Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags ...

  • können Sie den Begriff Schock und insbesondere den hypovolämisch-hämorrhagischen Schockzustand definieren.

  • kennen Sie die pathophysiologischen Veränderungen im Schock.

  • kennen Sie den aktuellen Stand der Wissenschaft zu mehreren, wichtigen Aspekten des Blutungsmanagements.

  • kennen Sie die Grundlage einer Massivtransfusion sowie die zur Anwendung kommenden Blutprodukte und Faktorenkonzentrate.

Einleitung

Der Begriff „Schock“ bezeichnet eine lebensbedrohliche Kreislaufsituation. Diese ist durch ein Missverhältnis von Sauerstoffangebot und -bedarf auf zellulärer Ebene gekennzeichnet. Der Zustand ist initial reversibel, geht aber schnell in eine irreversible Phase über, die zum Multiorganversagen (MOV) führt. Pathophysiologisch unterschieden bereits 1934 Brooks und Blalock ([1] sowie modifiziert 1971 Weil und Shubin [2]) folgende 4 Typen des Schocks: distributiv, kardiogen, obstruktiv und hypovolämisch. Allerdings ist das Kreislaufversagen vieler Patienten durch eine Kombination der Schockformen gekennzeichnet [3]. Der vorliegende Beitrag befasst sich eingehend mit der Form des hypovolämischen Schocks.

Definition

Der hypovolämische Schock ist durch ein reduziertes intravasales Volumen, also eine verringerte Vorlast, charakterisiert. Die Folge ist ein zur Aufrechterhaltung des zellulären Stoffwechsels zu geringes Herzzeitvolumen (HZV). Der Volumenmangel kann durch Verlust von Sauerstoffträgern (hypovolämisch-hämorrhagischer Schock) und/oder von Flüssigkeiten (hypovolämischer Schock im engeren Sinne) bedingt sein (Tab. 1). Der gesunde Erwachsene verfügt über ein Blutvolumen von etwa 70 ml/kg Normalgewicht. Basierend auf der Prozentzahl an verlorenem Blutvolumen wurde vom „American College of Surgeons’ advanced trauma life support“ (ATLS) eine Einteilung in die in Tab. 2 zusammengefassten 4 Klassen vorgeschlagen [4]. Diese didaktisch hilfreiche Einteilung wird allerdings kritisiert, da sie nicht die klinische Realität widerspiegelt [5, 6]. Die unten geschilderten Kompensationsmechanismen des Körpers sind (alters- und anamneseabhängig) bei einem Verlust von etwa 30 % des zirkulierenden Volumens, also im Bereich der ATLS-Klasse III, erschöpft [7].

Tab. 1 Auswahl möglicher Ursachen eines hypovolämischen Schocks
Tab. 2 Klassifikation des hypovolämischen Schocks gemäß Advanced Trauma Life Support. (Mod. nach Eiben et al. [4])

Für die klinische Anwendung praktikabler ist die Definition einer schweren Blutung mit vitaler Bedrohung durch die folgende Kombination [8]:

  • persistierender Transfusionsbedarf (z. B. mehr als 6 Erythrozythenkonzentrate, EK, in 6 h) und/oder

  • hämodynamische Instabilität (Abfall des systolischen Blutdrucks um 20 % im Vergleich zum Ausgangsblutdruckwert oder Katecholamintherapie, um den Blutdruck aufrechtzuerhalten) sowie

  • problematische Blutungslokalisation (z. B. intraspinale Blutung, intrazerebrale Blutung, schwere Blutung in präformierte Körperhöhlen [z. B. Pleura, Abdomen], schwere Organblutung mit drohendem Organausfall, schwere Kompartmentblutung, besonders im Bereich der Extremitäten, schwere Blutung in die Halsweichteile mit drohender Erstickung).

Pathophysiologie

Der Schock ist durch ein Kontinuum charakterisiert, das von einer asymptomatischen über eine kompensiert-symptomatische zu einer dekompensierten Phase mit potenziell irreversiblem Endorganschaden reicht. Beim hypovolämischen Schock kommt es zu einer kritischen Verminderung des zirkulierenden Plasmavolumens, verminderter kardialer Vorlast und vermindertem Schlagvolumen (SV). Beim hämorrhagischen Schock ist darüber hinaus die Anämie, also der Mangel an Erythrozyten, entscheidend. Bei beiden Schockformen kann ein Trauma die Ursache sein. Beim traumatisch-hypovolämischen Schock ist die Ursache z. B. eine Verbrennung oder Verbrühung mit entsprechendem Flüssigkeitsverlust. Der traumatisch-hämorrhagische Schock beinhaltet neben dem Blutverlust eine ausgeprägte Gewebeschädigung wie z. B. nach einem Polytrauma. Ein rein hämorrhagischer Schock kommt zustande, wenn z. B. im Rahmen einer Messerstichverletzung, bei sonst geringer Gewebeschädigung, lediglich große Blutgefäße eröffnet werden.

Die ausreichende Sauerstoffversorgung des Gewebes wird bestimmt durch das Gleichgewicht zwischen der Rate des Sauerstofftransports zum Gewebe (Sauerstoffangebot, „oxygen delivery“, DaO2) und der Rate, mit der der Sauerstoff vom Gewebe verbraucht wird (Sauerstoffverbrauch, „systemic oxygen consumption“, VO2). Das DaO2 ist abhängig von der Menge an Blut, die zur Zelle kommt (d. h. dem HZV) und der Menge an O2, die in diesem Blut transportiert wird (d. h. dem Sauerstoffgehalt [„arterial oxygen content“, caO2]). Das HZV wird durch das Produkt von SV und Herzfrequenz (HF) bestimmt. Der caO2 ist die Summe aus chemisch gebundenem (arterielle Sauerstoffsättigung ∙ Hämoglobinkonzentration ∙ Hüfner-Zahl [SaO2 ∙ Hb ∙ 1,34]) und physikalisch gelöstem Sauerstoff (Bunsen-Löslichkeitskoeffizient ∙ arterieller Sauerstoffpartialdruck [0,0031 ∙ paO2]; Abb. 1). Nach dem Fick-Prinzip errechnet sich der VO2 aus dem Produkt von HZV und der Differenz von arteriellem zu gemischt-venösem Sauerstoffgehalt (\(\text{c}_{\text{a}-\bar{\text{v}}}\)O2). Bei intakter Mikrozirkulation ist in weitem Bereich VO2 vom DaO2 unabhängig, d. h. ein konstanter Verbrauch trotz abnehmendem Angebot wird durch vermehrte Extraktion (Sauerstoffextraktionsrate, ERO2) ermöglicht.

Abb. 1
figure 1

Parameter des zellulären Sauerstoffangebots und ihre therapeutische Beeinflussbarkeit. (Anmerkung zur Hüfner-Zahl: Unter Normalbedingungen bindet 1 g Hb in vivo 1,34 ml O2. In vitro lässt sich theoretisch ein maximaler Wert von 1,39 ml O2/g Hb errechnen. Da neben Desoxy- und Oxyhämoglobin auch Met- und Carboxyhämoglobin vorhanden sind, die aber kaum Sauerstoff binden, spiegelt die geringere Hüfner-Zahl das Verhalten des zirkulierenden Hämoglobins exakter wider [9].)

Volumenverluste kompensiert der Körper durch:

  1. 1.

    erhöhtes SV (bis ~Hb 7,5 g/dl),

  2. 2.

    erhöhte HF (Tachykardie verkürzt die Diastole und damit die Dauer der Koronarperfusion),

  3. 3.

    erhöhte ERO2 durch Umverteilung und kapilläres Recruitment in den Lungen (durch Freisetzung von Adenosin, Prostaglandinen und Stickstoffmonoxid [NO], [10]),

  4. 4.

    (nach 4–6 h) erhöhte 2,3-Diphosphoglyzerat-Konzentration mit Rechtsverschiebung der Sauerstoffbindungskurve, d. h. Sauerstoff wird leichter an die peripheren Gewebe abgegeben, da die Bindung zwischen Sauerstoff und Hb schwächer ist.

Mit Ausnahme des Herzens, das bereits in Ruhe eine ERO2 von 60 % aufweist, erleiden alle Organe bei schwerer Hypovolämie eine Reduktion des Blutflusses. Spätestens bei Halbierung der DaO2 auf etwa 300 ml/min/m2KOF (DaO2crit) ist die maximale Sauerstoffextraktion (ERO2crit) erreicht, danach besteht eine lineare Abhängigkeit zwischen VO2 und DaO2. Zum Zeitpunkt des DO2crit führt eine weitere Abnahme des DaO2 also erstmals zu einem ebenfalls reduzierten VO2. Im Bereich dieses flussabhängigen Sauerstoffverbrauchs versucht der Körper, Energie durch anaeroben Stoffwechsel zu gewinnen. Folgen sind eine steigende Lactatkonzentration und ein negativer Basenüberschuss („base excess“, BE).

Folgen des hypovolämisch-hämorrhagischen Schocks

Makrozirkulation

Anhaltender Flüssigkeitsverlust führt zur Abnahme des venösen Rückflusses (Vorlast) und des arteriellen Blutdrucks. Barorezeptoren im Aortenbogen, im linken Vorhof und in den Pulmonalgefäßen registrieren dies und hemmen die Aktivierung inhibitorischer Vasomotorenzentren im Hirnstamm mit dem Ergebnis einer sympathischen Aktivierung und einer vagalen Deaktivierung (Sinusknoten). Die kompensatorische Tachykardie und Vasokonstriktion sind die Folgen der Freisetzungen von Adrenalin aus dem Nebennierenmark, Noradrenalin aus den peripheren Nerven und nichtadrenergen Mechanismen (Renin aktiviert den Renin-Angiotensin-Aldosteron-System[RAAS]-Mechanismus [s. unten bei „renal“], Vasopressin aus dem Hypophysenhinterlappen bewirkt eine Wasserretention im distalen Tubulus, Glukagon und Wachstumshormon führen zur verstärkten Glukoneogenese und Glykogenolyse mit anschließender Hyperglykämie). Dieser „Katecholaminsturm“ erhöht den Adrenalin- und den Noradrenalinspiegel um den Faktor 10–40. Junge Gesunde können so einen Blutverlust bis zu 30 % erleiden, bevor Symptome eines Schocks klinisch erkennbar werden [11].

Aufgrund der Vasokonstriktion kommt es rasch zu einer Reduktion des Blutflusses zu „weniger wichtigen“ Organen (z. B. Haut, Skelettmuskulatur, Splanchnikus, Nieren) zugunsten vitaler Organe (z. B. Herz, Gehirn). Neuere Forschungen haben ergeben, dass die sympathikusbedingte Tachykardie unabhängig von der peripheren Vasokonstriktion der entscheidende Mechanismus für die Tolerierung einer akuten Hämorrhagie ist; d. h., dass eine vorhandene β‑Rezeptoren-Blockade die Kompensationsfähigkeit des Organismus erheblich reduziert [12].

Zusätzlich finden organspezifische Reaktionen statt: Bereits initial kommt es infolge einer ausgeprägten Vasokonstriktion zur deutlichen Reduktion des Flusses im Splanchnikusbereich. Die Perfusionsstörung im Magen-Darm-Trakt führt zur reduzierten Schrankenfunktion der Darmwand mit folgender Freisetzung von Bakterien oder Toxinen in den Organismus (Translokation). Kurzzeitig können die Nieren eine 90 %ige Abnahme des Blutflusses tolerieren. Das Gehirn verfügt über eine Autoregulation, die den zerebralen Blutfluss über einen weiten Bereich des mittleren arteriellen Drucks („mean arterial pressure“, MAP) konstant hält und v. a. über Änderungen des zerebralen Gefäßwiderstands erfolgt. Unterschreitet das zerebrale O2-Angebot den Bedarf, führt die Freisetzung proinflammatorischer Mediatoren zu einer vermehrten Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke und folgend zu Ödem, steigendem Hirndruck und Bewusstlosigkeit [13]. Als besonderes Risiko muss antizipiert werden, dass die Einleitung einer Anästhesie mit negativ-inotropen Narkotika sowie die Beatmung mit positivem Druck und konsekutiver Verminderung des venösen Rückstroms in den Thorax das Risiko einer weiteren Abnahme des Blutdrucks beinhalten.

Mikrozirkulation

Die Mikrozirkulation, d. h. der Blutfluss in Gefäßen mit einem Durchmesser <20 µm, balanciert die Blutverteilung innerhalb der Organe. Bereits unter physiologischen Bedingungen werden im Rahmen der „mikrozirkulatorischen Heterogenität“ Bereiche mit hohem und mit niedrigem Sauerstoffbedarf unterschiedlich versorgt. Im Schock kommt es zu einer weiteren Umverteilung in Abhängigkeit von arteriellem Tonus, Rheologie und Sauerstoffbedarf. Der Gefäßtonus wird u. a. durch den intraluminalen Druck, den Scherstress an Glykokalyx und Endothel sowie die Konzentration verschiedener Stoffwechselmetaboliten (NO vs. Wasserstoffionen [H+]) im Gewebe gesteuert. Auch Erythrozyten sind durch Freisetzung von Adenosintriphosphat (ATP, infolge der mechanischen Verformung, der Umwandlung von oxygeniertem zu desoxygeniertem Hb und/oder durch β‑adrenerge oder Prostazyklinrezeptoren der Membran) wesentlich an der Steuerung der Mikrozirkulation beteiligt. Das erythrozytäre Adenosintriphosphat bindet an endotheliale purinerge Rezeptoren und bewirkt die Freisetzung vasodilatorischer Mediatoren [14]. Geräte zur Abschätzung von Perfusion und Sauerstoffmetabolismus im Bereich der Mikrozirkulation sind verfügbar (Nahinfrarotspektroskopie [NIRS], Messung von CO2-Druckdifferenzen zwischen Arterie und Vene (pa−vCO2), Messung des Kohlendioxidpartialdrucks [pCO2] der Magenmukosa, kontrastverstärkter Ultraschall …); ihr klinischer Einsatz ist aber bisher weitgehend auf Studien beschränkt.

Während im hämorrhagischen Schock initial eine Verbesserung der Makrozirkulation die Mikrozirkulation verbessert, ist dieser Effekt in späteren Stadien deutlich verzögert. Trotz Wiederherstellung stabiler Blutdruckwerte kann die mikrozirkulatorische Störung noch über 72 h anhalten („occult hypoperfusion“, [15]). Einige Autoren begründen dies mit dem Vorliegen einer Sauerstoffschuld („oxygen debt“), deren Ausgleich erst mit wiederhergestellter Makrozirkulation beginnt [16]. Ursächlich ist u. a. ein Ausfall der membrangebundenen Ionenpumpen, v. a. für Kalzium- (Ca++) und Natrium(Na+)-Ionen, der mit dem Verlust der Membranintegrität und zellulärer Schwellung einhergeht.

Renal

Das reduzierte intravasale Volumen wird am juxtaglomerulären Apparat registriert; dies führt zu einer Freisetzung von Renin, das Angiotensinogen in Angiotensin I umwandelt. In den Lungen und der Leber entsteht daraus Angiotensin II, das eine arterielle Vasokonstriktion und eine Freisetzung von Aldosteron aus den Nebennieren auslöst. Aldosteron ist verantwortlich für die aktive Na+-Reabsorption und folgende Wasserresorption.

Neuroendokrin

Der abnehmende Blutdruck (registriert durch oben angegebene Barorezeptoren) und eine abnehmende Na+-Konzentration (registriert durch Osmorezeptoren im Hypothalamus sowie im juxtaglomerulären Apparat der Nieren) bewirken eine Freisetzung von antidiuretischem Hormon (ADH) aus dem Hypophysenhinterlappen. Im distalen Tubulus und der Henle-Schleife werden damit Wasser und Salz (NaCl) vermehrt reabsorbiert.

Gerinnung

Die Freilegung von subendothelialem Kollagen führt zur Bildung von Fibrin und zur Stabilisierung des Gerinnsels. Über Thromboxan A2 kommt es sowohl zu einer Vasokonstriktion als auch zur Aktivierung der Thrombozyten. Beim Erwachsenen führt der Verlust von rund 4 l Blut zu einer Abnahme der Aktivität der Gerinnungsfaktoren auf etwa 30 %; dieser Verlust der Faktorenkonzentration wiederum kann bereits allein eine Blutung auslösen [17]. Die Kombination aus zellulärer Minderperfusion mit dem klinischen Bild eines Schocks und einer schweren Gewebezerstörung bedingt eine primäre, eigenständige, multifaktorielle und unmittelbar nach der Verletzung auftretende Gerinnungsstörung [18, 19] und wird traumainduzierte Koagulopathie (TIK) genannt. Das Auftreten der TIK ist allerdings unabhängig von der Traumagenese; vielmehr kann sie sich auch perioperativ entwickeln [20] und ist mit erhöhter Sterblichkeit verbunden. Die primäre Reaktion auf Hypotonie und Hypovolämie ist die Freisetzung von Gewebe-Plasminogen-Aktivator (tPA), Thrombomodulin und Protein C. Die β‑adrenergen Agonisten, v. a. Adrenalin, verstärken die Aktivierung des Protein-C-Pfads, die Exozytose aus den thrombozytären Weibel-Palade-Körperchen und die Freisetzung von tPA und erhöhen so die Hypokoagulabilität [21].

Folgen dieses sehr komplexen und bisher nur teilweise verstandenen Geschehens sind eine verstärkte proteolytische Aktivität im Blut (Konzentrationsanstieg von neutrophiler Elastase und Plasmin), Fibrinogenmangel, dysregulierte Thrombinbildung, gestörte Fibrinpolymerisation und eine überschießende Plasminaktivität mit resultierender Hyperfibrinolyse [16]. Die Fibrinolyse ist unmittelbare Folge der schweren Verletzung [19], und ihr Ausmaß korreliert mit dem Schweregrad des Schocks, der Morbidität und der Letalität. Auch eine Störung der Thrombozytenfunktion (bei oft normaler Zahl) ist ein frühes Zeichen der TIK [19]. Die „tödliche Trias“ aus Hypothermie, Acidose und Verlust/Verbrauch/Verdünnung ist ein sekundär folgendes, größtenteils iatrogenes Problem, das die Gerinnungssituation deutlich verschlechtert [18]. Die Umwandlung der hypokoaguablen Phase in eine hyperkoaguable ist obligater Bestandteil der TIK und erfolgt innerhalb von Stunden bis Tagen nach Trauma [19].

Endothel/Glykokalyx

Das Endothel ist eine einlagige Zellschicht auf der Innenseite aller Blut- und Lymphgefäße mit einer Gesamtoberfläche von 4000 m2 bis 7000 m2. Die luminale Oberfläche des Endothels wird von der Glykokalyx bedeckt. Dies ist eine 0,2–1 µm dicke, negativ-geladene Schicht aus Proteoglykanen (v. a. Syndecan-1), die die Glykokalyx am Endothel verankern. Die Proteoglykane bestehen aus einem Kernprotein mit langen Glykosaminoglykanen und Seitenketten aus v. a. Heparansulfat. Die Glykokalyx bildet ein makromolekulares Sieb, in dem physiologisch ein großer Teil des nichtzirkulierenden Plasmavolumens (etwa 1 l beim Erwachsenen, d. h. etwa 25 % des intravaskulären Volumens) lagert. Diese Plasmabestandteile bilden die antiadhäsive und -koagulatorische Schicht, die die unterliegenden Endothelzellen und Zellverbindungen schützt und die vaskuläre Schrankenfunktion kontrolliert.

Die Endotheliopathie des Schocks ist durch folgende Merkmal gekennzeichnet [16]:

  • verstärkte Permeabilität,

  • gestörte Gerinnung und

  • inflammatorische Aktivierung.

Hypoxie führt zu endothelialen Zellapoptose. Die Hypoxie und wahrscheinlich auch die folgende Katecholaminausschüttung sind als Verursacher einer fortschreitenden Endothel- und Glykokalyxschädigung („shedding“) anzusehen; dies ist durch erhöhte Konzentrationen von Adrenalin, Thrombomodulin (Marker für Endothelzelldefekt) und Syndecan-1 (Marker für Glykokalyxschaden) nachweisbar. Da die Bestandteile der zerstörten Glykokalyx ihre antikoagulatorischen, heparinähnlichen Eigenschaften behalten, geht das „shedding“ der endothelialen Glykokalyx mit einer aktiven Antikoagulation des Blutes einher („endogene Heparinisierung“, [21]).

Diese schockbedingte Antikoagulation wird weiter verstärkt durch die Freisetzung von Angiopoetin-2, Gewebefaktor („tissue factor“, TF), Willebrand-Faktor, plättchenaktivierendem Faktor (PAF) und Plasminogen-Aktivator-Inhibitor (PAI-1). Die endotheliale Schädigung tritt innerhalb von 1–2 h nach der Verletzung auf [22], ist Folge des Schocks, korreliert in ihrer Ausprägung mit der Schwere des Schocks (gemessen an Basendefizit und Lactatspiegel) sowie der Intensität der Katecholaminausschüttung (gemessen am Adrenalinspiegel) und ist nicht Folge der Reperfusion bzw. der Flüssigkeitstherapie [23]. Da die Reaktion des Endothels auf Ischämie, Schock, Hypoxie und Reperfusion ähnlich ist, erfolgt durch die Reperfusion erneut eine Schädigung.

Dekompensation

Ab einem Blutverlust >30 % sind die Kompensationsmechanismen auch bei kardiopulmonal gesunden Patienten nicht mehr ausreichend; bei sehr jungen und alten Patienten erfolgt die Dekompensation früher. Erst ein Blutverlust >50 % und/oder ein zerebraler paO2 < 60 mmHg bewirken einen veränderten zerebralen Blutfluss [13]. Es kommt zu Gewebehypoxie mit Freisetzung diverser Mediatoren u. a. aus dem Gerinnungs‑, Fibrinolyse- und Komplementsystem. Beim hämorrhagischen Schock sind besonders die Konzentrationen der Stoffwechselprodukte der Arachidonsäure (Leukotriene, Thromboxan) sowie Tumor-Nekrose-Faktor (TNFα), Interleukin(IL)-1, IL-6 und IL-8 erhöht [24]. Diese Mediatoren verstärken u. a. die Auflösung der endothelialen Glykokalyx. Direkte Folgen sind Organdysfunktionen im Sinne einer systemischen Inflammation mit Multiorganversagen (MOV). Um noch einen minimalen Blutfluss aufrechtzuhalten kommt es, infolge der Anreicherung saurer Stoffwechselprodukte (H+, CO2), zu einer Vasodilatation mit Abfall des MAP. Dabei ist die Vasodilatation in der dekompensierten Phase nicht mehr durch Volumengabe ausgleichbar [11]. Bei weiterem Blutverlust bewirkt, sozusagen als letzter Versuch, die Koronarperfusion zu gewährleisten, die Abnahme der Sensitivität kardialer Barorezeptoren präsynkopal eine Bradykardie, die abschließend zu einer unzureichenden zerebralen Perfusion mit Bewusstlosigkeit führt [12]. Endotheliale Schädigung und vasoaktive inflammatorische Mediatoren lösen somit eine Vasoplegie aus, die als ursächlich für die irreversible Hypotonie angesehen wird und letztlich zum Tode führt [25]. Auf zellulärer Ebene wird der verbliebene Sauerstoff in Sauerstoffradikale (ROS) umgewandelt, die eine irreversible Zellschädigung durch Proteinnitrosylierung, Fettperoxidation und DNA-Abbau hervorrufen.

Reperfusion

Die Wiederdurchblutung ehemals ischämischer Organbereiche produziert zytotoxische Sauerstoffmetabolite, u. a. Superoxide und Peroxide, die ebenfalls zu intrazellulärer Schädigung (Apoptose der Mitochondrien) sowie Protein- und Lipidperoxidation führen. Zusätzlich werden inflammatorische Zellen und die Komplementkaskade aktiviert; die folgende Ausschüttung inflammatorischer Mediatoren u. a. durch aktivierte Neutrophile, die insbesondere aus Lunge, Leber und Gastrointestinaltrakt freigesetzt werden, verstärkt den sog. Reperfusionsschaden („reperfusion injury“). Klinische Folgen der, nach der Verletzung zweiten Schädigung („second hit“), sind das „systemic inflammatory response syndrome“ (SIRS), die akute Lungenschädigung („acute lung injury“, ALI), das „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) und letztlich das MOV [26]. Die generalisierte Ödembildung stellt einen „third hit“ dar. Dieser ist für viele Patienten letztendlich tödlich [26].

Diagnostik

Validierte Blutdruckwerte zur Definition des Schocks sind weiterhin nicht vorhanden. Allgemein wird jedoch die Kombination aus systolischem arteriellem Druck („systolic arterial pressure“, SAP) <90 mmHg plus Tachykardie plus (vermuteter) Blut‑/Volumenverlust als Zeichen des Schocks gewertet. Jeder dieser Patienten benötigt (zusätzlich zum Standard-Monitoring) innerklinisch zumindest einen großlumigen zentralen Venenkatheter, eine invasive, arterielle Blutdruckmessung und einen Blasenkatheter mit Temperaturmessung. Der zentrale Venendruck (ZVD) ist als alleiniger Wert zur Steuerung der Volumentherapie nicht zu verwenden [27]. In der Klinik ist der Volumenstatus eines Patienten mit Schock am besten mithilfe einer transthorakalen oder transösophagealen Echokardiographie zu objektivieren (lesenswerte Übersichten: [28, 29, 30]), auch wenn dies anwenderabhängig ist [27].

Klinische Zeichen

Die typischen Zeichen eines Schocks sind:

  • Hypotonie und

  • Tachykardie.

Diese können aber lange Zeit irreführend sein. Eine arterielle Hypotension (definiert als SAP <90 mmHg, MAP <65 mmHg oder Abfall vom Ausgangswert >40 mmHg) ist zwar oft vorhanden, aber keine Voraussetzung zur Diagnose eines Schocks [28]. Kardiopulmonal gesunde Patienten kompensieren einen Volumenverlust sehr lange mit gering erhöhter Herzfrequenz und kaum erniedrigtem Blutdruck. Das typische Beispiel hierfür ist die peripartale Blutung: Erst ab einem kritischen Volumenverlust von etwa 1500 ml [31] dekompensiert der Kreislauf dieser Patientinnen. Auch stehen viele ältere Patienten heute unter eine β-Rezeptoren-Blockade, die eine Tachykardie verhindern und eine Hypovolämie damit maskieren. Die Nutzung der im Folgenden behandelten klinischen Zeichen ist nur in Kombination und unter Berücksichtigung des klinischen Bilds sinnvoll [32].

Schockindex

Der Quotient aus Herzfrequenz und systolischem Blutdruck sollte <1 sein. Werte um 1 sind als Zeichen eines drohenden, >1 eines manifesten Schocks zu werten. Der Schockindex ist jedoch sehr kritisch zu sehen: Tachy- und bradykarde Rhythmusstörungen können falsch-positiv bzw. -negative Ergebnisse des Schockindex zur Folge haben. Bei Schwangeren und bei Kindern ist er ebenfalls nur eingeschränkt verwertbar.

Tastbarer Puls

Ein tastbarer Radialispuls wird von vielen Organisationen (z. B. European Resuscitation Council, ERC, [33] oder Tactical Combat Casualty Care, TCCC, [34]) als Ziel der initialen Therapie eines Schocks angesehen. Gemäß der „60/70/80-Regel“ des ersten „ATLS course manual“ [35] soll der SAP-Wert bei tastbarem Karotispuls 60 mmHg, bei tastbarem Femoralispuls 70 mmHg und bei tastbarem Radialispuls 80 mmHg betragen. Diese oft zitierte Korrelation wurde in 2 kleinen Beobachtungsstudien aufgrund der interindividuellen Variabilität der Palpierbarkeit kritisiert und ist auch keinesfalls linear [36, 37]. Zweifellos ist ein fehlender Radialispuls ein Zeichen für einen schweren Schock, ein erhaltender Radialispuls garantiert jedoch nicht einen SAP ≥80 mmHg.

Kapillarperfusion

Wenn die Hand des Patienten auf Herzhöhe ist, sollte nach leichtem Druck auf das Fingernagelbett innerhalb von 2 s (Rekapillarisierungszeit) die Reperfusion erfolgen. Werte über 3 s werden als pathologisch angesehen. Der Test ist wissenschaftlich nicht belegt [38].

Laborparameter

Zur Basisdiagnostik von blutenden Patienten sollen frühzeitig und wiederholt folgende Parameter bestimmt werden [18, 39, 40]:

  • Blutgasanalyse (BGA),

  • Quick-Wert (Prothrombinzeit),

  • „activated partial thromboplastin time“ (aPTT),

  • Fibrinogen,

  • Thrombozytenzahl und

  • Blutgruppe (mit Anforderung ≥4 EK).

Bei Frauen im gebärfähigen Alter empfiehlt sich ein Schwangerschaftstest (z. B. ektope Schwangerschaft). Weiterhin gibt es für die Nutzung der Standardlaborparameter Quick-Wert, aPTT und Thrombozytenzahl keine positive Datengrundlage, ihre Bestimmung sei aber besser, als nichts zu messen [41]. Da eine bettseitige Diagnostik der aktuellen Plasmaspiegel von direkten, oralen Antikoagulanzien (DOAK) nicht möglich ist, bleibt dieser Bereich für blutende Patienten kritisch. Mögliche Diagnostik- und Therapieoptionen sind kürzlich in Der Anaesthesist publiziert worden [42].

Hämoglobin/Hämatokrit

Die Hb-Konzentration hat beim aktiv-blutenden Patienten einen sehr zweifelhaften diagnostischen Wert. Da bei akuter Blutung feste und flüssige Bestandteile des Blutes gleichzeitig verloren gehen, bleiben Hb und Hämatokrit (HKT) initial weitgehend konstant (solange keine Flüssigkeitssubstitution erfolgt [10]). Die physiologische Umverteilung interstitieller Flüssigkeit in das Plasma erfolgt erst nach 8–12 h. Bei alleinigem Verlust von Flüssigkeit, z. B. im Rahmen starker Durchfälle, werden beide Parameter anfänglich sogar steigen. Daher sehen die Querschnittleitlinien der Bundesärztekammer den Hb-Wert allein nicht als Transfusionsindikation an, sondern nur in Kombination mit einem physiologischen Transfusionstrigger (z. B. neu auftretende, regionale myokardiale Kontraktionsstörungen, Lactatacidose …, [43]).

Lactat und „base excess“

Die BGA dient u. a. der diagnostisch und therapeutisch wichtigen, wiederholten Messung der Schock- und Perfusionsparameter BE (soll nicht kleiner als −6 mEq/l sein [44]) und Lactat (soll <4 mmol/l sein [45]). Beide Parameter sind bei alkoholisierten Patienten mit Vorsicht zu werten [46]. Um zu beurteilen, ob ein Patient von einer Volumengabe profitiert, ist Lactat besser geeignet als die gemischt-venöse Sauerstoffsättigung [27].

Venös-arterielle Kohlendioxidpartialdruckdifferenz

Nachdem MAP und zentralvenöse Sauerstoffsättigung (SzvO2) durch die Therapie wieder in Normbereichen sind, ist die zentralvenös-arterielle Differenz der Partialdrücke von CO2 („pCO 2 gap“) bei Werten >6 mmHg ein Hinweis auf einen weiterhin unzureichenden Blutfluss, der von weiterer Steigerung des HZV und des Sauerstoffangebots profitieren kann [28, 29].

Viskoelastische Tests und Thrombozytenfunktion

Bei der Versorgung von blutenden Patienten sollte zusätzlich zu Diagnostik und Therapie der TIK der frühzeitige Einsatz viskoelastischer Testverfahren erfolgen (VET, [18]). Die patientennahe „Point-of-Care“(POC)-Diagnostik bietet einen erheblichen Zeitgewinn [19]. Die Messung der Thrombozytenfunktion bildet die primäre Hämostase (d. h., die Wechselwirkung der Thrombozyten untereinander und mit dem Endothel) ab. Die VET erfassen die sekundäre Hämostase (d. h., die plasmatische Gerinnung), einschließlich der Hyperfibrinolyse. Bei den VET stehen die Thrombelastographie (TEG) oder die Rotationsthromboelastometrie (ROTEM) zur Auswahl, für die thrombozytäre Funktion das Multiplate oder das ROTEMplatelet.

Bildgebende Untersuchungen

Neben der klinischen Untersuchung sind bei der Suche nach einer Blutungsquelle u. a. Ultraschallverfahren (z. B. „Focused Assessment with Sonography for Trauma“, FAST), Endoskopien und die Computertomographie hilfreich.

Therapie

Die Ziele der Therapie eines hypovolämischen Schocks sind bisher hauptsächlich an der Makrozirkulation ausgerichtet: Einer Volumengabe (d. h. einer Vorlasterhöhung) folgt ein erhöhtes SV, solange sich die Werte für den venösen Rückstrom im ansteigenden Schenkel der Frank-Starling-Kurve befinden („responder“, etwa 50 % aller Patienten mit einem Schock, mehr beim hypovolämisch-hämorrhagischen Schock [27]). Dies lässt sich mit einem Flüssigkeitsbolus, einer Trendelenburg-Lagerung oder dem Anheben der Beine („passive leg raising“, PLR) testen. Ein Anstieg des HZV >10–15 % wird als positive Reaktion auf eine Flüssigkeitsgabe gewertet [28]. Die Idee ist, dass die Erhöhung des intravasalen Volumens zu einer besseren Gewebeperfusion und damit einer besseren Sauerstoffverfügbarkeit führt. Unabhängig vom gemessenen HZV verbessern sich die klinischen Zeichen der Hypovolämie (z. B. Tachykardie, Oligurie, hohe Lactatkonzentration, BE, niedrige SzvO2-Werte) jedoch nur dann, wenn die Volumengabe auch zu einer optimierten Perfusion der Mikrozirkulation führt. Eine Verbesserung des DaO2 bedingt also nicht per se eine verbesserte Mikrozirkulation. Neben der Art der Flüssigkeit sind auch deren Menge (weder zu wenig noch zu viel) und der Zeitpunkt der Gabe (möglichst früh) bedeutsam [47].

„The treatment of bleeding is to stop the bleeding“ [48], und dies so rasch wie möglich. Die Wichtigkeit der frühzeitigen Versorgung stärkster, lebensbedrohlicher Blutungen durch die Anwendung von manueller Kompression, Druckverband und Tourniquet sowie evtl. Hämostyptika wird im modifizierten <C>ABCDE-Schema [49] betont, wobei das initiale <C> für „catastrophic haemorrhage“ steht. Für die prähospitale Therapie wird auf einen kürzlich in Der Anaesthesist erschienenen Beitrag der Autoren verwiesen [50]. Detaillierte Übersichten über mögliche therapeutische Hilfsmittel bei nichtkompressiblen Verletzungen der Körperhöhlen von Thorax und Abdomen sind ebenfalls kürzlich erschienen (z. B. „pelvic binder“, „resuscitative endovascular balloon occlusion of the aorta, REBOA“; [51, 52, 53]). Jedes Krankenhaus sollte ein, an lokale Gegebenheiten im Detail angepasstes, spezifisches Massivtransfusions- und Gerinnungstherapieprotokoll mit einem eskalierenden Algorithmus und vordefinierten Interventionstriggern anwenden [18, 40].

Mögliche Definitionen des Begriffs „Massivtransfusion“ fasst zusammen Tab. 3, in Tab. 4 sind eskalierende, medikamentöse Therapieoptionen zur Massivtransfusion aufgeführt. Wichtig ist der Erhalt der Rahmenbedingungen der Gerinnung, also das Anstreben von Normothermie und Normokalzämie sowie die Vermeidung einer Acidämie [54]. Die Acidose ist Folge der Perfusionsstörung; eine Pufferung mit Natriumhydrogencarbonat oder Tris(hydroxymethyl)aminomethanpuffer (TRIS-Puffer, Trometamol) wird ab einem pH ≤ 7,2 und v. a. vor der Gabe von Gerinnungsfaktoren empfohlen [55]. Eine chirurgische Blutung ist hämostaseologisch nicht zu stoppen, sie kann nur (und muss) supportiv behandelt werden [55].

Tab. 3 Mögliche Definitionen einer Massivtransfusion
Tab. 4 Eskalierende Therapieoptionen bei Massivtransfusion. (Aus S3-Leitlinie „Polytrauma“ [18])

Oxygenierung

Eine pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung (SpO2) von 90 % entspricht etwa einem paO2 von 60 mmHg. Spätestens ab diesen Werten ist beim spontan atmenden Patienten die Sauerstoffzufuhr zu erhöhen (z. B. Gesichtsmaske mit Reservoir und 10 l/min) und ggf. eine kontrollierte Beatmung zu erwägen (Cave: hämodynamische Nebenwirkungen einer Narkoseeinleitung). Mit zunehmender Anämie steigt der Anteil des physikalisch gelösten Sauerstoffs am DaO2 (allerdings nicht linear). Wird die inspiratorische Sauerstofffraktion von 0,21 auf 1,0 gesteigert, erhöht sich der physikalisch gelöste Sauerstoff von 0,3 auf 2,3 ml/dl; das entspricht einem Anstieg der Hb-Konzentration um 1,5 g/dl [24]. Dabei ist aber die SpO2 allein kein Maß für die bestehende Anämie, da trotz hoher SaO2-Werte (anteilige Beladung der vorhandenen Hb-Moleküle mit O2) eine signifikante Anämie bestehen kann.

„Damage control“ und „permissive Hypotension“

Der Begriff „damage control“ bezeichnet die operative und die notfallmedizinische/anästhesiologische Therapie lebensbedrohlich-blutender Patienten. Dabei erhalten der Stopp einer entgleisten und die Wiederherstellung einer physiologischen Homöostase Vorrang vor der endgültigen, funktionellen Korrektur von Verletzungen (die dann sekundär erfolgt). Jeder Patient, dessen Verletzung das Risiko einer starken Blutung oder einer physiologischen Entgleisung bedingt, sollte mithilfe der „damage control resuscitation (DCR)“ therapiert werden [55]. Das Vorliegen einer Koagulopathie, also einer diffusen Blutungsneigung, wird als eine Indikation für DCR angesehen [59, 60]. Weitere perioperative Indikationen sind in Tab. 5 gelistet.

Tab. 5 Perioperative Indikationen zur „damage control resuscitation“. (Mod. nach Roberts et al. [61])

Bereits im Ersten Weltkrieg haben Cannon et al. bemerkt, dass eine Verletzung bei normalem Blutdruck stärker blutet als bei niedrigerem Druck [62]. Beecher bestätigte dies nach dem Zweiten Weltkrieg [63]. Beide Arbeitsgruppen betonten die Bedeutung der beiden folgenden heute noch wichtigen Kernparameter:

  • Ziel eines systolischen Blutdruckwerts von ~85 mmHg und

  • Tolerierung dieser Hypotonie nur bis zur chirurgischen Blutstillung.

Datengrundlage der heutigen Empfehlungen ist letztendlich eine tierexperimentelle Untersuchung [64]. Die Evidenz für eine permissive Hypotension (MAP ~65 mmHg, SAP ~90 mmHg, altersadaptiert bei Kindern [18]) ist begrenzt, obwohl sie in internationalen Leitlinien [18, 40, 60] empfohlen wird und in kleinen Fallserien [65] sinnvoll erschien. Der MAP sollte eindeutig bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT; Ziel: intrakranieller Druck [„intracranial pressure“, ICP] <20 mmHg und zerebraler Perfusionsdruck [„cerebral perfusion pressure“, CPP] 60–70 mmHg [66]) und laut Expertenmeinung auch nach spinalem Trauma höher sein (85–90 mmHg, [18]).

Flüssigkeiten

Jegliche Volumentherapie erfolgt innerklinisch ausschließlich über Infusionswärmer mit einer Infusionstemperatur von 40 °C.

Prinzipiell wird eine akute Hypovolämie deutlich schlechter toleriert als eine akute Anämie; daher wurde lange empfohlen, erst „Flüssigkeiten“, dann Blut zu infundieren. Fundierte Evidenz bezüglich der Wahl der Flüssigkeit fehlt. Regionale Gewohnheiten scheinen mehr Einfluss zu haben als wissenschaftliche Daten (in vielen Ländern wird die in Deutschland obsolete 0,9 %ige NaCl-Lösung empfohlen). Die anhaltende, kontroverse Diskussion „kristalline Lösung vs. Kolloid“ wird auch dieser Beitrag nicht beenden können. Kristalline Infusionen sollten als balancierte Lösungen verwendet werden [67]. Zweifelsfrei ist der Volumeneffekt von Kolloiden größer; ebenso aber auch die Nebenwirkungen hinsichtlich u. a. der Gerinnung und Nierenfunktion. Auch haben die so erzielten hämodynamischen Verbesserungen in randomisierten kontrollierten Studien meist nicht zu einem besseren „Outcome“ geführt [47].

Laut der S3-Leitlinie „Intravasale Volumentherapie beim Erwachsenen“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, [67]) aus dem Jahr 2014, die derzeit aktualisiert wird, können zur Therapie der akuten Hypovolämie kolloidale Lösungen (6 %ige Hydroxyethylstärke [HES 130] und Gelatine) und kristalline Lösungen als Volumenersatz verwendet werden. Weiterhin soll Hydroxyethylstärke bis zur Klärung durch die geforderte Studie derzeit bei kritisch kranken Patienten (d. h. bei V. a. Endothel‑/Glykokalyxstörung) nicht verwendet werden; im hämorrhagischen Schock ist der Einsatz kritisch abzuwägen [67] (Anmerkung: Aktuell (Januar 2018) wird von der zuständigen europäischen Behörde (EMA) ein Ruhen der Zulassung für HES geprüft). Gesucht wird eine Flüssigkeit, die die Sauerstoffschuld begleicht, den Endothel- und Glykokalyxschaden repariert und gleichzeitig die TIK beendet [16]. Das übergeordnete Ziel der Volumentherapie beim hämorrhagischen Schock sollte der möglichst vollständige Ersatz der Volumenverluste sein. Die in Publikationen geforderte Normovolämie ist allerdings in der Praxis oft sehr schwierig zu erzielen.

In Verbindung mit dem restriktiven Flüssigkeitsregime können zum Erreichen der oben angegebenen Blutdruckwerte Vasopressoren notwendig werden. Katecholamine dienen der Blutdrucksteuerung, nicht als Ersatz für eine Volumensubstitution [4]. Dabei hat sich v. a. Noradrenalin als sinnvoll erwiesen [11, 60]; als zweite Wahl, insbesondere bei abdominellen Blutungen, wird Arginin-Vasopressin angesehen; bei myokardialer Dysfunktion und bei fehlender Reaktion auf Flüssigkeit plus Noradrenalin (in höheren Dosen) kann die Gabe von Dobutamin oder Adrenalin sinnvoll sein [11].

Blutprodukte

Deutsche Daten des Paul-Ehrlich-Instituts [68] und internationale Publikationen [40, 69] zeigen, das größte Risiko im Zusammenhang mit Transfusionen sind durch menschliche Fehler bedingte Zwischenfälle, vorwiegend Prozessfehler oder Fehltransfusionen [40, 69]; die Hektik einer Massivtransfusion erhöht die Wahrscheinlichkeit eines solchen Fehlers.

Die Transfusionsbedürfnisse von Patienten mit perioperativen Massivblutungen unterscheiden sich von denen polytraumatisierter Patienten; Erstere haben meist etwas länger Zeit und benötigen weniger häufig Thrombozyten [70]. Ein großer Teil der Literatur befasst sich allerdings mit der Massivtransfusion beim schwer verletzten Patienten.

Eine Transfusionsindikation ist immer eine individuelle Einzelfallentscheidung; dabei geben Leitlinien Empfehlungen, die für die Mehrzahl der Patienten in der überwiegenden Zahl der Fälle zutreffen. Viele Komplikationen nach Gabe von Blutprodukten sind beschrieben; die Anwendung sollte auf unmittelbar lebensbedrohliche Situationen beschränkt bleiben [17]. Eine Auswahl der (Neben‑)Wirkungen zeigt Abb. 2 auf.

Abb. 2
figure 2

Auswahl der Wirkungen und Nebenwirkungen von Blutprodukten. EK Erythrozytenkonzentrat, GFP gefrorenes Frischplasma, TK Thrombozytenkonzentrat

Zusätzlich zum Narkose- oder Intensivprotokoll ist die Anwendung eines separaten „Massivtransfusionsprotokolls“ zur vereinfachten tabellarischen Dokumentation der transfundierten Präparate meist ab dem 4. EK sinnvoll. Chargendokumentationspflichtig und erlösrelevant sind EK, GFP (gefrorenes Frischplasma), TK (Thrombozytenkonzentrat), aber auch Fibrinogen- und Prothrombinkomplexkonzentrat (PPSB).

Erythrozytenkonzentrate

Die Transfusion von EK behandelt primär die Sauerstoffschuld durch Vermehrung der Sauerstoffträger. Gleichzeitig werden jedoch die Thrombozyten an den Rand des Gefäßes, wo sie auch wirken sollen, gedrängt (Margination). Pro EK werden der Hb eines nichtaktiv blutenden Patienten um etwa 1 g/dl und der HKT um etwa 3 % ansteigen [10]. Der Effekt eines EK bei aktiver Blutung ist jedoch nicht abschätzbar. Isoliert führen 500 ml EK zu einer etwa 10%igen Abnahme der Gerinnungsfaktoren [17]. Erythrozytenkonzentrate werden AB0-gleich transfundiert; solange das Ergebnis der AB0-Blutgruppenbestimmung des Empfängers nicht vorliegt, sind zur Erstversorgung EK der Blutgruppe 0 zu verwenden [71]. Ungekreuzte EK der Blutgruppe „0, Rhesus negativ“ sind nur bei akuter Lebensgefahr indiziert. International wird eine restriktive Transfusionsstrategie mit einem Hb-Ziel-Wert von 7–9 g/dl (4,4–5,6 mmol/l) befürwortet; bei höheren Hb-Werten eines anhaltend und massiv blutenden Patienten kann aber ggf. bereits mit der Transfusion begonnen werden.

Therapeutisches Plasma

Therapeutisches Plasma (thP) steht in Deutschland als gefrorenes Frischplasma (GFP), lyophilisiertes Plasma (LP) oder pathogenreduziertes Plasma (durch Methylenblau/Licht, Amotosalen/UVA oder Solvens/Detergens) zur Verfügung. Seit August 2017 soll auch thP AB0-gleich transfundiert werden (nur in Ausnahmen AB0-kompatibel, [71]). Gefrorenes Frischplasma sollte bei Patienten ohne lebensbedrohliche Blutung vermieden werden [60]. Die Indikation für die Gabe von GFP ergibt sich bei lebensbedrohlicher Massivblutung, die dann aber möglichst frühzeitig und mit hohem Fluss, d. h. mit ~50 ml/min, zu stellen ist [18, 40, 43, 60].

Trotz jahrzehntelanger, flächendeckender und weltweiter Anwendung als Gerinnungssubstituent gibt es für die Verabreichung von Plasma bei blutenden Patienten nur wenige evidenzbasierte Daten [72]. Als Qualitätskriterium gilt ein Faktor-VIII-Gehalt ≥0,7 U/ml nach dem Wiederauftauen [71]. Lyophilisierung oder Virusinaktivierung führen zu weiterer Reduktion der Aktivität der Gerinnungsfaktoren in unterschiedlicher Ausprägung [73]. Während die derzeit gültige Querschnittsleitlinie der Bundesärztekammer (BÄK) den Volumenersatz explizit als Indikation zur Gabe von Plasma ausschließt [43], wird international thP zunehmend aufgrund dieses Effekts bevorzugt [16]. Ein wichtiger Grund dafür sind die protektiven und reparativen Effekte von thP auf die Glykokalyx [16, 22]. Im Vergleich mit allen bisherigen künstlichen kristallinen und kolloidalen Lösungen scheint das physiologische Kolloid „Plasma“ mit deutlichem Volumeneffekt und den enthaltenden gerinnungsaktiven Substanzen für Massivtransfusionen besser geeignet zu sein.

Thrombozytenkonzentrate

Thrombozytenkonzentrate sind AB0-kompatibel, bevorzugt AB0-gleich, zu transfundieren [71]. Obwohl es wenige Evidenz dafür gibt, werden auf europäischer [60] und deutscher [43] Ebene bei anhaltenden, massiven und/oder transfusionspflichtigen Blutungen sowie beim SHT Thrombozytenzahlen >100.000/µl empfohlen.

„Haemostatic resuscitation“

Die Studie „Pragmatic Randomized Optimal Platelet and Plasma Ratios“ (PROPPR, [74]) konnte als bisher einzige prospektive, randomisierte und kontrollierte Studie die blutungsbedingte Sterblichkeit innerhalb von 3 h durch das 1:1:1-Verhältnis von GFP:EK:TK reduzieren; nach 24 h und nach 30 Tagen gab es keinen Überlebensvorteil. Dies galt nur, wenn aufgetautes GFP innerhalb von 8 min nach Anruf bei der Blutbank anwendbar sowie die Nutzung von kristallinen und kolloidalen Lösungen deutlich begrenzt war [75]. Die Anpassung der PROPPR-Daten (Einzelspender-TK bei [74]) an deutsche Pool- bzw. Apherese-TK mit 2 ∙ 1011 Plättchen ergibt also nach 4–6 Paar EK + GFP ein TK (balancierte Transfusion). Evidenzbasierte Daten existieren nur für GFP, nicht für pathogenreduziertes oder lyophilisiertes Plasma. Diese „haemostatic resuscitation“ ist Teil des DCR-Konzepts und versucht, die Wirkung von frischem Vollblut zu reproduzieren [76]. Knapp ein Viertel des Volumens von Blutprodukten entfällt auf Additivlösung, Stabilisatoren und Konservierungsstoffe; das Zusammenschütten von EK + GFP + TK kann somit nie dieselbe Aktivität enthalten wie das gleiche Volumen Vollblut [77]. In einigen Zentren in Skandinavien und den USA wird auch zivil „frisches Vollblut“ („fresh whole blood“, [78]) verabreicht. Aktuell wäre das in Deutschland allenfalls im „individuellen Heilversuch“ möglich. In der internationalen (Trauma‑)Literatur werden kristalline Lösungen und Kolloide aufgrund des Risikos von u. a. Dilution, Hypothermie und Acidose in zunehmendem Maß nicht mehr empfohlen und durch die oben angegebene frühzeitige, balancierte Transfusion ersetzt [66].

Antifibrinolytika und Faktorenkonzentrate

Für die „zielgerichtete“ Diagnostik und Therapie der Gerinnungsstörung bei Massivblutung werden zunehmend VET empfohlen (Übersicht: [79, 80, 81]). In prospektiven, randomisierten Studien erfolgte die Therapie so schneller, nebenwirkungsärmer und effektiver [82] und mit Überlebensvorteil [83].

Bereits bei V. a. Hyperfibrinolyse soll jeder Patient mit aktiver Blutung im hämorrhagischen Schock und zu erwartendem Transfusionsbedarf [60] Tranexamsäure (TxA) erhalten. Dies soll möglichst früh in einer Dosierung von 1 g über 10 min und ggf. gefolgt von 1 g über 8 h, kann bereits prähospital und sollte nicht länger als 3 h nach dem Trauma erfolgen [18, 84].

Internationale Richtlinien sehen die Indikation zur Substitution von Fibrinogen, dem Gerinnungsfaktor, der als Erster in kritische Bereiche abfällt, bei einer Konzentration von 1,5–2 g/l (150–200 mg/dl; [18, 40, 60]). Nach Fibrinogengabe werden, unabhängig von der applizierten Menge, keine erhöhten Spiegel an den folgenden Tagen gemessen; ein Thromboserisiko ist somit nicht zu erwarten [85].

Eine gesicherte Indikation für PPSB ist die Antagonisierung von Vitamin-K-abhängigen oralen Antikoagulanzien; bei traumatischen Blutungen ist die Indikation schwächer. Die Gabe von PPSB erhöht das endogene Thrombinpotenzial für 3 Tage signifikant; ein Thromboserisiko besteht [86].

Mit schwacher Evidenz kann Desmopressin/DDAVP (0,3 µg/kgKG als Kurzinfusion) bei erworbenem Willebrand-Syndrom, d. h. einer Thrombozytenfunktionsstörung infolge von Hypothermie, Acidämie und/oder bestimmten Krankheiten (Klappenvitien, myeloproliferativ, autoimmun, Anschluss an extrakorporale Membranoxygenierung [ECMO], Herz-Lungen-Maschine [HLM], Anlage von „ventricular assist devices“) bzw. Medikamenten (z. B. Acetylsalicylsäure [ASS], Zyklooxygenase-1[COX-1]-Inhibitoren, Antibiotika, Valproat, Clopidogrel, Ticagrelor) appliziert werden [18, 40, 60].

Für die Substitution des Faktor XIII fehlen große Studien; bei starken Blutungen sollte die Konzentration >60 % betragen [87].

Thromboseprophylaxe

Intensivbehandlungspatienten werden in der AWMF-S3-Leitlinie „Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE)“ [88] fast ausnahmslos der Hochrisikogruppe zugeordnet. Massivtransfusionen erhöhen das Thromboembolierisiko weiter. Innerhalb von 24 h nach Blutungsstopp soll daher über Art und Beginn der Thromboseprophylaxe entschieden werden [18]. Bei Kontraindikationen gegen eine medikamentöse VTE-Prophylaxe sollten physikalische Maßnahmen, bevorzugt intermittierende pneumatische Kompression (IPK), eingesetzt werden [88]. Sowohl die Vorhersage als auch die Diagnose von hyperkoablen Zuständen oder tiefen Venenthrombosen (TVT) ist mithilfe von VET möglich und für das ROTEM vielfach beschrieben [89, 90, 91].