sowie das kollektive Bemühen um die Verbesserung der individuellen Ernährungsoptionen [13].

Strukturelle Prävention

Mit Blick auf diejenigen, die von Adipositas bedroht sind, ergeben sich darüber hinaus kollektive Verpflichtungen präventiver Art. Es ist beispielsweise nicht allein eine Aufgabe der Eltern, bei Kindern und Jugendlichen die Verführung zu gesundheitsabträglichen Ernährungsgewohnheiten zu vermeiden. Der Gesellschaft insgesamt kommt diese Aufgabe gleichermaßen zu. Ob und inwieweit sich das Kollektiv dieser Sache annimmt, ist dabei keineswegs pure Verhandlungssache. Weil die Veränderung problematischer Verhältnisse nur kollektiv und nicht individuell geleistet werden kann, fällt sie unter die berechtigten Ansprüche der Einzelnen an das Kollektiv. Vor allem aus moralischen Gründen ist die strukturelle Prävention also in Angriff zu nehmen. Hinzu kommen Klugheitsgründe. Weil die hohe Prävalenz von Adipositas ein soziales (gesundheitliches und ökonomisches) Problem darstellt und man aus Haftungsgründen für die Kosten kollektiv aufzukommen hat, wäre es unklug, die Kompensationsleistungen zu perpetuieren, anstatt ihre Entstehungsbedingungen aufzuheben.

Erst wenn die Verhältnisse so sind, dass Einzelne ihr Ernährungsverhalten und ihr Körpergewicht faktisch kontrollieren können, endet die Pflicht zur Solidarität. Also erst dann, wenn diejenigen, die schlank sein wollen aus eigener Kraft schlank bleiben oder werden können, kann denjenigen, die adipös sind, ein sanktionsfähiges Fehlverhalten zugeschrieben und Solidarität gegebenenfalls entzogen werden. Bis dahin gilt es, kollektiv die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass in unserer Gesellschaft Verhältnisse entstanden sind, die es vielen schwer und unmöglich machen, so leicht zu sein, wie sie sein wollen.

Aufklärung und Information

Zusätzlich zu diesen Solidaritätspflichten gegenüber Betroffenen, resultieren aus dem Menschenrecht auf Bildung kollektive Pflichten gegenüber allen Einzelnen. Es sind dies vor allem Aufklärungs- und Informationspflichten. Wenn man Einzelne also über die Ingredienzien gefertigter Lebensmittel informiert und sie über diätistische Zusammenhänge aufklärt und sie befähigt, die Informationen und Kenntnisse auch umzusetzen, dann ist dies weder als kollektives Engagement für Eigenverantwortung noch als Paternalismus, sondern als ein Recht des Einzelnen gegenüber dem Kollektiv aufzufassen. Dieses Recht gegebenenfalls auch gegen die Interessen Dritter – zu denken ist hierbei an die Lebensmittelproduzenten – durchzusetzen, ist eine staatliche Verpflichtung. Sie resultiert aus dem Auftrag, die Rechte des Einzelnen nicht nur zu schützen und umzusetzen, sondern ihn auch zu befähigen, sie wahrzunehmen.

Unter dem Strich lässt sich festhalten, dass die auf den Einzelnen fokussierende Strategie zur Lösung des Adipositasproblems ethisch und pragmatisch scheitert. In beiden Hinsichten scheitert sie vor allem deshalb, weil dem Einzelnen Handlungsspielräume unterstellt werden, die er faktisch nicht hat. Solange dies nicht anerkannt wird, werden Maßnahmen zur Bewältigung des Adipositasproblems gesamtgesellschaftlich eher nur schaden als nützen. Verunsicherungen, Frustrationen, sozialer Unfrieden und ungerechte Lastenverteilungen sind Nebeneffekte des Versuchs, Einzelne zur Kontrolle ihres Körpergewichts zu drängen. Diese Nebeneffekte schlagen bei der Beurteilung der bislang ergriffenen Maßnahmen deutlich zu Buche, und zwar umso mehr, als sich die Strategie insgesamt als ineffektiv erweist: Trotz aller Bemühungen um Eigenverantwortung steigt die Prävalenz von Adipositas mit ungeminderter Geschwindigkeit.

Fazit: Kollektive und individuelle Beiträge zur Problemlösung

Man hat also gute Gründe, mit der Lösung des sozialen Adipositasproblems dort anzusetzen, wo das Problem seinen Ursprung hat. Nämlich nicht beim Privatleben des Einzelnen, sondern bei den gesellschaftlichen Strukturen, die bestimmte Lebensstile und damit das Private und Intime bedingen. Der Einzelne ist dabei keineswegs aus der (Mit-)Verantwortung für das soziale Adipositasproblem und dessen Lösung entlassen. Es kann ihm beispielsweise abverlangt werden, bei der Beurteilung zu ergreifender politischer Maßnahmen eine sozialethische Perspektive einzunehmen. Dies kann bedeuten, politisch initiierte Veränderungsprozesse auch dann zu akzeptieren, wenn sie lieb gewordene private Gewohnheiten betreffen. Darüber hinaus ist vom Einzelnen gefordert, sich an den nötigen politisch-ethischen Diskursen zu beteiligen.

Was mit der Ottawa-Charta der WHO gefordert wurde, nämlich das gesamtgesellschaftliche Engagement für die Verbesserung des Wohlbefindens aller, ist keine rein staatliche Aufgabe, sondern eine, die jeden angeht. Sie besteht aber nicht darin, das eigene Körpergewicht zu kontrollieren, sondern darin, sich an den Gestaltungsprozessen zu beteiligen, die nötig sind, um das soziale Adipositasproblem zu lösen. Bürgerinnen und Bürger in dieser Weise zu aktivieren, ihre politische Verantwortung zu fördern und zu fordern, das ist es, was im Kontext des sozialen Adipositasproblems erforderlich ist. Dazu gehört allerdings auch der (partei-)politische Mut, es tatsächlich auf die Mündigkeit, Kritikfähigkeit und politische Aktivität der Einzelnen anzulegen. Man muss die Einzelnen ggf. daran erinnern, dass sie politisch handlungsmächtig sind und welche Mittel ihnen zur Verfügung stehen, wenn sie die Verhältnisse ändern wollen, in denen sie zur Fehlernährung neigen. Vorausgesetzt ist dabei allerdings, dass man Erklärungen für die Fehlernährung nicht vorrangig im Intimen, das heißt in den Einstellungen der Einzelnen sucht, sondern im Öffentlichen, das heißt in den gesellschaftlichen Strukturen, die sich sozial und psychologisch auf des Ernährungsverhalten der Einzelnen auswirken.

Die Public-Health-Ethik, das heißt ethisch-politische Diskurse, in denen man sich mit der allgemeinen Gesundheitsförderung befasst, ist hierbei besonders herausgefordert. Es muss in diesen Diskursen stärker als bisher gelingen, die epidemiologische Sicht auf die Gesundheit der Bevölkerung kritisch-konstruktiv mit dem zu verbinden, was sonst noch eine Rolle spielt. Das Wohlbefinden des Einzelnen ist nicht an seinem Blutbild abzulesen und die Qualität der Gesellschaft nicht an deren Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken. Dass hier Zusammenhänge bestehen, ist freilich nicht zu bestreiten. Dennoch geht es bei der Förderung der gesundheitlichen Verfassung der Bevölkerung um mehr und auch um anderes als ein langes, gesundes Leben. Es geht auch um die rechts- und wohlfahrtstaatlichen sowie die gesellschaftlichen Bedingungen und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des Einzelnen. Wie sich im Kontext der programmatischen Health Promotion das Verhältnis von Gesundheit und Selbstverwirklichung im Spannungsfeld zwischen individueller Selbstgestaltung und gesellschaftlichem Selbstverständnis darstellt, wird noch zu wenig diskutiert. Dadurch bleibt oftmals Wichtiges unberücksichtigt. Im Zusammenhang mit der Adipositasproblematik wird in den laufenden Debatten beispielsweise kaum berücksichtigt, wie sich kulturelle Identität und individuelle Identifikation mit Ernährungsgewohnheiten verbinden. Dass viele Einzelne an ihren (kulturell) tradierten Essgewohnheiten festhalten, obwohl ihnen anderes empfohlen wird, könnte mit tiefen Verunsicherungen zusammenhängen, die sie in einer sich kulturell pluralisierenden Welt erleben. Über das Speisen seine Identität zu finden beziehungsweise zu bestätigen mag vom medizinischen Standpunkt aus gesehen unklug sein. In psychologischer und psychosozialer Sicht hingegen sind auch sehr positive Beurteilungen dieser Identifikationsstrategie möglich.

Was dieses Beispiel nochmals verdeutlichen soll ist Folgendes: Die programmatische, auf die gesamte Bevölkerung bezogene Gesundheitsförderung lässt sich inhaltlich nicht auf das im engeren Sinne medizinisch Vorteilhafte begrenzen. Im Gesundheitsverhalten der Einzelnen spiegelt sich die Komplexität ihrer gesamten Lebensbezüge, und diese gehen weit über das medizinisch Relevante hinaus. Strategisch ist deshalb von weiträumigen Wechselwirkungen zwischen Verhältnissen und Verhaltensweisen auszugehen. Wie sich dies im Hinblick auf das Ziel des umfassenden Wohlbefindens aller und jedes Einzelnen normativ konkretisieren lässt, muss in den Diskursen der Public-Health-Ethik herausgefunden werden. Ohne sozialkritisches und zugleich konstruktives argumentatives Engagement wird dies nicht gelingen. Public-Health-Ethik ist deshalb auf eine ethische Perspektive angewiesen, die sich nicht scheut, auch Fragen des guten Lebens zu thematisieren.