Zusammenfassung
Ausgehend von der Koalitionsvereinbarung 2005 zur Verbesserung der Situation bei Spätabbrüchen, untersucht der Autor, inwiefern hierfür das geltende Abtreibungsrecht zu ändern ist. In einem historischen Überblick arbeitet er die lange Tradition eines nach sukzessiver „Beseelung“ in Fristen abgestuften Lebensschutzes der Leibesfrucht heraus, deren Abtreibung bei menschlicher „Formung“ als Tötungsdelikt geahndet wurde. Nachdem diese Tradition in Strafgesetzbüchern der Neuzeit jahrhundertelang Ausdruck gefunden hatte, ging sie im § 218 von 1871 unter. Mit der embryopathischen Indikation von 1974 kehrte zwar eine vergleichbare späte Frist von 22 Wochen in das Gesetz zurück. Seit jedoch der Bundestag diese Indikation 1995 wieder aufgehoben hat, gilt für späte Abbrüche nur die – bis zur Geburt – unbefristete medizinisch-soziale Indikation (§ 218 a Abs. 2 StGB), nach der auch Spätabtreibungen bereits extrauterin lebensfähiger Kinder „nicht rechtswidrig“ sind. In Auseinandersetzung mit den beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur plädiert der Autor dafür, § 218 a Abs. 2 mit dem Eintritt der Lebensfähigkeit des Kindes – dem Lebensschutz des Grundgesetzes und unserer Rechtstradition entsprechend – grundsätzlich auf den Fall einer Lebensbedrohung der Schwangeren zu begrenzen.
Abstract
Based on the coalition agreement of 2005 aimed at improving the situation regarding late-term abortions, the author examines to what extent the current legislation on abortion requires amendment. In an historical overview, he explores the long tradition of the step-wise protection of life commensurate with the gradual “animation” of the fetus, the abortion of which by “human hand” was a punishable crime. Having been observed in civil codes of modern times for centuries, this tradition finally perished in § 218 of 1871. With the embryopathic indication of 1974, a comparatively late deadline of 22 weeks came back into force. However, since the German Bundestag overruled this indication in 1995, only the unlimited (until birth) medico-social indication (§ 218 par. 2 of the German criminal code) applies to late terminations, according to which even late terminations of fetuses of extrauterine viability are “not unlawful”. While examining both decisions of the German Federal Constitutional Court and the literature, the author makes the case for restricting § 281 a par. 2 with extrauterine viability of the child – according to the constitutional preservation of life and our legal tradition – strictly to those cases where the pregnant woman’s life is in danger.
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Neidert, R. Späte Schwangerschaftsabbrüche als Problem des Gesetzgebers. Bundesgesundheitsbl. 51, 842–849 (2008). https://doi.org/10.1007/s00103-008-0604-8
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- Sukzessivbeseelung
- Fristen im geltenden Recht
- Gradualistisches Konzept
- Extrauterine Lebensfähigkeit
- Wiedereinführung einer Befristung