Flüssigkeitsmanagement ist nicht nur in der perioperativen Anästhesiologie und Intensivmedizin ein zentrales Element ärztlichen Handelns. Das Thema ist hochaktuell [69] und entsprechende Übersichtsarbeiten und Stellungnahmen erscheinen in großer Anzahl in den nationalen und internationalen Fachzeitschriften [5, 11, 14, 17, 19, 23, 29, 31, 41, 44, 45, 53, 54, 55, 56, 57, 77, 78, 91, 95, 96, 97, 101, 110, 116, 121, 122, 126, 130, 131, 138, 151, 155, 156, 168, 169]. Während bezüglich der Zusammensetzung eines idealen Kristalloids, zumindest theoretisch, zunehmend Klarheit herrscht [33, 102, 128, 133, 134, 167, 176], findet v. a. im amerikanischen Raum hinsichtlich des adäquaten Ersatzes akuter Blutverluste nach wie vor eine Kristalloid-Kolloid-Debatte statt [11, 23, 81], und auch die Frage nach dem idealen Kolloid ist zu diesem Zeitpunkt kaum abschließend zu klären [38, 138].

Veränderungen des Blutvolumens lassen sich perioperativ nur indirekt abschätzen, z. B. über Veränderungen des zentralen Venendrucks, des arteriellen Blutdrucks oder der Herzfrequenz. Dies ist insbesondere deshalb ungünstig, weil neben den messbaren (Blutverlust und Urinausscheidung) auch okkulte, also normalerweise nicht wahrnehmbare, Flüssigkeitsverluste in erheblichem Ausmaß auftreten können.

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dem Leser einen Überblick über die wichtigsten Daten zu Ausgangswerten und Störgrößen des perioperativen Volumenstatus zu vermitteln.

Die Frage nach der perioperativ zu infundierenden Menge an Kristalloid und Kolloid wird im anästhesiologischen Alltag mangels valider Daten meist individuell beantwortet, eine klinikübergreifende Standardisierung gibt es nicht. Trotzdem ist das perioperative Flüssigkeitsregime heute insgesamt eher liberal, unterstützt durch zahlreiche Empfehlungen in wissenschaftlichen Publikationen und Lehrbüchern (Tab. 1; [102, 141, 151]).

Tab. 1 Exemplarische Aussagen aus Lehrbüchern und Übersichtsarbeiten

Das liberale Infusionsregime als Status quo in deutschen Operationssälen

Die i.v.-Applikation eines Flüssigkeitsbolus vor Induktion einer Allgemeinanästhesie und/oder Bestückung eines Periduralkatheters wird von vielen Autoren als Standard empfohlen [26, 98, 111, 120]. Ziel ist es, ein extrazelluläres Flüssigkeitsdefizit auszugleichen, das während der präoperativen Nüchternzeit durch Urinproduktion und Flüssigkeitsverluste über Haut und Atemwege, auch bekannt als Perspiratio insensibilis, entstanden ist. Durch eine moderate Überkorrektur, also eine Vergrößerung des intravasalen Blutvolumens über den Normalwert hinaus, wird das kardiozirkulatorische System des Patienten in die Lage versetzt, eine durch Induktion von Regional- und/oder Allgemeinanästhesie zu erwartende Vasodilatation zu kompensieren, ohne auf medikamentöse Therapie durch Katecholamine zurückgreifen zu müssen. Zudem ist mittlerweile bekannt, dass eine präoperative Volumenexpansion in der Lage ist, das postoperative Befinden signifikant zu verbessern [57, 96, 97]. Auch während des Eingriffes, insbesondere während Laparotomien, werden für erwachsene Routinepatienten kristalloide Infusionsraten von einem Liter pro Stunde und mehr empfohlen [14, 15, 19, 29, 42, 85, 150, 151, 168]. Dieses Vorgehen dient dazu, eine proportional zur Dimension der Wundfläche steigende Evaporation als Hauptstörgröße des Flüssigkeitshaushaltes zu kompensieren. Auch klinisch bestätigt sich dies regelmäßig: oftmals sind erst große, intravenös applizierte Flüssigkeitsmengen in der Lage, eine Normotonie ohne den Einsatz von Katecholaminen zu gewährleisten. Vasopressoren werden in dieser Situation als Gefahr für die Niere, als „Messwertkosmetik“ bei klinisch manifester Hypovolämie verstanden und daher nach Möglichkeit vermieden [149]. Der vermutete Shift in den Dritten Raum wird durch eine Erhöhung des kristalloiden Infusionsvolumens beantwortet [110]. Die Niere profitiert offensichtlich von einer eher liberalen Flüssigkeitstherapie [110, 127].

Die präoperative hypervoläme Hämodilution („volume loading“) ist eine anerkannte ärztliche Maßnahme zur Reduktion der Rate an homologen Fremdbluttransfusionen [99]. Durch eine Vergrößerung des Plasmavolumens wird die Konzentration der roten Blutzellen im Kreislauf gesenkt, um im Falle einer intraoperativen Blutung den Nettoverlust an Sauerstoffträgern zu reduzieren [36, 145, 172]. Aufgrund des geringen Aufwandes und des fehlenden Risikos einer Konservenverwechslung oder -kontamination wird sie von manchen Autoren gegenüber der akuten normovolämen Hämodilution im Vorteil gesehen [99]. Letztere schützt die Ressourcen des Patienten vor Verlusten infolge chirurgischer Blutung durch die vorübergehende „Auslagerung“ von Vollblut in spezielle Beutelsysteme (im Austausch gegen Infusionslösungen). Das entnommene Blut wird in der Regel am Ende der Operation retransfundiert.

Der theoretische Unterbau der aktuellen Infusionspraxis kann wie folgt zusammengefasst werden:

  1. 1.

    Der Routinepatient kommt häufig mit einer relevanten intravasalen Hypovolämie zur Narkoseeinleitung [87, 94, 100, 151].

  2. 2.

    Ein Flüssigkeitsbolus kann das intravasale Blutvolumen auf übernormale Werte anheben [92, 99].

  3. 3.

    Die Perspiratio insensibilis steigt gegenüber der Basalrate während der Eröffnung großer Körperhöhlen stark an [87, 94, 100, 151].

  4. 4.

    Die Flüssigkeitsverschiebung in den Dritten Raum tritt inkonstant auf, eine wirksame Prävention ist nicht möglich. Ursächlich sind operatives Trauma [154] und Narkose [39]. Es scheint ein Zusammenhang mit der Größe des Eingriffes zu bestehen [137]. Diese Flüssigkeitsverschiebung ist nahezu proteinfrei [141], adäquater Ersatz ist isotone Elektrolytlösung [100].

  5. 5.

    Die Applikation von Katecholaminen ist eher ungünstig und sollte nur dann erfolgen, wenn eine Volumengabe nicht in der Lage ist, den Blutdruck zu stabilisieren. Katecholamine können den nutritiven Blutfluss der Organe gefährden [39, 149].

Erste Zweifel

In den letzten Jahren wurden mehrere Studien publiziert, in denen es im Zusammenhang mit einer übermäßigen Volumenzufuhr zu einer Steigerung der perioperativen Komplikationsrate kam. Im Vordergrund standen negative Auswirkungen auf die kardiopulmonalen Funktionen [17, 24, 28, 52, 58, 114]. Aber auch eine Reduktion der Darmmotilität, Anastomoseninsuffizienzen, Wundheilungsstörungen und Gerinnungsprobleme wurden beobachtet [17, 21, 58, 73, 122, 126, 171]. Dadurch entstand eine zunehmende Unsicherheit. Einerseits hat jeder Anästhesist großes Interesse am operativen Gesamtergebnis. Andererseits aber sieht er sich vorrangig in der Pflicht, perioperativ möglichst physiologische Verhältnisse während der unphysiologischen Rahmenbedingung Narkose aufrechtzuerhalten.

Doch was sind diesbezüglich „physiologische Verhältnisse“? Wie viel Flüssigkeit verdampft ein menschlicher Körper unter Normalbedingungen und wie viel intraoperativ? Wie hoch sind die okkulten, also in der Regel nicht erfassbaren, perioperativen Flüssigkeitsverluste tatsächlich? Wie setzt sich diese verlorene Flüssigkeit genau zusammen und wohin verschwindet sie? Warum kann sie die vaskuläre Barriere passieren?

In der vorliegenden Abhandlung sollen diese wichtigen Fragen grundlegend beleuchtet und nach aktuellem Kenntnisstand, soweit möglich, beantwortet werden. Ziel ist die Erstellung einer realistischen perioperativen Flüssigkeitsbilanz als entscheidende Grundlage eines optimierten Infusionsregimes.

Perioperative Pathophysiologie I

Flüssigkeitsräume und chirurgischer Stress

Der Körper besteht zu 60% aus Wasser. Das entspricht beim normalgewichtigen Erwachsenen ca. 45 l, ein Drittel davon befindet sich im Extrazellulärrum [45]. Die quantitativen Veränderungen des Extrazellulärraumes im Kontext chirurgischer Interventionen werden nach wie vor nicht einheitlich beurteilt. Trotzdem sind derzeit gängige Infusionsregime geprägt von der Vorstellung, ein akzidentielles oder chirurgisches Trauma würde als pathophysiologische Noxe zu relevanten Flüssigkeitsverlusten aus dem „nutzbaren“ Extrazellulärvolumen in den Dritten Raum führen. Als für den Kreislauf potentiell nutzbar sind der interstitielle und der intravasale Flüssigkeitsraum bezeichnet worden, die Kompartimente also, die mit dem Intrazellulärraum im Gleichgewicht stehen. Der Flüssigkeitsverlust in den Dritten Raum wurde als von der Flüssigkeitssubstitution unabhängige, primäre Störgröße angesehen, deren Ausmaß proportional zur Größe des Eingriffes oder Traumas zunimmt [152, 154]. Erklärt wurde dieser Verlust überwiegend durch Sequestration in das traumatisierte Gewebe. Ein großzügiger Ersatz dieser verlorenen Flüssigkeit durch kristalloide Infusionslösungen erschien indiziert [139, 153, 154]. Allerdings gibt es auch viele Hinweise darauf, dass sich das nutzbare Extrazellulärvolumen perioperativ primär nicht verändert [46, 82, 106, 164], z. T. sogar zunimmt [25, 142], und dass ein Zusammenhang zwischen einer extrazellulären Volumenexpansion und dem Infusionsregime besteht [107, 142]. Welche pathophysiologischen Abläufe liegen diesen Beobachtungen zugrunde?

Endokrinologische Antwort auf chirurgischen Stress

In der Regel beantwortet der Körper chirurgischen Stress mit einer Kombination aus entzündlicher und endokriner Reaktion [32, 58, 170], die im Wesentlichen das Ziel hat, die Volumina der verschiedenen Flüssigkeitsräume des Körpers zu erhalten.

Unter chirurgischem Stress versucht der Organismus, die Volumina seiner Flüssigkeitskompartimente zu erhalten

Eine gesteigerte Sekretion von Aldosteron sowie eine Aktivierung des Renin-Angiotensin-II-Systems führen zwar zu einem Kaliumverlust, gleichzeitig jedoch zu einer Retention von Natrium und Wasser. Die vermehrte Aktivität des antidiuretischen Hormons (ADH) bewirkt zusätzlich eine gesteigerte Wasserreabsorption im Sammelrohr der Niere und führt so zu einer postoperativen Abnahme der Diurese [32, 170]. Entzündungsmediatoren wie Interleukin 6, Bradykinin oder Substanz P erhöhen die Kapillarpermeabilität [72]. Damit ist die Abnahme der Diurese während Narkose und Operation ein durchaus sinnvolles physiologisches Ereignis.

Endokrine Antwort auf Hypervolämie

Während die Auswirkungen des chirurgischen Stresses auf den Plasmaspiegel des atrialen natriuretischen Peptides (ANP) nicht ganz klar sind, ist unbestritten, dass dieses Peptid unter akuter Volumenlast verstärkt freigesetzt wird [74, 90, 148, 174]. Es bewirkt eine Erhöhung der Natrium- und Wasserexkretion über die Niere [90, 105, 174]. Experimentelle Daten weisen außerdem darauf hin, dass ANP eine Alteration der vaskulären Barrierefunktion bewirken kann und zu einer gesteigerten Extravasation von Flüssigkeit und Protein führt [18, 61, 133, 161]. Bei gesunden Probanden konnte die Plasmaproteinfiltration aus dem Gefäßbett durch einen intravasal applizierten Kolloidbolus erheblich gesteigert werden [115]. Zusätzlich vermindern intravasale Flüssigkeitsboli die Sekretion von ADH und Aldosteron, die Inhibierung des Renin-Angiotensin-II-Systems scheint ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Ausscheidung überschüssiger Volumina zu spielen [3, 4, 65]. ANP wirkt auf die Sekretion dieser Hormone zusätzlich hemmend, so dass ihm eine zentrale Rolle im Rahmen der physiologischen Antwort auf akute Volumenbelastungen zugeschrieben werden kann [105].

Flüssigkeitsbelastung interferiert mit der physiologischen Reaktion auf chirurgischen Stress

Flüssigkeitsbelastung greift somit stark und in nur schwer vorhersagbarer Weise in die hormonellen Reaktionen des Körpers auf chirurgischen Stress ein. Insgesamt sind tendenziell eine Verminderung der stressbedingten Natrium- und Flüssigkeitsretention sowie eine erhöhte Kapillarpermeabilität zu verzeichnen.

Die Zielgröße der perioperativen Volumentherapie

Wie bei jeder anderen medizinischen Therapie auch, ist es bei der perioperativen Infusionstherapie unabdingbar, sich zunächst die Zielstellung zu vergegenwärtigen. Idealerweise möchte man bei einem primär normovolämen Patienten mit unverändertem Gefäßtonus und Herzzeitvolumen die perioperativ auftretenden Flüssigkeitsverluste so adäquat wie möglich ersetzen. Nach Induktion von Allgemein- oder Regionalanästhesie nimmt der Gefäßtonus durch periphere Vasodilatation und Stressrückgang in der Regel ab, was zu einem Blutdruckabfall führt, der als relative Hypovolämie interpretiert wird. Um diesen pathophysiologischen Status zu therapieren, kann man entweder den Gefäßtonus mittels Vasopressoren steigern oder durch Volumenzufuhr das dilatierte Gefäßsystem auffüllen. In der Praxis wird meist der Volumengabe der Vorzug gegeben, um einen adäquaten mittleren arteriellen Blutdruck herzustellen. Der Einsatz von Vasopressoren wird nach Möglichkeit vermieden. Wenngleich sich die extrazellulären Flüssigkeitsräume des Körpers natürlich in hohem Maße gegenseitig beeinflussen und auch austauschen, so ist es das primäre Ziel des Anästhesiologen, eine intravasale Hypovolämie zu vermeiden oder, wenn nötig, zu beheben. Auch eine Überkorrektur kommt in Frage, um ein adäquates Herzzeitvolumen zu gewährleisten.

Die Zielgröße der perioperativen Infusionstherapie ist das Blutvolumen

Leider kann die Zielgröße Blutvolumen im Routinebetrieb nicht direkt gemessen werden und steht in dynamischem Austausch mit dem Rest des Extrazellulärraumes – dem Interstitium. Die Double-label-Blutvolumenmessung ist zwar prinzipiell als derzeitiger Goldstandard etabliert [70, 71, 130, 131], bleibt aber aufgrund des großen personellen und apparativen Aufwands derzeit noch wissenschaftlichen Fragenstellungen vorbehalten. Einfachere Alternativen, wie z. B. die Puls-Densitometrie nach Farbinjektion, konnten sich aufgrund zweifelhafter Validität nicht durchsetzen [10, 43, 62, 63, 64]. Dem Kliniker bleibt derzeit also nur die Quantifizierung des Volumenverlustes bzw., wo diese nicht möglich ist, seine ungefähre Abschätzung. Die daraus erstellte Bilanz ergibt das geschätzte extrazelluläre Defizit, das er mit einer möglichst adäquaten Substitutionstherapie beantworten möchte. Da der Kliniker über keinen direkten Zugang zum Interstitium verfügt, muss er auch beim Ersatz von Verlusten aus diesem Kompartiment den Weg über den Intravasalraum wählen. Dies ist jedoch nicht unproblematisch, wie im Weiteren noch ausführlich dargelegt wird.

Die korrekte Bilanz – der Schlüssel zum Erfolg

Perioperative Flüssigkeitsverluste bestehen aus

  • Urinproduktion,

  • Wasserdampfverlust (Perspiratio insensibilis) über intakte Haut und Atemwege und Wundflächen,

  • Blutverlust und

  • Flüssigkeitsverschiebung in den Dritten Raum.

Das präoperative Defizit, mit dem der Patient bereits zur Narkoseeinleitung kommt, entsteht während der Nüchternzeit aus Urinproduktion und Wasserdampfverlust über Haut und Atemwege, das intraoperative Defizit aus allen oben genannten Komponenten.

Leider können lediglich zwei dieser Größen – die Urinmenge und der Blutverlust – direkt gemessen werden, wenngleich die Abschätzung des Letzteren (Blutverlust auf den Boden, in Tücher usw.) z. T. mit erheblichen Einschränkungen verbunden ist [131, 132]. Trotzdem ist die Bilanzierung dieser zwei Größen kein prinzipielles Problem und soll im Rahmen dieser Arbeit nicht näher behandelt werden.

Die anderen Größen jedoch, die Perspiratio insensibilis und der nur inkonstant auftretende Flüssigkeitsshift in den Dritten Raum, können im klinischen Alltag überhaupt nicht quantifiziert werden. Man ist hier auf reine Schätzungen angewiesen, unterstützt durch Formeln aus Lehrbüchern [87, 100]. Diese Bücher jedoch lassen oft die zugrunde liegenden Quellen vermissen. Im Folgenden sollen diese beiden nur schwer fassbaren Einflussfaktoren der perioperativen Flüssigkeitsbalance eingehend beleuchtet werden.

Komponenten des insensiblen Verlustes I: Die Perspiratio insensibilis

Übersetzt bedeutet dieser lateinische Ausdruck „nicht spürbare Ausdünstung“. Der menschliche Körper verliert permanent und unmerklich Wasserdampf über die intakte Haut und die Atemwege. Bei akzidentieller oder iatrogener Verletzung kommt noch die Evaporation über die entstandene Wundfläche bei zerstörter Hautbarriere hinzu. Schweiß ist zwar nicht insensibel, kann jedoch quantitativ ebenfalls zur Perspiratio insensibilis gerechnet werden, denn auch er steht dem Extrazellulärraum nicht mehr zur Verfügung, wenn er auf der Körperoberfläche erscheint.

Lehrbuchwissen und Common knowledge

Die Perspiratio insensibilis wird in den Lehrbüchern, die sich mit der Infusionstherapie beschäftigen, eingehend behandelt und als eine der Hauptdeterminanten des perioperativen Flüssigkeitsverlustes angesehen [87, 141]. Zur Menge der evaporierten Flüssigkeit kann man viele sehr unterschiedliche Angaben finden. Ein aktuelles, deutschsprachiges Standardwerk der Anästhesiologie spricht von einer Basalrate von 0,5 ml/kg/h (etwa 1 l pro 24 h), die sich bis auf 300 ml/h (7,5 l pro 24 h) bei großen operativen Eingriffen vergrößern kann [141]. Ein etwas älteres Buch postuliert in Extremfällen bis zu 40 l pro Tag [119]. Auch das gestaffelte Schema für kleine, mittlere und große Eingriffe (zusätzlich zur Basalrate von 2 ml/kg/h kommen 4, 6 bzw. 8 ml/kg/h hinzu, also bis zu 800 ml/h) kann einem renommierten Lehrbuch entnommen werden [87].

Diese Lehrbuchaussagen wirken sich natürlich entscheidend auf das gängige präoperative Vorgehen aus. Noch vor Narkoseinduktion wird die Infusion eines Kristalloidbolus von 1000–1500 ml empfohlen [55, 97], um das während der Nüchternzeit aus Urinverlust und Perspiratio insensibilis entstandene präoperative Defizit des Extrazellulärraumes auszugleichen. Ziel ist die Korrektur einer durch Vasokonstriktion maskierten intravasalen Hypovolämie. Wenn bei Narkoseeinleitung dieser Kompensationsmechanismus versagt, droht ansonsten eine manifeste Hypotonie. Während dieses als Hypovolämie-Symptom interpretierten Blutdruckabfalls wird primär Volumenzufuhr anstelle der Applikation von Katecholaminen empfohlen [26, 98, 111].

Aber auch das intraoperative Vorgehen wird nachhaltig vom oben dargestellten Lehrbuchwissen beeinflusst. Zur Vermeidung eines Volumendefizits mit Katecholaminpflichtigkeit und konsekutiver Gefährdung des nutritiven Blutflusses der Organe [149] wird nicht selten die vor allem während großer abdominaler Eingriffe erwartete immense Evaporation von elektrolytfreier Flüssigkeit großzügig und antizipatorisch substituiert. Ein nierenstimulierender Effekt wird dankbar in Kauf genommen und dient als weiteres Argument für eine eher liberale Infusionstherapie. Man setzt hierbei voraus, dass der Kreislauf des Gesunden überschüssiges Wasser problemlos über die Niere ausscheidet. Mittel der Wahl sind Kristalloide, z. T. wurden auch Halbelektrolytlösungen empfohlen [94, 147], da rational betrachtet nur elektrolytfreies Wasser verdampfen kann.

Wissenschaftlich gesicherte Originaldaten

Während zahlreiche, auch aktuelle Daten zur Perspiratio insensibilis bei Kindern oder Brandverletzten vorliegen [50, 86], sind die meisten Arbeiten zur Flüssigkeitsevaporation des erwachsenen Normalpatienten mehr als 20 Jahre alt [8, 9, 53, 60, 143, 166]. Offensichtlich gilt dieses Wissensgebiet seit langer Zeit als zufriedenstellend erforscht. Die Studien sind zwar alt, aber korrekt durchgeführt, die Daten klar und unzweifelhaft und die Ergebnisse eindeutig. Sie widersprechen allerdings den oben zusammengestellten Lehrbuchmeinungen in vielen Punkten eindrucksvoll und müssen daher dringend vor dem Vergessen bewahrt werden.

Die Daten zur Perspiratio insensibilis gliedern sich in Daten zur Evaporation

  1. 1.

    über die intakte Haut und die Atemwege des gesunden Erwachsenen,

  2. 2.

    während Allgemeinanästhesie,

  3. 3.

    über Wundflächen.

Erhoben wurden sie auf zwei verschiedene Arten:

Im Rahmen der indirekten Bilanzierung wurde der Patient bzw. Proband zu Beginn und am Ende des Beobachtungszeitraumes gewogen und die zwischenzeitlich zu- und abgeführte Flüssigkeit bilanziert. Aus der Differenz wurde die Perspiratio insensibilis errechnet. Diese Methode scheint ausreichend genau zu sein, wenn es um die Evaporation von Flüssigkeit beim wachen Patienten bzw. Probanden geht. Eine Quantifizierung der Perspiratio insensibilis während chirurgischer Interventionen erscheint mit dieser Methode jedoch problematisch, weil sie mit großen Unschärfen behaftet ist (Blutverluste auf den Boden, Flüssigkeitsverluste in Tücher usw.).

Die direkte Messung diente v. a. der Quantifizierung einer Evaporation über offene Wundflächen. Eine Messkammer mit Humiditätssensor wurde direkt über dem zu untersuchenden Körperareal platziert. Nach entsprechender Kalibration konnte über die Zunahme der Luftfeuchtigkeit pro Zeiteinheit die aus dem Areal verdampfte Flüssigkeitsmenge direkt gemessen werden.

Durch diese Messmethoden wurden folgende Erkenntnisse gewonnen:

Prinzipiell üben sowohl sichtbare Schweißproduktion als auch Luft- und Körpertemperatur einen gleichsinnigen Einfluss auf die Höhe der Perspiratio insensibilis aus [83]. Auch ein hoher Hydratationsgrad steigert die Flüssigkeitsevaporation [8, 53]. Umgekehrt kann bei niedriger Hydratation die automatische Erniedrigung der Perspiratio insensibilis als Schutzreaktion des Körpers interpretiert werden [8]. Eine inverse Korrelation mit der Perspiratio insensibilis konnte für die Luftfeuchtigkeit gezeigt werden. Keinen Einfluss hatten Geschlecht, Alter und Körpergewicht [34, 35]. Rein physikalisch betrachtet sind dies keine großen Überraschungen. Abgemildert wird der Nettoverlust an Flüssigkeit durch das im Organismus während des aeroben Stoffwechsels permanent anfallende Oxidationswasser von etwa 0,2 ml/kg/h [40, 141]. Im Folgenden sollen die gesicherten quantitativen Erkenntnisse hinsichtlich der Perspiratio insensibilis für drei perioperative Standardsituationen konkret beleuchtet werden.

Standardsituation 1: Der wache Erwachsene mit intakter Hautbarriere

Die Literatur hierzu ist reich an Daten, die hauptsächlich durch Bilanzierung gewonnen wurden. Studien aus den gemäßigten Breiten [8, 113, 140, 160] registrieren eine Basalrate im „steady state“ von etwa 1 l pro 24 h (30 ml/m2 Körperoberfläche (KOF)/h oder 0,5–0,7 ml/kg/h). In Studien aus den Tropen [6, 35, 159] vergrößert sich zwar der Streubereich der Angaben (bis zu 4 l pro 24 h), aber auch im feucht-warmen Klima wurden Werte unter 1 l pro 24 h beobachtet. Scheinbar limitiert die hohe relative Luftfeuchte die Flüssigkeitsevaporation infolge der höheren Lufttemperatur. Griechische Forscher [34] fanden eine dem warmen, trockenen südlichen Klima angemessene, leicht erhöhte Basalrate von etwa 1500 ml/24 h (etwa 37 ml/m2 KOF/h oder 0,9 ml/kg/h). Insgesamt bestätigen die Originaldaten viele Lehrbuchangaben zur Basalrate: der gesunde Mensch mit intakter Hautbarriere verliert in der gemäßigten Klimazone etwa 0,5 ml/kg/h oder 1 l pro 24 h durch Verdampfung über die intakte Haut und die Atemwege.

Internistisch gesunde Erwachsene verlieren im Wachzustand etwa 0,5 ml/kg/h als Perspiratio insensibilis

Dies hat rechnerisch folgende Konsequenzen für das präoperative Defizit:

Während einer Nüchternzeit von 6 bis 8 h entsteht über die Perspiratio insensibilis im Extrazellulärraum (EZR, gesamt etwa 15 l) ein Defizit von weniger als 300 ml. Die Urinausscheidung beträgt während dieses Zeitraumes etwa 400 ml [87], so dass am Ende einer Nüchternzeit von 8 h im EZR ein Defizit von 700 ml bzw. 5% besteht. Bezogen auf den Anteil des Plasmavolumens am gesamten EZR errechnet sich daraus ein vernachlässigbares, nüchternheitsbedingtes intravasales Defizit von lediglich rund 100 ml.

Internistisch gesunde Erwachsene haben auch nach 8 h Nüchternheit in der Regel kein intravasales und kein relevantes extrazelluläres Defizit

Direkte Messungen der Ausgangsblutvolumina verschiedener Kollektive konnten sogar zeigen, dass internistisch gesunde Routinepatienten (ASA I-II), die sich einem großen Abdominaleingriff unterziehen mussten, nach mehr als 8 h Nüchternzeit mit einem hochnormalen Ausgangsblutvolumen im Operationssaal eintrafen (Abb. 1; [71, 117, 130, 131]).

Abb. 1
figure 1

Die simultane, direkte Messung beider Komponenten des Blutvolumens (Erythrozyten- und Plasmavolumen) zeigte in mehreren Studien, dass der internistisch gesunde, erwachsene Routinepatient nach 8 h Nüchternheit in der Regel mit einem hochnormalen Ausgangsblutvolumen zur Narkoseeinleitung kommt

Standardsituation 2: Der Mensch in Narkose ohne Trauma

Auch in Narkose wird permanent Wasserdampf über die zwei bereits beschriebenen Wege verloren: über die intakte Haut und über die Atemwege. Theoretisch sollte man während Allgemeinanästhesie eine gegenüber dem Wachzustand verringerte Perspiratio insensibilis erwarten, bedingt durch eine erniedrigte Stoffwechselleistung und eine i. d. R. erniedrigte Raum- und konsekutiv zumindest leicht erniedrigte Körpertemperatur [40].

Die Perspiratio insensibilis ist während Allgemeinanästhesie geringer als im Wachzustand

Diese theoretischen Annahmen konnten direkte Messungen in der Exspirationsluft und über repräsentativen Körperarealen von Patienten vor Operationen bestätigen. Der erwachsene Mensch verliert in Narkose während Beatmung durch ein Nichtrückatmungssystem jeweils etwa 10 ml/m2 KOF/h über die intakte Haut und über die Atemwege, also insgesamt 20 ml/m2 KOF/h [136] und damit etwas weniger als der wache Proband (s. oben). Bei Verwendung der heute in Deutschland gebräuchlichen, modernen Rückatmungssysteme kann man daher davon ausgehen, dass die Perspiratio insensibilis in Narkose gegenüber dem Wachzustand deutlich erniedrigt ist.

Standardsituation 3: Der Mensch in Narkose mit chirurgischem Trauma

Die Zerstörung der Hautbarriere, insbesondere bei großen abdominalen Eingriffen, ist bei vielen Anästhesisten geradezu berüchtigt. Sie glauben, dass die Perspiratio insensibilis unter diesen Bedingungen extrem ansteigt. Und tatsächlich wurde bereits 1932 von einer perioperativ drastisch gesteigerten Flüssigkeitsevaporation berichtet [27]. Mittlerweile wurde jedoch erkannt, dass eine intraoperative Ermittlung der Perspiratio insensibilis durch Bilanzierung, wie sie in dieser alten Arbeit zur Anwendung kam, relativ ungenau sein dürfte [12]. Es schien daher umso bedeutsamer, sich hier nur auf direkte Messungen zu verlassen. Solche förderten im Jahre 1977 Erstaunliches zutage. Die maximale Eventeration führt zu einer zusätzlichen Evaporation von 0,5 ml/kg/h [84]. Der gefürchtete chirurgische „worst case“ steigert die basale Perspiratio insensibilis also lediglich auf insgesamt rund 70 ml/h. Die als Wasserdampf verlorene Flüssigkeitsmenge ist in diesen Fällen also um mehrere Größenordnungen vom Common knowledge entfernt! Tierexperimentell konnte gezeigt werden, dass die Perspiratio insensibilis über den eventerierten Darm innerhalb von 20 min auf 50% des Initialwertes sinkt [84].

Die Perspiratio insensibilis des normalgewichtigen gesunden Erwachsenen liegt also auch während großer Baucheingriffe unter 100 ml/h.

Diese Erkenntnis wirft jedoch viele weitere Fragen auf. Wie kann man sie mit der alltäglichen klinischen Erfahrung vereinbaren, die oftmals zeigt, dass auch große Kristalloidmengen nicht in der Lage sind, eine klinisch manifeste Hypovolämie zu verhindern, geschweige denn zu therapieren? Wohin verschwinden diese großen Mengen an Wasser, wenn sie offensichtlich nicht verdampfen? Sind sie tatsächlich im Körper verblieben? Kann dieses Phänomen allein mit der Verschiebung in den Dritten Raum erklärt werden? Dabei stellt sich eine ganz grundlegende Frage: Was genau ist eigentlich der Dritte Raum?

Komponenten des insensiblen Verlustes II: Verluste in den sog. Dritten Raum

Lehrbuchwissen und Common knowledge

Der Dritte Raum war und ist Gegenstand vieler Spekulationen. So wurde er als Flüssigkeitskompartiment bezeichnet, das weder zum funktionellen Extrazellulärraum noch zum Intrazellulärraum gehört [119]. Obwohl man diesen Raum mit Indikatorverdünnung identifiziert zu haben glaubte, ist man sich bis heute nicht sicher, ob er wirklich existiert [119]. Auch als sequestrierte, „transzelluläre“ Flüssigkeitsansammlung wurde der „third space“ beschrieben, die sich jeglichen Regulationsmechanismen des Wasser- und Elektrolythaushaltes entziehe. Neben Ödemen sollen hierzu noch Sekrete des Magen-Darm-Traktes und Urin sowie die quantitativ zu vernachlässigenden inneren und äußeren Liquorräume und das Augenkammerwasser gehören [125]. Laut einem neueren Lehrbuch [141] kommt es besonders bei Gewebetraumatisierung zur Flüssigkeitsverschiebung in den Dritten Raum mit Ausbildung eines interstitiellen Ödems. Auch eine Unterteilung in einen anatomischen und einen nicht-anatomischen Anteil wurde bereits vorgenommen [20, 21]. Die Zusammensetzung der in den Dritten Raum sequestrierten Flüssigkeit entspricht nach Lehrbuchmeinung dem der Extrazellulärflüssigkeit und sollte daher durch Infusion einer isotonen Kochsalzlösung ersetzt werden [141].

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der Dritte Raum bis heute nicht exakt definiert ist. Es handelt sich um einen historischen Ausdruck für ein variabel großes, letztlich unidentifiziertes Kompartiment, dem Flüssigkeitsverschiebungen zugeordnet werden, die man sich anders nicht erklären kann. Es gibt bislang keinen stichhaltigen Beweis für seine Existenz, so dass derzeit davon auszugehen ist, dass der Großteil der perioperativ in den Dritten Raum verlorenen Flüssigkeit in das Interstitium verschoben wird.

Verschiebung in das Interstitium – quantitative Originaldaten

Während großer Operationen scheint das Interstitium Flüssigkeitsmengen zwischen 3 und 6 l aufzunehmen, wie Studien durch Wiegen von Patienten vor und nach solchen Eingriffen ermittelt haben [17, 30, 91, 118]. Auch direkte Blutvolumenmessungen zeigten übereinstimmende Resultate: Am Ende großer gynäkologischer Baucheingriffe wies die perioperative Flüssigkeitsbilanz regelhaft einen Einfuhrüberschuss von rund 4 l auf, was relativ genau der Menge an perioperativ infundiertem Kristalloid entsprach (Abb. 2; [131]). Offensichtlich sind 4 l Flüssigkeit aus der Zirkulation verschwunden und belasten das Interstitium [131].

Die perioperativ in das Interstitium verschobene Flüssigkeit ist proteinhaltig

Darüber hinaus belegten mehrere Arbeiten, dass dieser Shift nicht zufriedenstellend durch einfache Flüssigkeitsbilanzen zu beschreiben ist [127, 173]. So existieren Hinweise darauf, dass auch Proteine in quantitativ relevanten Mengen den Intravasalraum verlassen [7, 129], wenngleich dies mit den herkömmlichen Vorstellungen zur intakten vaskulären Barriere nur schwer vereinbar scheint. Durch Proteinbilanzen konnte schließlich gezeigt werden, dass während großer Baucheingriffe zur Behandlung gynäkologischer Malignome mehr als ein Drittel des gesamten intravasalen Proteinpools die „intakte“ Gefäßwand passiert und zusammen mit 4 l Flüssigkeit als intraoperativer Proteinshift in das Interstitium verlagert wird (Abb. 3; [129]).

Der kolloidosmotische Druck des Interstitiums ist mit dem des Intravasalraums vergleichbar

Eine ganze Reihe experimenteller Arbeiten lieferten in den letzten Jahren zudem gute Hinweise darauf, dass das Interstitium eben nicht nur aus Wasser und Elektrolyten besteht, sondern dass es Proteinkonzentrationen aufweist, die nahe an die des Plasmas heranreichen [1, 18, 71, 130, 132, 133].

Abb. 2
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Medianer perioperativer Volumenstatus von 13 Patientinnen mit Ovarialkarzinom, die sich unter einem „Standardinfusionsregime“ (Kristalloid: 1 l/h, Kolloid: bei Blutverlust im Volumenverhältnis 1:1) in kurativer Absicht einer Laparotomie unterzogen. Durch die direkte Messung des Blutvolumens (Double-label-Technik) konnte ein perioperativer Flüssigkeitsshift von annähernd 4 l aus dem Gefäßsystem über die Barriere hinweg in Richtung Interstitium nachgewiesen werden. (Aus [129])

Abb. 3
figure 3

Mediane perioperative Proteinbilanz von 13 Patientinnen mit Ovarialkarzinom, die sich unter einem „Standardinfusionsregime“ (Kristalloid: 1 l/h, Kolloid: bei Blutverlust im Volumenverhältnis 1:1) in kurativer Absicht einer Laparotomie unterzogen. Durch die direkte Messung des Plasmavolumens (Indozyaningrün-Verdünnung) und der Plasmaproteinkonzentration konnte ein medianer Shift von etwa 70 g (mehr als 1/3 des gesamten intravasalen Pools) über die vaskuläre Barriere hinweg in Richtung Interstitium nachgewiesen werden. (Aus [129])

Wie sind diese Beobachtungen nun aber mit dem Starling-Prinzip [79, 146] vereinbar? Und unter welchen Bedingungen kommt es zu diesem Shift proteinhaltiger Flüssigkeit?

Perioperative Pathophysiologie II

Vom Starling-Prinzip zur endothelialen Glykokalyx

Die vaskuläre Barrierefunktion, so ist man sich bis heute weitgehend sicher, wird durch die Starling-Gleichung beschrieben (Abb. 4) [79, 146].

Abb. 4
figure 4

Die „klassische“ Formel nach Starling erklärt die vaskuläre Barrierefunktion über die Aufrechterhaltung eines kolloidosmotischen Gradienten zwischen dem intravasalen und dem interstitiellen Raum: Jv∕A=Lp×[(PG−PI)−σ×(πG−πI)] J v ∕A Filtrationsrate pro Fläche; L p hydraulische Leitfähigkeit der Gefäßwand; P G −P I hydrostatische Druckdifferenz zwischen dem Gefäßlumen [G] und dem Interstitium [I]; σ Reflektionskoeffizient, π G −π I onkotische Druckdifferenz zwischen dem Gefäßlumen und dem Interstitium

Dieses nach wie vor anerkannte Prinzip fordert einen ausgeprägten kolloidosmotischen Konzentrationsgradienten zwischen intra- und extravasal, um Wasser im Gefäßsystem zu binden. In den letzten Jahren mehrten sich jedoch Hinweise darauf, dass diese Gleichung nicht ganz korrekt sein kann. Wiederholt konnte experimentell gezeigt werden, dass die interstitielle Proteinkonzentration der intravasalen nahezu gleicht, die vaskuläre Barriere aber dennoch funktioniert [18, 68, 133]. Da hierdurch der von Starling geforderte kolloidosmotische Druckgradient nach intravasal praktisch wegfiele, würde aus diesem Befund eine theoretisch errechnete Nettofiltration in das Interstitium resultieren, welche die Kapazität des Lymphsystems bei weitem übersteigen würde und die auch nicht den tatsächlichen Verhältnissen in vivo entspricht [2, 59, 89]. Dieses „Low-lymph-flow-Paradox“ [89] deutete bereits vor mehreren Jahren an, dass das Staring-Prinzip nicht in der Lage ist, die vaskuläre Barrierefunktion zufriedenstellend zu beschreiben. Was aber könnte der Grund dafür sein, dass Flüssigkeit auch dann noch in den Gefäßen verbleibt, wenn sich intra- und extravasale onkotische Drucke angleichen [2, 59]? Wo liegt das Problem in der Starling-Gleichung?

Schon seit den 60er Jahren ist bekannt, dass die endotheliale Oberfläche von einer Glykokalyx bedeckt wird. Dabei handelt es sich um eine dünne Schicht aus Proteoglykanen und Glykosaminoglykanen, deren Bedeutung lange Zeit unbekannt war und aufgrund der elektronenmikroskopisch darstellbaren Dicke von weniger als 20 nm [93] lange Zeit auch kaum hinterfragt wurde. Mittlerweile ist jedoch bekannt, dass diese Struktur äußerst fragil ist und bei herkömmlicher Gewebefixierung bereits vor Durchführung der Elektronenmikroskopie nahezu vollständig zerstört wird. Eine moderne Markierungstechnik auf Lanthanbasis [18, 68, 133, 165] zeigte eine intakte endotheliale Glykokalyx, die sich mit einem Durchmesser von 400 nm teilweise dicker darstellte als die Endothelzelle selbst (Abb. 5). Dies erklärte auch erstmals zufriedenstellend die intravitalmikroskopische Beobachtung, dass Blutzellen selbst in den kleinsten Kapillaren praktisch nie die anatomische Gefäßwand berühren, sondern auf Distanz gehalten werden, ein in der Vergangenheit als rein physikalischer Fahreus-Effekt beschriebenes Phänomen [37]. Rehm et al. [133] stellten schließlich ihr auf experimentellen Befunden beruhendes „Double-barrier-Konzept“ vor. Nach diesem neuen Modell zur vaskulären Permeabilität stellen sich zwei kompetente Barrieren dem Ausstrom von Flüssigkeit und Kolloiden entgegen: die endotheliale Glykokalyx und die Endothelzelle selbst. Damit deutet sich an, dass in der Vergangenheit viele Untersuchungen zur vaskulären Barrierefunktion möglicherweise an insuffizienten (weil glykokalyxfreien) Modellen durchgeführt wurden (z.B. Endothelzellkulturen oder isolierte, postischämische Gefäßpräparate). Diese Studien hätten dann nur Erkenntnisse zur Endothelzellbarriere, aber keinerlei Einblicke in die physiologische Funktion der sehr fragilen endothelialen Glykokalyx geliefert [133]. Adamson et al. [2] konnten zwischen dem klassischen Starling-Prinzip und der auch von Ihnen beobachteten hohen interstitiellen Kolloidkonzentration vermitteln. Sie entdeckten einen kolloidosmotischen Konzentrationsgradienten als Träger der vaskulären Integrität, der sich nur zwischen Glykokalyx und dem schmalen Raum unter dieser Struktur ausbildet, bei nahezu gleicher Kolloidkonzentration in Gefäß und Interstitium. Unmittelbar unter der endothelialen Glykokalyx, aber noch lumenseitig der Gefäßwand, ist die Albuminkonzentration umso niedriger, je größer der effektive Filtrationsdruck ist. Die Glykokalyx stellt sich als Kolloidfilter den auswärts strömenden Proteinen entgegen und lädt sich dadurch immer weiter mit Kolloiden auf. Jacob et al. [68] beobachteten, dass nicht der kolloidosmotische Druck das Plasmas, sondern vielmehr die Art des intravasal verfügbaren Kolloids von Bedeutung für die Qualität der vaskulären Barrierefunktion ist. Sie integrierten die beschriebenen Befunde schließlich durch die Identifikation des „endothelial surface layer“ (ESL) als physiologische Wirkform der Glykokalyx zur Aufrechterhaltung des kolloidosmotischen Druckgradienten (Abb. 6; [67]). Die Gruppe konnte zeigen, dass erst eine mit geeigneten Kolloidmolekülen beladene endotheliale Glykokalyx in der Lage ist, als suffiziente Barriere gegen Extravasation zu wirken. Demnach dürfte auch ein gewisser Mindestplasmaspiegel an Albumin erforderlich sein, um einen funktionalen ESL, bestehend aus der endothelialen Glykokalyx und gebundenen Plasmaproteinen, zu erhalten [68]. Erst diese mit Albumin „aufgeladene“ Glykokalyx bildet, neben dem mechanischen Widerstand der Endothelzellen, die entscheidende Determinante der vaskulären Barriere gegen Extravasation [67].

Die endotheliale Glykokalyx baut sich mit Plasmaproteinen zum Endothelial surface layer auf

Die Starling-Gleichung ist daher nach diesen neuen Erkenntnissen nicht falsch, sie benötigt lediglich eine Modifizierung. Hierbei wird der real nicht vorhandene kolloidosmotische Konzentrationsgradient zwischen intravasal und interstitiell durch den Gradienten zwischen der Glykokalyx und dem schmalen Spalt darunter ersetzt (Abb. 6).

Abb. 5
figure 5

Die endotheliale Glykokalyx in der elektronenmikroskopischen Aufnahme, fixiert mit einer speziellen Technik auf Lanthanbasis [18, 67, 68, 132, 164]

Abb. 6
figure 6

Die „revidierte“ Formel nach Starling erklärt, warum nahezu gleiche kolloidosmotische Drücke in Gefäßlumen und Interstitium kein Widerspruch zu einer funktionierenden vaskulären Schranke sein müssen: der Gradient bildet sich lediglich über der endothelialen Glykokalyx aus. Jv∕A=Lp×[(PG−PI)−(πESL−πS)] J v ∕A Filtrationsrate pro Fläche; L p hydraulische Leitfähigkeit der Gefäßwand; P G −P I hydrostatische Druckdifferenz zwischen dem Gefäßlumen [G] und dem Interstitium [I]; π ESL onkotischer Druck innerhalb des Endothelial surface layer (ESL); π S onkotischer Druck unterhalb („sub“) des ESL

Durch den hydrostatischen Druckgradienten wird ein permanenter Plasma-Auswärtsstrom aufrechterhalten, der durch den Glykokalyxfilter weitgehend von Proteinen befreit wird. Dadurch wird die Glykokalyx mit Plasmaproteinen zum ESL aufgeladen, der schmale Spalt darunter jedoch bleibt weitgehend proteinfrei – der Gradient nach der „neuen“ Starling-Gleichung entsteht. Dieser Gradient ist somit auf eine physiologisch aktive endotheliale Glykokalyx angewiesen. Vieles spricht dafür, dass zwischen einem Flüssigkeits- und Proteinshift in den interstitiellen Raum und einer Alteration des ESL ein Zusammenhang besteht.

Der Endothelial surface layer ist eine wichtige Komponente der vaskulären Barriere

Der innnerhalb des ESL gebundene, nicht zirkulierende Anteil des Plasmavolumens des Menschen wurde durch Double-label-Messung mit etwa 400–700 ml quantifiziert [71, 131, 132]. Auch von einem Gesamtvolumen von mehr als 1500 ml unter Normalbedingungen wurde berichtet [109]. Bei einer gesamten endothelialen Oberfläche von rund 350 m2 [124] errechnet sich hieraus eine funktionelle Dicke des ESL von 1–2 μm [123]. Dadurch dürften zirkulierende Blutzellen (Erythrozyten, Leukozyten, Thrombozyten) im Normalfall kaum Kontakt zur endothelialen Zelloberfläche haben, auch Adhäsionsmoleküle von Endothelzellen (z.B. ICAM-1) liegen während physiologischer Verhältnisse weit unter dieser Schicht verborgen. Verschiedene pathophysiologische Bedingungen jedoch können den ESL alterieren. Identifiziert wurden bislang z. B. die Freisetzung von TNF-α, oxidierten Lipoproteinen oder anderen Entzündungsmediatoren. Auch Hyperglykämie kann hierzu beitragen [18, 51, 109]. So ist es nicht verwunderlich, dass z. B. während einer Sepsis die vaskuläre Barriere leidet und generalisierte Ödeme entstehen [16]. Ebenso wenig überrascht in diesem Kontext die Angiopathie im Rahmen eines Diabetes mellitus [108]. Aber auch für lokal ablaufende Entzündungsprozesse könnte die Funktionsweise der endothelialen Glykokalyx der entscheidende Schlüssel zum Verständnis vieler pathophysiologischer Abläufe sein. Werden Entzündungsmediatoren freigesetzt, könnte der Abbau der Glykokalyx dazu führen, dass Adhäsionsmoleküle für immunkompetente Zellen lokal oder sogar generalisiert zugänglich werden. Abgespaltene Heparansulfate wirken zusätzlich chemotaktisch auf Leukozyten [75] und erhöhen damit durch einen positiven Feedback-Mechanismus deren Präsenz am Ort der Inflammation. Ähnliches gilt für Thrombozyten. Bei Zerstörung der endothelialen Glykokalyx haben diese plötzlich „ungewohnten“ Kontakt zu den Endothelzellen. Dies führt zur Adhäsion [163]. So könnte die Zerstörung der Glykokalyx bei Sepsis oder Ischämie ein wesentlicher, vielleicht sogar der initiale Trigger für Leukozytenadhärenz, disseminierte intravasale Gerinnung (DIC) und Permeabilitätsstörung mit Ödementwicklung sein.

Die endotheliale Glykokalyx spielt womöglich eine zentrale Rolle bei der Entstehung lokaler und generalisierter Entzündungsreaktionen

Besonders interessant für die perioperative Situation ist das während Hypervolämie freigesetzte Hormon ANP, das neben seiner natrium- und wasserauscheidenden sowie vasodilatatorischen Funktion [120] offensichtlich noch eine weitere Eigenschaft besitzt, die die Integrität der Glykokalyx gefährdet. So konnte experimentell gezeigt werden, dass dieses Hormon auf derzeit noch ungeklärtem Wege in der Lage ist, die endotheliale Glykokalyx zu zerstören [18]. ANP ist damit für die Erklärung der Volumeneffekte von Infusionslösungen von höchster Bedeutung.

ANP bewirkt im Experiment die Zerstörung der endothelialen Glykokalyx

Nach Darlegung von Ausmaß und Pathophysiologie der okkulten Flüssigkeitsverluste, zu denen der intraoperative Proteinshift offensichtlich einen wesentlich bedeutsameren Beitrag leistet als die Perspiratio insensibilis, werden nun die Folgen für das perioperative Vorgehen betrachtet. Werfen wir hierzu zunächst einen Blick auf die gemessenen Volumeneffekte der verschiedenen Infusionslösungen.

Der Volumeneffekt isoonkotischer kolloidaler Infusionslösungen

Lehrbuchwissen und Common knowledge

Sogenannte isoonkotische Präparate mit 6% Hydroxyethylstärke (HES) und 5% Humanalbumin [13, 103] haben einen initialen Volumeneffekt von nahezu 100%. Daher kann man im Rahmen akuter Blutverluste durch Substitution im Verhältnis 1:1 das Plasmavolumen vergrößern und so das intravasale Blutvolumen konstant halten [87, 102, 141]. Durch einen präoperativen Flüssigkeitsbolus kann man das intravasale Blutvolumen expandieren, diese sog. akute hypervoläme Hämodilution reduziert den Einsatz von Fremdblut [99, 172]. Höherprozentige Präparationen besagter Kolloide wirken als Plasmaexpander, d. h. ihr Volumeneffekt liegt infolge der Rekrutierung interstitieller Flüssigkeit weit über 100% [87, 102, 141].

Originaldaten

Durch direkte Blutvolumenmessung konnte den kolloidalen Lösungen mit 6% HES 200/0,5 [130], 6% 130/0,4 [71] und 5% Humanalbumin [130] unter den Bedingungen der akuten normovolämen Hämodilution (ANH) tatsächlich ein Volumeneffekt von 90–100% beim Menschen zugeordnet werden (Abb. 7). ANH, die simultane Blutentnahme und Substitution mit kolloidalen Lösungen, entspricht modellhaft der Substitutionstherapie beim akuten Blutverlust. Dieselben Präparate weisen jedoch unter Hypervolämie, also beispielsweise als präoperativ applizierter Flüssigkeitsbolus (Volume loading, VL) oder als intraoperative zusätzliche Volumengabe bei bestehender Normovolämie einen Volumeneffekt von deutlich unter 50% auf (Abb. 8; [130]).

Kolloide, die hypervoläm appliziert werden, verlassen schnell die Zirkulation (Volumeneffekt <50%), verbleiben aber im Körper

Obwohl also durch VL eine Einsparung von Fremdblut auf eine einfache Weise möglich erscheint [99, 172], darf jedoch bezweifelt werden, dass diese Methode tatsächlich „safe to use“ [172] ist. So konnte nach VL ein innerhalb von Minuten einsetzender Flüssigkeits- und Proteinshift nach extravasal gemessen werden. Der Verlust entsprach im Falle der Infusion von 1379±128 ml Humanalbumin (5%) etwa der Hälfte der infundierten Albuminmenge (n=10). Während der Infusion von 1417±209 ml HES 200-Lösung (6%) trat eine mittlere Extravasation von 814 ml auf. Hierbei wurden zusätzlich zur gleichen Menge Protein 21 g HES aus dem Gefäßbett verschoben, was einem Viertel der infundierten Menge entsprach (n=10, [131]).

Während einer Hypervolämie überschreiten auch Kolloidmoleküle – neben Albumin sogar HES – die vaskuläre Schranke.

Zeitgleich nahm das Gesamtvolumen des ESL deutlich ab [130]. Ein Flüssigkeitsbolus ist somit offensichtlich in der Lage, den experimentell als wichtige Komponente der vaskulären Barriere identifizierten ESL nachhaltig zu alterieren. Hypervolämie könnte damit der pathophysiologische Ausgangspunkt einer Kausalkette sein, die weitere perioperative Probleme induziert. Vermittelt werden könnte dies über die Freisetzung von ANP [18], dessen Effekte offensichtlich weit über die bereits bekannte Steigerung der Natriurese und einer zusätzlichen Vasodilatation [120] hinausgehen. Wie bereits ausgeführt, konnte experimentell gezeigt werden, dass ANP die endotheliale Glykokalyx zerstören kann.

Abb. 7
figure 7

Der Volumeneffekt isoonkotischer Lösungen wurde durch die Double-Label-Blutvolumenmessung unter den Bedingungen der akuten normovolämen Hämodilution (ANH) mit annähernd 100% bestimmt

Abb. 8
figure 8

Der Volumeneffekt isoonkotischer Lösungen wurde durch die Double-Label-Blutvolumenmessung unter den Bedingungen der hypervolämen Hämodilution (Volume loading, VL) mit deutlich weniger als 50% bestimmt

Der Volumeneffekt isotoner kristalloider Infusionslösungen

Kristalloide besitzen keinen kolloidosmotischen Druck und werden daher von der vaskulären Barriere nicht zurückgehalten. Ihr Verteilungsraum ist daher nicht nur das Blutvolumen, sondern der gesamte EZR. Daher infundiert man mit diesen Präparaten nicht nur den Intravasal-, sondern den gesamten EZR. Bei einem körpergewichtsbezogenen Anteil des EZR von rund 20% [175] ist von einem extrazellulären Gesamtvolumen von etwa 14 l auszugehen. Radioaktiven Tracermessungen (Referenzmethode) zufolge beträgt das Plasmavolumen (PV) eines männlichen Erwachsenen im Mittel 1578 ml/m2 KOF [117]. Bei einer mittleren KOF von 1,91 m2 [117] ergibt dies ein mittleres PV von etwa 3 l oder 20% des EZR. Somit ist rechnerisch die 5fache Menge an kristalloider Lösung zu infundieren, um bei akutem Blutverlust eine intravasale Normovolämie zu halten, 80% der infundierten Lösung werden im Interstitium verteilt. Verlässliche Daten zu den tatsächlichen Volumeneffekten aus systematischen Double-Label-Bestimmungen existieren bis dato leider nicht. Wie vorläufige Messungen ergaben, muss jedoch davon ausgegangen werden, dass ein rein kristalloider Ersatz von Blutverlusten zumindest als wenig effizient zu bewerten ist. Die Applikation einer zum Erhalt der Normovolämie erforderlichen Flüssigkeitsmenge führt darüber hinaus zu einer erheblichen „Positivbilanz“.

So wird verständlich, dass eine Volumenbelastung zu ungünstigen Bedingungen führen kann. Gibt es aber auch prospektive, kontrollierte und randomisierte Studien, die einen messbaren Einfluss des Flüssigkeitsregimes auf das Patientenoutcome belegen und somit eine Änderung unserer Gewohnheiten rechtfertigen?

Flüssigkeitsbilanz und Outcome – Die aktuelle Datenlage

Viele Arbeiten konnten in den letzten Jahren zeigen, dass die Flüssigkeitstherapie das Outcome chirurgischer Patienten beeinflusst [17, 56, 57, 91, 95, 110, 112, 154]. In der Thoraxchirurgie setzte sich eine Flüssigkeitrestriktion zunehmend durch, nachdem man erkannt hatte, dass dies die Inzidenz postoperativer pulmonaler Komplikationen reduziert [156, 177]. Die übrigen Studien, die das Outcome nach großen chirurgischen Eingriffen untersuchten, lieferten jedoch widersprüchliche Ergebnisse und hatten geringe Fallzahlen. Ein Datenpooling scheint aufgrund uneinheitlicher Definitionen von liberal und restriktiv wenig sinnvoll bzw. unmöglich. Einzig bei großen abdominalchirurgischen Eingriffen wurden in der jüngeren Vergangenheit wiederholt positive Ergebnisse gemeldet. Einem liberalen Flüssigkeitsregime konnten hier Komplikationen wie kardiopulmonale Ereignisse [156, 169, 177], reduzierte und später einsetzende Darmmotilität [17, 56, 91, 110], Gerinnungsprobleme und Wundheilungsstörungen [17, 56], Anastomosenisuffizienzen [17, 56, 110], eine schlechtere Gewebeoxygenierung [5, 85] und eine erhöhte perioperative Morbidität [17] zugeordnet werden. Bereits 2002 untersuchten Lobo et al. [91] die Auswirkungen der postoperativen Flüssigkeitstherapie auf das Outcome nach Kolonresektion an 20 erwachsenen Patienten. Während das intraoperative Regime in beiden Gruppen vergleichbar war, wurden die Patienten postoperativ in eine restriktive (<2 l pro Tag) oder eine Standardgruppe (≥3 l pro Tag) randomisiert. In der Standardgruppe wurden neben einem signifikanten Gewichtszuwachs (3 kg) ein verspätetes Einsetzen der Darmfunktion und eine verlängerte Krankenhausverweildauer verzeichnet. Eine aktuelle Studie von McKay et al. [95] mit 80 Patienten konnte dies zwar nicht bestätigen, obwohl die Protokolle zur postoperativen Behandlung auf den ersten Blick vergleichbar erscheinen. Allerdings wurden die Patienten beider Gruppen intraoperativ wesentlich restriktiver behandelt als in der Studie von Lobo et al. (Basalrate 10 [91] vs. 18 [95] ml/kg/h). Zudem wurde ein großer Teil der postoperativ aufgenommenen Flüssigkeit oral appliziert [95], ein Vorgehen, das die postoperative Morbidität zusätzlich reduziert [135, 158]. Wahrscheinlich war die Behandlung der Standardgruppe in der Untersuchung von McKay et al. [95] insgesamt zu restriktiv, um messbare Störungen der Darmmotilität und eine längere Krankenhausverweildauer zu verursachen. Ihre Erkenntnisse unterstreichen daher eher die hohe Bedeutung eines gut durchdachten und standardisierten perioperativen Flüssigkeitskonzepts. Einem solchen versuchten sich Brandstrup et al. [17] im Rahmen einer multizentrischen Studie zu nähern. Diese Studie demonstrierte an 141 Patienten, die sich ausgedehnten kolorektalchirurgischen Eingriffen unterzogen hatten, dass perioperative Flüssigkeitsrestriktion die Komplikationsraten (insbesondere Wundheilungsstörungen und kardiopulmonale Ereignisse) signifikant senken konnte. Die Standardgruppe verzeichnete postoperativ eine gegenüber dem Ausgangsgewicht (am Morgen der Operation) und der Vergleichsgruppe signifikante Gewichtszunahme. Die maximale Zunahme von rund 4 kg wurde am zweiten Tag nach der Operation beobachtet, noch am 6. Tag lag sie bei etwa 2 kg. In der restriktiven Gruppe wurde postoperativ Furosemid appliziert, wenn das Ziel eines gegenüber dem Ausgangswert unveränderten Gewichtes um mehr als 1 kg überschritten wurde. Trotz einer perioperativ infolge limitierter Flüssigkeitsgabe reduzierten Urinproduktion kam es bei keinem der restriktiv behandelten Patienten zu einem akuten Nierenversagen. Das restriktive Infusionsregime von Brandstrup et al. [17] ist in Tab. 2 dargestellt.

Tab. 2 Das restriktive Infusionsregime nach Brandstrup et al. [17]

Dieses, einem liberaleren Vorgehen bei großen abdominalen Eingriffen nachgewiesenermaßen überlegene Regime, entspricht weitgehend den Erwartungen bezüglich der tatsächlichen Flüssigkeitsverluste, die oben vorgestellt wurden. Einzig die Nichtsubstitution der produzierten Urinmenge und des intraoperativen Proteinshifts halten wir für unphysiologisch und daher für nicht bedarfsadaptiert.

Ähnlich günstige Ergebnisse eines restriktiven Infusionsregimes fanden Nisanevic et al. [110] in einem heterogenen Patientenkollektiv (n=152, ASA I-III) nach abdominalen Eingriffen. Trotz eines differenzierten Algorithmus, der, im Gegensatz zur oben vorgestellten Studie, in beiden Gruppen anstatt Vasopressoren Flüssigkeitsboli in Abhängigkeit von hämodynamischer Instabilität und Urinproduktion vorsah, erhielten die Patienten der restriktiven Gruppe mit etwa 300 ml/h signifikant weniger Flüssigkeit (Median: 1230 vs. 3670 ml während einer mittleren Operationsdauer >4 h). In der restriktiv behandelten Gruppe konnten eine signifikant früher einsetzende Darmtätigkeit und eine verkürzte Krankenhausverweildauer registriert werden. Die Aufrechterhaltung des präoperativen Gewichtes, wenngleich in beiden Studien nicht ganz erreicht, scheint daher ein geeignetes Maß zur Beurteilung der Frage zu sein, ob eine perioperative Flüssigkeitstherapie adäquat ist oder nicht [17]. Dass sich die sog. Flüssigkeitsrestriktion in deutschen Operationssälen nur zögerlich durchsetzt, liegt nicht zuletzt an ihrer inadäquaten Bezeichnung. Ein rationales Infusionsregime ist nicht restriktiv, sondern es ersetzt bedarfsgerecht tatsächliche Verluste [69]. Und entsprechend sollten Kontrollgruppen kollektivspezifisch in künftigen Studien charakterisiert werden, um die wirklichen Grenzen einer adäquaten Infusionspraxis auszuloten.

Bei großen abdominalchirurgischen Eingriffen erhöht ein zu liberales Flüssigkeitsregime die postoperative Komplikationsrate

Ein weiteres Konzept für ein erfolgreiches perioperatives Flüssigkeitsmanagement ist die „goal-directed therapy“ unter Zuhilfenahme des Ösophagusdopplers [41, 104, 112, 155, 162]. Grundlage ist die Annahme, eine maximale Herzauswurfleistung sei Indikator einer optimalen Flüssigkeitstherapie. Entsprechend werden dopplerkontrolliert solange Volumenboli appliziert (z. B. 200 ml über 10 min [41]), bis keine Verbesserung der Herzauswurfleistung mehr zu verzeichnen ist. Kolloidboli sind den Kristalloidboli bezüglich einer Senkung der postoperativen Morbidität überlegen [101]. Neben einer signifikant gesteigerten Herzleistung am Ende der Operation [41, 104, 155] zeigte sich in den Interventionsgruppen eine signifikant verminderte Krankenhausverweildauer [41, 104, 112, 155, 162], von der ältere Patienten offensichtlich deutlich mehr profitieren als jüngere [157]. Für Patienten nach elektiver Kolorektalresektion (n=108) fand sich außerdem eine verminderte Komplikationsrate und eine früher mögliche Oralisierung [112], für Patienten mit proximaler Femurfraktur (n=40) eine kürzere postoperative Erholungszeit [155]. Gan et al. [41] beobachteten in einem hetrogenen Patientenkollektiv (n=100) nach großen chirurgischen Eingriffen zusätzlich eine frühere Rückkehr der Darmfunktion und weniger Übelkeit und Erbrechen.

Patienten kleiner und mittelgroßer chirurgischer Eingriffe profitierten paradoxerweise von einem eher liberalen Flüssigkeitsmanagement. Es führte bei Patienten nach Laparoskopie zu einem verringerten Schmerzscore und weniger Übelkeit und Erbrechen [96, 97]. In einer Übersichtsarbeit, die 17 randomisierte Studien untersuchte [55], konnte gezeigt werden, dass die perioperative Applikation von >1 l Flüssigkeit die postoperative Vigilanz erhöht und postoperativen Schwindel vermindert. Schließlich konnte für 48 Patienten (ASA I und II) nach laparoskopischer Cholezystektomie gezeigt werden, dass eine gesamte intraoperativ applizierte Flüssigkeitsmenge von etwa 3 l (40 ml/kg) gegenüber 1 l (15 ml/kg) zu einer schnelleren Patientenerholung und verkürzten Krankenhausverweildauer führt [57].

Bei kleinen und mittelgroßen chirurgischen Eingriffen profitieren Patienten von einer perioperativen Flüssigkeitsmenge von 1–3 l

Insgesamt profitieren insbesondere Patienten nach großen thorax- oder abdominalchirurgischen Eingriffen von einer intraoperativer Flüssigkeitsrestriktion. Aber wie sollte man in diesem Kontext mit anästhesieassoziierter Hypotension und der daraus resultierenden Gefahr für den nutritiven Blutfluss wichtiger Organe umgehen?

Prophylaxe und Therapie der anästhesieassoziierten Hypotension

Lehrbuchwissen und Common knowledge

Ein Flüssigkeitsbolus vor der Einleitung einer Regional- oder Allgemeinanästhesie senkt die Inzidenz und Schwere einer anästhesieassoziierten Hypotension und den Bedarf an Vasopressoren im Rahmen einer anästhesieassoziierten Vasodilatation [47, 48, 49, 80, 87, 100, 119]. Speziell in der Geburtshilfe ist dies gegenüber Vasopressoren zu bevorzugen, da letztere den nutritiven Blutfluss der fetoplazentaren Einheit gefährden.

Originaldaten

Rückenmarksnahe Regionalverfahren sind geeignet, den peripheren Gefäßwiderstand zu reduzieren und somit den Blutdruck zu senken. Man kann sie daher gewissermaßen als Modellsituation der sog. relativen Hypovolämie betrachten. Oftmals „antizipiert“ oder „therapiert“ der Anästhesist dieses Phänomen mit einem intravenösen Flüssigkeitsbolus. Ein solches Vorgehen entspricht jedoch nicht den Ergebnissen kontrollierter Studien. Schwangere Patientinnen beispielsweise profitieren nach aktueller Datenlage nicht von einer Flüssigkeitsbeladung im Kontext der geburtshilflichen neuraxialen Blockade [66, 76, 77, 144]. Es wurde gezeigt, dass Flüssigkeitsboli weder die Inzidenz von Hypotonien nach Anlage von rückenmarksnahen Regionalanästhesien senken konnten, noch das neonatale Outcome verbesserten [66, 77, 144]. Alternativ applizierte Vasopressoren (z. B. Ephedrin, 0,25 mg/kg) hatten keinen negativen Einfluss auf die Uterusperfusion, konnten jedoch die Inzidenz von Hypotonien signifikant senken [22].

Prinzipiell kann eine moderate Vasopressorengabe als kausale Therapie einer anästhesieassoziierten Vasodilatation verstanden werden. Für nicht Schwangere wurde Noradrenalin als Vasopressor der Wahl zur Therapie der vasodilatationsbedingten Hypotension bezeichnet [88].

Fazit für die Praxis

Die basale Perspiratio insensibilis, also die Evaporation über die Haut und die Atemwege unter Normalbedingungen, beträgt beim Erwachsenen 0,5 ml/kg/h. Sie verdoppelt sich bei chirurgischer Intervention auf maximal 1 ml/kg/h. Das Blutvolumen des internistisch gesunden Erwachsenen ist nach 8 h Nüchternheit in der Regel gegenüber der Norm nicht vermindert, und auch die Steigerung der Perspiratio insensibilis während maximaler Eventeration erzeugt per se noch keinen relevanten intravasalen Volumenmangel. Quantitativ relevant hingegen ist der perioperativ inkonstant auftretende Volumenverlust in den interstitiellen Raum. Er beträgt während großer chirurgischer Eingriffe oft mehrere Liter und ist kein reiner Verlust von Wasser und Elektrolyten, sondern wird vielmehr begleitet von einem Proteinverlust aus dem Gefäßsystem, der bis zu einem Drittel des intravasalen Gesamtbestandes an Protein betragen kann. Als primäre pathophysiologische Noxe, die einen derartigen intraoperativen Proteinshift auslösen kann, kommt nach derzeitigem Kenntnisstand die intravasale Hypervolämie in Frage, die über die Freisetzung von ANP offensichtlich in der Lage ist, die endotheliale Glykokalyx zu zerstören. Neueren Erkenntnissen zufolge ist die Starling-Gleichung nur mehr mit Einschränkungen in der Lage, die Physiologie der vaskulären Barriere zu erklären. Im Gegensatz zum ausgeprägten kolloidosmotischen Gradienten zwischen Intravasal- und Extravasalraum, den dieses klassische Prinzip fordert, weist das Interstitium eine Proteinkonzentration auf, die mit der des Plasmas vergleichbar ist. Der einwärts gerichtete Gradient, der Wasser und Protein im Gefäßsystem zurückhält, entsteht durch selektive Proteinfilterung an der endothelialen Glykokalyx. Die endotheliale Glykokalyx besitzt somit als weitere kompetente Komponente, zusätzlich zu den Endothelzellen, eine Schlüsselfunktion an der vaskulären Schranke, die es perioperativ zu schützen gilt. Hinsichtlich ihrer tatsächlichen Bedeutung für die vaskuläre Physiologie und Pathophysiologie ist derzeit aber nur die Spitze eines sicherlich gewaltigen Eisberges erschlossen.