Anamnese

Eine 58-jährige Patientin stellte sich zur lokalen Tumorexzision eines Rektumkarzinoms (Stadium: T1) vor. Bei der kardial gesunden und gut belastbaren Patientin (73 kgKG) bestand ein Asthma bronchiale, das suffizient mit einem inhalativen β2-Sympathikomimetikum behandelt war. Dennoch hatte die Patientin bei 2 Vornarkosen über Atemnot in der postoperativen Phase geklagt. An vorbestehenden Allergien war bei der Patientin eine Überempfindlichkeit gegen Latex und Gräserpollen bekannt. Ansonsten waren die Allgemeinanamnese und die körperliche Untersuchung unauffällig.

Anästhesie

Die mit Midazolam (7,5 mg p.o.) prämedizierte Patientin wurde mit dem Standardmonitoring [Elektrokardiogramm, nichtinvasive Blutdruckmessung, Sauerstoffsättigung (SpO2)] überwacht. Nach Präoxygenierung erfolgte die Einleitung der Narkose mit Sufentanil (20 μg) und Etomidat (30+10 mg). Hierbei wurde auf latexfreies Vorgehen geachtet. Die Maskenbeatmung mit 100%igem Sauerstoff war problemlos möglich, und die Patientin wurde ohne vorherige Präkurarisierung mit Rocuronium (30 mg) muskelrelaxiert. Innerhalb der nächsten 2 min wurde die Maskenbeatmung zunehmend schwieriger, und es konnte kein Kapnogramm mehr aufgezeichnet werden. Die Patientin wurde daraufhin nach Vertiefung der Narkose mit Propofol (100 mg) direkt laryngoskopiert und intubiert. Nach erfolgter Intubation konnten weder ein Atemgeräusch noch ein Strömungsgeräusch über dem Magen auskultiert werden. Das Kapnogramm zeigte keine Exspiration von CO2; es konnten keine Thoraxexkursionen beobachtet werden. Zuerst bestand der Verdacht auf eine Fehlintubation. Bei der erneuten Laryngoskopie und Intubation durch einen zweiten Anästhesisten nach weiterer Narkosevertiefung (Sufentanil 20 μg) und Relaxierung [Rocuronium (20 mg) und Succinylcholin (100 mg)] fanden sich derselbe Auskultationsbefund und dasselbe klinische Bild wie zuvor. Es wurde nun, bei bekannter allergischer Prädisposition, die Arbeitshypothese eines massiven Bronchospasmus, beruhend auf einer schweren allergischen Reaktion, gestellt. Differenzialdiagnostisch wurde ein Bronchospasmus bei vorbestehendem Asthma bronchiale erwogen. Als auslösendes Agens einer allergischen Reaktion wurde zunächst bei bekannter Überempfindlichkeit Latex vermutet. Nachdem jedoch sichergestellt werden konnte, dass die Patientin nicht in Kontakt mit Latex gekommen war, ergab sich der dringende Verdacht auf eine schwere allergische Reaktion (Grad IV; Tab. 1) auf Rocuronium.

Tab. 1 Stadieneinteilung anaphylaktischer und anaphylaktoider Reaktionen. (Mod. nach Müller-Werdan u. Werdan [10])

Die Patientin wurde zunehmend kreislaufinstabil (nichtinvasiv war zwischenzeitlich kein Blutdruck messbar, der Karotispuls war palpabel) und entsättigte bis auf ca. 76% SpO2 mit entsprechender Akrozyanose. Auch mit maschineller Beatmung war die Patientin kaum (Tidalvolumen <200 ml) und nur mit hohen Spitzendrücken („Ppeak“ ca. 40 mbar) zu ventilieren. Neben der antiallergischen Therapie mit Prednisolon (1 g), Ranitidin (100 mg) und Dimetinden (8 mg) wurden Theophyllin (200 mg) und Adrenalin (insgesamt 1,3 mg, fraktioniert) verabreicht. Für die Kreislaufstablisierung war zudem eine forcierte Volumen- und Vasopressorgabe (Norepinephrin bis 24 μg*min−1) erforderlich. Ein für eine allergische Reaktionen typisches generalisiertes Hauterythem stellte sich erst nach suffizienter Kreislaufstabilisierung ein (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Generalisiertes Hauterythem nach Kreislaufstabilisierung

Während Narkoseaufrechterhaltung mit Isofluran (FetIso, 0,8%ig) besserte sich die Beatmungssituation der Patientin nur sehr zögerlich, sodass auch 30 min nach Beginn des Ereignisses noch hohe Beatmungsdrücke (Ppeak 37 mbar) erforderlich waren, um die Patientin ausreichend zu oxygenieren. Zur Durchbrechung des persistierenden Bronchospasmus wurde deswegen zusätzlich Ketamin-S (150 mg, fraktioniert) verabreicht. Die Patientin war inzwischen mit einem zentralvenösen und einem arteriellen Katheter instrumentiert worden. Nach dem Kreislauf (Blutdruckmessung nach Riva-Rocci ca. 120/70 mmHg) und Beatmung (Tidalvolumen 450 ml, Atemfrequenz 15/min, Ppeak 37 mbar) über einen Zeitraum von 30 min stabil blieben, wurde die Patientin ohne Operation auf die Intensivstation verbracht.

Laborchemisch fand sich bei der Patientin eine Laktatacidose mit einem maximalen Laktatspiegel 6 h nach dem Ereignis (Laktat 10,7 mmol/l, pH 7,3, „base excess“ −12,7 mmol/l). Diese bildete sich bis zum nächsten Tag vollständig zurück. Die Leberenzyme [Glutamat-Oxalacetat-Transaminase (GOT), γ-Glutamyl-Transferase (GGT)], die Retentionswerte (Kreatinin, Harnstoff) sowie Quick-Wert und partielle Thromboplastinzeit (PTT) waren stets im Normbereich, auch fand sich kein Hinweis auf einen myokardialen Schaden [Kreatinkinase (CK), Kreatinkinase-MB (CK-MB), Troponin T im Normbereich, Elektrokardiogramm (EKG) unauffällig]. Die Urinausscheidung war jederzeit adäquat.

Verlauf

Die Patientin konnte am darauf folgenden Tag in gutem Allgemeinzustand auf die Normalstation verlegt werden. Die sich anschließende Allergietestung (Intrakutantest mit 0,1%igem Rocuronium, 3. Tag nach dem Ereignis) konnte Rocuronium als das auslösende Agens einer anaphylaktischen Reaktion bestätigen.

Die Patientin konnte eine Woche nach dem Ereignis problemlos mit der Kombination einer Spinalanästhesie und einer total intravenösen Anästhesie mit Sufentanil und Propofol mit Verzicht auf Muskelrelaxanzien (Beatmung mithilfe einer Larynxmaske, ProSeal™, LMA-Deutschland GmbH) für den vorgesehenen Eingriff narkotisiert werden. Sie erhielt einen Anästhesiepass, in dem die anaphylaktische Reaktion entsprechend dokumentiert wurde.

Diskussion

Als häufigste Ursache für anaphylaktische und anaphylaktoide Reaktionen in der Anästhesie konnte in 2 europäischen Studien (Beobachtungszeitraum 2 bzw. 6 Jahre) eine Unverträglichkeit gegenüber Muskelrelaxanzien identifiziert werden (in 58,2 bzw. 93,2% der Fälle), gefolgt von der Latexallergie (in 3,6 bzw. 16,7% der Fälle) [4, 8]. Unter den Muskelrelaxanzien sind Succinylcholin und Rocuronium die beiden Substanzen, die am häufigsten für allergische Reaktionen verantwortlich sind [4, 8]. Dies hängt sicherlich auch mit der häufigen Anwendung der beiden Substanzen zusammen [11]. Es ist jedoch ebenfalls bekannt, dass Kreuzallergien zwischen Muskelrelaxanzien bestehen können [9].

In mehreren Fallberichten sind bereits schwere allergische Reaktionen nach Gabe von Rocuronium mit Kreislaufinstabilität, transienten Hemiparesen, multiplem Organversagen und Todesfolge beschrieben worden [1, 2, 5]. Der hier vorgestellte Fall unterscheidet sich von der Mehrzahl der bisher publizierten Zwischenfälle im klinischen Verlauf des allergischen Geschehens. Im vorliegenden Fall war ein sich rapide entwickelnder Bronchospasmus mit der Ausprägung einer „silent lung“ klinisch führend; dagegen wurde in der Mehrzahl der vorangegangenen Zwischenfälle eine Kreislaufdepression bzw. ein Hauterythem als Erstsymptom beschrieben. Ein Bronchospasmus kann, wie auch ein anderer Fallbericht gezeigt hat, also das erste Zeichen einer allergischen Reaktion auf Rocuronium sein [5]. Die ersten Stadien einer allergischen Reaktion (Tab. 1) werden dann übersprungen oder innerhalb kürzester Zeit durchlaufen. Im vorliegenden Fall trat innerhalb weniger Minuten nach Gabe von Rocuronium eine allergische Reaktion Grad IV, gekennzeichnet durch die Unmöglichkeit einer kontrollierten Beatmung auf Grund des Bonchospasmus, gefolgt von einer Kreislaufdepression, ein. Ein typisches Hauterythem fand sich erst nach Wiederherstellung eines suffizienten Kreislaufs.

Die Identifikation des Allergens war durch die vorbestehende Latexallergie erschwert. Erst als sichergestellt war, dass die Patientin nicht mit Latex in Kontakt gekommen war, ergab sich klinisch der Verdacht auf eine durch das Muskelrelaxans induzierte allergische Reaktion. Zeitgleich kann auch eine allergische Reaktion auf eine zweite Substanz, wie beispielsweise auf ein Antibiotikum oder Latex, bestehen und die Diagnosestellung erschweren [7].

Die intrakutane Testung sollte wegen der vorigen Entleerung der Mastzellen in der Regel 4–6 Wochen nach dem allergischen Ereignis durchgeführt werden. Im hier vorgestellten Fall wurde die Testung auf Grund der dringlichen Operationsindikation bei maligner Grunderkrankung vorzeitig durchgeführt. Ein positives Testergebnis hat einen ausgesprochen hohen prädiktiven Wert [6]. Zumeist handelt es sich dann um eine IgE vermittelte allergische Reaktion. In der Akutphase kann die Anaphylaxie ferner anhand spezifischer IgE-Antikörper gegen quarternäre Amonniumionen und deren Inhibition durch das Muskelrelaxans mithilfe eines Radioimmunoessays mit hoher Sicherheit nachgewiesen werden [3].

Fazit für die Praxis

  • Muskelrelaxanzien sind die häufigsten Auslöser allergischer Reaktionen in der Anästhesie.

  • Es bestehen Kreuzallergien zwischen den Muskelrelaxanzien.

  • Bei einem fulminanten anaphylaktischen oder anaphylaktoiden Geschehen können die ersten Stadien übersprungen werden. Erstsymptome können dann eine Kreislaufinstabilität oder ein Bronchospasmus sein.

  • Allergische Reaktionen auf Muskelrelaxanzien können zu multiplem Organversagen bis hin zum Tod des Patienten führen.

  • Eine allergologische Testung mit dem Prick-Test oder dem Intrakutantest sollte 4–6 Wochen nach dem perioperativen allergischen Ereignis erfolgen. Im Akutgeschehen kann ein Radioimmunoessay den Verdacht der Anaphylaxie und das auslösende Agens mit hoher Sicherheit bestätigen.