Hauptzweck des strikten traditionellen Nüchternheitgebotes, "nil per os" nach Mitternacht, ist die Minimierung der Aspirationsgefahr bei Allgemeinanästhesie. Begründet ist dies in Fallberichten, wie dem von J. Simpson aus dem Jahre 1842 über einen Patienten, der unter Chloroformnarkose offenbar Brandy aspiriert hatte und daran verstarb [51]. Unter Narkose ist der Hustenreflex abgeschwächt; hierdurch steigt das Risiko einer Aspiration für den Patienten unabhängig von der Art des operativen Eingriffs [3, 9, 30, 31]. Aus Furcht vor dieser Komplikation war man sich schon in den frühen Tagen der Anästhesiologie größtenteils darüber einig, dass Patienten unmittelbar vor der Operation keine feste Nahrung zu sich nehmen sollten. Andererseits wurde bereits 1883 durch Joseph, Baron Lister in Holmes' System of Surgery die präoperative Einnahme einer Tasse Tee oder Boullion als sehr heilsam empfohlen [58]. Spätere Untersuchungen bei verschiedensten chirurgischen Eingriffen berichteten von narkoseassoziierten Aspirationspneumonien [3, 9, 31] mit der Konsequenz der Einführung strengerer Nüchternheitsregeln [13]. Aus praktischer Erwägung wurde den Patienten vollkommene Nüchternheit nach Mitternacht vor der Operation aufgetragen, ohne zwischen flüssiger und fester Nahrung zu unterscheiden. Im klinischen Alltag kann dies für die Patienten zu präoperativen Karenzperioden von durchschnittlich 12,5 h für Flüssigkeiten und 15,4 h für feste Nahrung führen [39].

Während insbesondere in der Kinderanästhesie [15] und ebenso im praxisambulanten Bereich [62] deutlich lockerer mit dem Gebot der präoperativen Nüchternheit verfahren wird, ist das Verhalten in operativen Kliniken in Deutschland nach wie vor restriktiver.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben zahlreiche Autoren im Zuge der Zunahme ambulanter Eingriffe diese Praxis hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Haltbarkeit in Frage gestellt. Eine Serie von Untersuchungen kam zu dem Schluss, dass eine Lockerung des Nüchternheitsgebotes von Nutzen ist, ohne den Patienten einem höheren Risiko auszusetzen [8, 26, 45, 49].

Zahlreiche nationale anästhesiologische Gesellschaften [2, 10, 57] haben die Konsequenzen daraus gezogen und empfehlen insbesondere bezüglich klarer Flüssigkeit (Wasser, fruchtfleischlose Säfte, Kaffee, Tee) einen liberaleren Umgang [23].

Präoperative Nüchternheit und pulmonale Aspiration

Als zu Beginn der 80er-Jahre die wissenschaftliche Grundlage der rigiden Nüchternheitsgebote zunehmend in Frage gestellt wurde, war bereits bekannt, dass die Magenentleerung von Wasser und anderen inerten, kalorienarmen Flüssigkeiten bei gesunden Probanden zeitlich durch eine exponentiell abfallende Kurve beschrieben wird [55]. Allerdings bestanden Bedenken, ob diese Ergebnisse wegen gesteigerter Angst- und Stressreaktion auf die unmittelbare präoperative Phase der Patienten übertragbar seien [13]. Die Untersuchung von Lydon et al. konnte wiederum keinen Unterschied in der Geschwindigkeit der Magenentleerung von ängstlichen Patienten im Vergleich zu Patienten, die keine Angstgefühle empfanden, feststellen [25]. Weiterhin beeinflusste weder eine anxiolytische Medikation an sich noch deren Ausmaß die Magenentleerung von klarer Flüssigkeit sowie das gastrale Flüssigkeitsvolumen und den Magen-pH von Patienten vor einer Operation [16, 35, 49]. Nach diesen Erkenntnissen kann davon ausgegangen werden, dass es innerhalb der unmittelbar präoperativen Phase zu keiner klinisch relevanten Verzögerung der Magenentleerung kommt [23].

Voraussetzung für eine passive Regurgitation und pulmonale Aspiration ist ein kritisches gastrales Residualvolumen; hierbei muss ein Minimum von 200 ml als realistischer Grenzwert angenommen werden [37, 43, 61]. Tatsächlich berichten Untersuchungen an elektiven, chirurgischen Patienten der ASA-Klasse I–II [27, 28, 54, 55] sowie der ASA-Klasse I–III [42] von durchschnittlichen gastralen Residualvolumina in den Grenzen von 10–30 ml trotz der Verabreichung klarer Flüssigkeit in einem Zeitraum von 1–2 h vor der Narkoseeinleitung. Allerdings stellen Patienten mit nicht diagnostizierter Magenfunktionsstörung und funktionaler Dyspepsie zu bedenkende Ausnahmen dar, die z. T. Magenrestflüssigkeit in Mengen bis 200 ml aufweisen können [5, 20].

Die strikte Einhaltung des Nüchternheitsgebotes ist begründet in der Sorge vor möglichen Problemen beim Atemwegsmanagement, die das Risiko einer Aspiration steigern können [22, 38, 56, 63]. Reflux könnte in diesem Zusammenhang theoretisch auch beim Vorliegen nur sehr geringer Mengen von Magenrestflüssigkeit eine Aspiration begünstigen; allerdings konnte dies bisher wissenschaftlich nicht bestätigt werden. Tatsache ist, dass im allgemeinen die Inzidenz perioperativer Aspirationen sehr gering ist und bei elektiven Patienten eine gute Prognose hat [22, 38, 40, 56, 63]. So fanden Olsson et al. [38] bei 185.000 Anästhesien eine Häufigkeit von 4,7 Aspirationen pro 10.000 Narkosen. Bei 47% dieser Fälle ließ sich ein radiologisches Korrelat finden. Die Letalität betrug 5% und trat im überwiegenden Maße bei Patienten in schlechtem Allgemeinzustand auf. Darüber hinaus waren die meisten Aspirationen in dieser Studie in Notfallsituationen, bei Intubationsschwierigkeiten oder verzögerter Magenentleerung zu verzeichnen. In einer anderen Untersuchung ergab die retrospektive Auswertung von insgesamt 215.488 Allgemeinanästhesien Aspirationszwischenfälle bei 67 Patienten (1:3.216 Narkosen) [63]. Auch hier überwog im Verhältnis deutlich die Anzahl der Aspirationen in Notfallsituationen im Vergleich zu elektiven Eingriffen (1:895 vs. 1:3.886; p<0,001). Innerhalb dieser Studie starben am Lungenversagen insgesamt 3 von den 6 Patienten, die eine maschinelle Beatmung von mehr als 24 h benötigten. Dies entspricht einer Gesamtletatlität von 1:71.829 Anästhesien. Um die Gründe, Einflussfaktoren und Prädispositionen näher zu erforschen, analysierten Kluger u. Short [22] dezidiert insgesamt 240 Narkosezwischenfälle, bei denen Aspiration, Regurgitation oder Erbrechen dokumentiert worden war. Bei 133 Fällen bestätigte sich eine stattgehabte Aspiration; hierbei waren größtenteils mindestens eine Prädisposition, wie Notfalleingriff, flache Narkose, Gastrointestinalerkrankungen und Adipositas, zu verzeichnen. Die 5 tödlich verlaufenen Aspirationen waren alle assoziiert mit einem deutlich schlechteren Gesundheitszustand (ASA III–V). Nach den Ergebnissen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass das Auftreten von Aspirationszwischenfällen vorherrschend von der klinischen Erfahrung des behandelnden Personals und damit von der Qualität des Anästhesiemanagements (mangelnde Narkosetiefe, unzureichende Atemwegsprotektion, unzureichende Prophylaxe) abhängt.

Präoperative Nüchternheit und klare Flüssigkeiten

Neben der "American Society of Anesthesiologists (ASA) Task Force on Preoperative Fasting" definieren auch die anästhesiologischen Gesellschaften aus Großbritannien [52], Kanada [7], Norwegen [57] und Schweden [10] "klare Flüssigkeiten" vorwiegend als Flüssigkeiten ohne jeglichen Partikel- und Fettgehalt, während Kuhmilch wegen der durch den Fettgehalt bedingten verzögerten Magenpassage als feste Nahrung bewertet wird [23]. Die aufgeführten Beispiele für klare Flüssigkeiten ("clear liquids") der ASA Task Force sind Wasser, fruchtfleischlose Säfte, kohlensäurereiche Getränke sowie Tee und Kaffee ohne Zusätze wie Milch oder Sahne ("[...] water, fruit juices without pulp, carbonated beverages, clear tea, and black coffee"); in keinem dieser Getränke sollte Alkohol enthalten sein [2]. Zu kohlensäurereichen Getränken werden Cola, Ginger Ale, Sportsdrinks und andere Brausegetränke gezählt [6]. Auch wenn die Beispiele schwarzer Kaffee, manche Säften und Cola-Getränke der Bedeutung "klar" im klassischen Sinne von "durchsichtig" nicht ganz genügen mögen, werden sie im klinischen Alltag zum Großteil dieser Kategorie zugeordnet [44].

Mehrere randomisierte und kontrollierte Studien [1, 26, 27, 28, 42, 54] sowie Metaanalysen [2, 55] mit Patienten (ASA I–III), die für elektive Operationen vorgesehen waren, haben gezeigt, dass die orale Gabe von Wasser und anderen klaren Flüssigkeiten (Tee, Kaffee, Mineralwasser, Apfel- und fruchtfleischlosem Orangensaft) bis zu 2 h vor Narkoseeinleitung weder das Flüssigkeitsvolumen im Magen erhöhen noch den Magen pH-Wert senken. Daher ist aus unserer Sicht das Risiko einer Aspirationspneumonie nach Erbrechen oder Regurgitation gegenüber der Situation komplett fastender Patienten als nicht erhöht anzusehen [23].

Die präoperative Flüssigkeitsaufnahme ist mit einem verringertem Durstgefühl und weniger Mundtrockenheit verbunden und bessert folglich das Wohlbefinden des Patienten [42, 45, 54]. Kaffeetrinkern, denen ihre morgendliche Tasse gewährt wird, klagen weniger häufig über postoperativen Kopfschmerz [12].

Mittlerweile sind auch eigens für die diätetische präoperative Behandlung industriell hergestellte kohlenhydratreiche Ernährungslösungen im freien Handel erhältlich [17, 23, 24]. Sie entsprechen den Kriterien einer klaren Flüssigkeit sowie bei Einnahme der empfohlenen Menge dem Brennwert einer kleinen Mahlzeit [17, 24]. Untersuchungen zeigten, dass sich damit neben dem Durst auch das Hunger- und das präoperative Angstgefühl signifikant senken lassen [17] und zudem in metabolischer Hinsicht ein positiver Einfluss auf den perioperativen Verlauf der Patienten zu vermuten ist [24, 36, 53]. Da sich diese kohlenhydratreiche Trinklösungen hinsichtlich der Geschwindigkeit der Magenpassage nicht von Wasser unterscheiden, ist auch bei der Gabe von 400 ml bis 2 h vor der Narkoseeinleitung bei erwachsenen Patienten nachweislich kein erhöhtes Risiko gegeben [17, 23].

Nach den vorliegenden Studienergebnissen erscheint es den Autoren schließlich als sinnvoll unter dem Begriff der klaren Flüssigkeiten unter Einbezug kohlenhydratreicher Trinklösungen, die von der ASA angegebenen Beispiele (s. oben und Tabelle 2) als Richtschnur für die Anwendung in der präoperativen Ernährungsbehandlung zu betrachten.

Präoperative Nüchternheit und fetthaltige Getränke

In einer ultraschallgestützten Untersuchung zum zeitlichen Verlauf der Magenentleerung an insgesamt 60 Kindern konnte festgestellt werden, dass im Mittel 2,32 h nach Aufnahme von 10 ml/kg KG Kuhmilch mit einem Fettgehalt von 3% und 2,43 h nach dem Stillen mit Muttermilch der Magen entleert war [48]. Aufgrund der im allgemeinen mangelhaften Datenlage zur Einschätzung einer sicheren präoperativen Nüchternheitsphase für fetthaltige Getränke wie Kuhmilch empfiehlt die ASA für Patienten aller Altersklassen eine Karenzzeit von 6 h und stellt sie somit ihren Empfehlungen für das Fasten hinsichtlich einer kleinen Mahlzeit gleich [2]. Bezüglich des Stillens von Neugeborenen wird eine Karenz von 4 h präoperativ angegeben [2].

Präoperative Nüchternheit und feste Speisen

Manche Autoren haben überdacht, ob die präoperative Karenzzeit für feste Nahrung ebenfalls ohne Sicherheitsbedenken reduziert werden könne [32]. In einer Studie über die sonographisch gemessene Magenentleerung nach einem leichten Frühstück (eine Scheibe Weißbrot mit Butter und Marmelade, dazu eine Tasse Kaffee und ein Glas Orangensaft ohne Fruchtfleisch) bei gesunden weiblichen Probanden, zeigte sich, dass zur Garantie einer kompletten Entleerung des Magens von fester Nahrung 4 h Karenzzeit notwendig sind [56]. Die Magenentleerung für feste Nahrungsbestandteile kann durch Einflüsse wie Rauchen, funktionelle Dyspepsie, psychischer Stress und weibliche Hormone weiter verlängert werden [19, 33, 41, 47]. Der Zeitraum von der Einnahme der letzten festen Nahrung bis zum Beginn der Allgemeinanästhesie sollte daher gemäß aktueller Leitlinien nicht weniger als 6 h betragen [2, 4, 23, 50, 57].

Präoperative Nüchternheit und neueste Empfehlungen

Aufgrund der dargelegten Daten beinhalten mehrere Leitartikel [4, 50, 58] und verschiedenste Richtlinien nationaler Gesellschaften für Anästhesiologie [2, 7, 52, 57] mittlerweile die Empfehlung einer Karenz für klare Flüssigkeiten von nicht mehr als 2 h für Patienten vor elektiv geplanten, operativen Eingriffen. Allerdings gilt dies nicht für Milch und andere fetthaltige Getränke. Hinsichtlich fester Nahrung wird nahezu einheitlich eine präoperative Nüchternheit von 6 h empfohlen (Tabelle 1).

Tabelle 1 Übersicht der aktuellen Empfehlungen/Richtlinien zur präoperativen Nüchternheit aus verschiedenen Ländern

Drei Jahre nach Einführung der nationalen Richtlinien in Norwegen zeigte eine nachfolgende Untersuchung über die Auswertung der an alle anästhesiologischen Abteilungen versandten Fragebögen, dass es im Zuge der veränderten Richtlinien zur präoperativen Nüchternheit (Tabelle 1) zu keinem Anstieg von Komplikationen gekommen war [11]. In einer weiteren, prospektiven Studie mit 5.420 ambulanten Patienten untersuchten Murphy et al. [34] die Auswirkungen von gelockerten präoperativen Nüchternheitsanforderungen auf die Patientencompliance, das Absetzen oder Verschieben von Eingriffen und das Aspirationsrisiko. Den Patienten mit liberaleren Karenzvorschriften wurde die Einnahme von klarer Flüssigkeit (Apfelsaft, Wasser oder Kaffee ohne Milch oder Sahne) bis 3 h vor der Operation erlaubt, während in der Kontrollgruppe nach Mitternacht gefastet werden musste. Diese Praxis hatte keinen Einfluss auf die Patientencompliance im Sinne der Einhaltung der geforderten Nüchternheitsgrenzen. Es bestand weiterhin kein Unterschied in der Häufigkeit von abgesetzten bzw. verschobenen Eingriffen. Weder in der Gruppe mit dem gelockerten Nüchternheitsgebot noch in der Kontrollgruppe mit langer Flüssigkeits- und Nahrungskarenz waren Aspirationszwischenfälle zu verzeichnen. Da allerdings die Inzidenz von Aspirationen mit 1,4–6 pro 10.000 Anästhesien angegeben wird [21], ist diese Studie wahrscheinlich zu klein gewesen, um einen Unterschied im Aspirationsrisiko zu identifizieren. Interessanterweise war jedoch die Inzidenz von Regurgitationen und von durchgeführten Ileuseinleitungen in der Kontrollgruppe signifikant höher als in der Gruppe mit der liberaleren Karenzvorschrift [34]. In weiteren Untersuchungen an ambulanten wie stationären Patienten wurden 2–3 h vor Anästhesiebeginn 150 ml Wasser, Kaffee, Tee oder klarer Fruchtsaft verabreicht, ohne dass ein Anstieg von Azidität oder Volumen des Mageninhalts festgestellt werden konnte [18, 26, 28, 46, 59, 60]. Bei keiner dieser Studien konnten vermehrt Aspirationen beschrieben werden.

In einigen Veröffentlichungen ist sogar eine signifikante Verminderung des im Magen verbleibenden Volumens bei gelockerten Karenzvorschriften für klare Flüssigkeit beschrieben worden [26, 60]. So erhoben Sutherland et al. [60] nach Narkoseeinleitung das gastrale Residualvolumen ("residual gastric volume", RGV) und den Magen-pH bei insgesamt 50 elektiv-chirugischen Patienten (ASA-Klasse I–II), von denen die Hälfte 2–3 h präoperativ 150 ml Wasser getrunken hatte. Während sich die beiden Gruppen im pH-Wert nicht von einander unterschieden, wiesen die Patienten mit oraler Wasseraufnahme vor der Operation ein signifikant niedrigeres RGV (20,6+14,1 ml vs. 29,9+18,2 ml; p<0,05) auf. Darüber hinaus zeigte sich die Kombination RGV >25 ml und Magen-pH <2,5 bei 56% der fastenden Patienten im Vergleich zu 28% der Patienten mit präoperativer Flüssigkeitsaufnahme. Zu entsprechenden Ergebnissen gelangten Maltby et al. [26], die den Effekt der Einnahme von 150 ml Wasser 2,5 h vor Allgemeinanästhesie an insgesamt 140 Patientinnen vor ambulanter Abortkurettage untersuchten. Bei den Patientinnen, die präoperativ Wasser erhalten hatten, ergab sich eine signifikante Reduktion des RGV im Vergleich zur Kontrollgruppe (17,6+14,5 versus 26,7+18,9; p<0,05).

Alle Untersuchungen weisen darauf hin, dass neue Empfehlungen, wie die der ASA zur präoperativen Nüchternheit für klare Flüssigkeiten, bei Patienten vor elektiven Operationen das Aspirationsrisiko nicht erhöhen [14].

Kontraindikationen

Während die neuen Richtlinien zur Lockerung der präoperativen Nüchternheit für klare Flüssigkeit bei Patienten vor elektiven Operationen in Narkose angewendet werden können, empfehlen aktuelle Leitlinien, vor Notfalloperation weiterhin restriktiv zu verfahren, d. h. wenn es die Situation zulässt, ein Minimum von 6 h Nahrungskarenz einzuhalten und ansonsten zumindest eine weitere perorale Nahrungsaufnahme zu unterbinden [2, 10, 52, 57].

Andere Situationen, für die empfohlen wird, das traditionelle Nüchternheitsgebot einzuhalten, sind gastrointestinale Obstruktionen jeglicher Art oder Tumorerkrankungen im oberen Gastrointestinaltrakt [23]. Allerdings sollte beim Fehlen von Subileus- oder Ileussymptomen die Indikation zur Gabe klarer Flüssigkeit bis 2 h vor Narkoseeinleitung diskutiert werden. Bislang gibt es nach unserem Wissen keine Untersuchungen zur Beeinflussung des gastralen Residualvolumens durch Tumoren oberhalb des unteren Magensphinkters. Im Zweifelsfall sollte daher auch hier individuell abgewogen werden.

Patienten mit Hiatushernien gelten allgemein als stärker aspirationsgefährdet [13]; es gibt jedoch keinen klaren Beweis für eine längere Magenentleerung oder ein größeres residuales Magenvolumen in dieser Patientengruppe [23]. Aufgrund des erhöhten Risikos einer Aspiration bei diesen Patienten sollte zur sicheren endotrachealen Intubation die Methode der Ileuseinleitung angewendet werden [13, 29].

Auch die ASA Task Force zur präoperativen Nüchternheit gibt ihre Empfehlungen ausschließlich für sonst gesunde Patienten aller Altersgruppen vor elektiven Eingriffen und spricht von einer evtl. notwendigen Modifikation ihrer Richtlinien hinsichtlich der Patienten mit Nebenerkrankungen und Umständen, die die Magenentleerung und das Volumen der gastralen Restflüssigkeit beeinflussen könnten (z. B. Notfallbehandlung, Adipositas, Diabetes, Hiatushernie, gastroösophageale Refluxkrankheit, Darmobstruktion und enterale Magensondenernährung) sowie für Patienten, bei denen das Atemwegsmanagement schwierig sein könnte [2].

Vorschlag zur Lockerung der präoperativen Flüssigkeitskarenz

Gemäß der dargestellten Erkenntnisse sollte auch für Deutschland in Anlehnung an die Leitlinien der American Society of Anesthesiologists aus dem Jahre 1999 eine einheitliche Empfehlung zur präoperativen Nüchternheit verabschiedet werden. Die in Tabelle 2 aufgeführten Kriterien für Patienten jeder Altersklasse vor elektiven operativen Eingriffen in Narkose mögen hier als Entwurf für eine derartige Empfehlung dienen. Diese sollten sich von Empfehlungen für elektive Eingriffe in Regionalanästhesie nicht unterscheiden, da potentiell jedes regionale Anästhesieverfahren bedarfsweise eine Allgemeinanästhesie nach sich ziehen kann. Insofern wird empfohlen, die Ausgangsposition des Patienten—ob Regional- oder Allgemeinanästhesie—als identisch zu betrachten. Tabelle 3 zeigt die Kontraindikationen für die Praxis der gelockerten präoperativen Nüchternheit sowie Situationen, in denen das Vorgehen seitens des verantwortlichen ärztlichen Personals individuell abgewogen werden sollte.

Tabelle 2 Empfehlungen der Autoren zur präoperativen Nüchternheit vor elektiven Operationen
Tabelle 3 Einschränkungen gegen die Lockerung der präoperativen Nüchternheit

Fazit für die Praxis

  • Das Trinken klarer Flüssigkeit bis 2 h vor einer elektiven Operation verbessert das subjektive Wohlbefinden des Patienten vornehmlich durch ein vermindertes Durstgefühl. Ein erhöhtes Risiko für Aspirationen konnte bisher nicht gezeigt werden.

  • Eine Einschränkung für eine orale Zufuhr klarer Flüssigkeit bis 2 h vor der Narkoseeinleitung gibt es bei Beachtung der Kontraindikationen unseres Erachtens nach nicht.

  • Daher kann in Anlehnung an die Leitlinien zur präoperativen Nüchternheit von verschiedenen nationalen Gesellschaften unter Beachtung der angegebenen Kontraindikationen das Trinken klarer Flüssigkeit für alle Altersklassen bis 2 h sowie das Stillen von Neugeborenen und Säuglingen bis 4 h vor Beginn der Anästhesie elektiver Eingriffe empfohlen werden.

  • Ebenso sind die Einnahme einer kleinen, festen Mahlzeit und das Trinken von Kuhmilch bis 6 h vor einer Anästhesieeinleitung möglich.

  • Eine orale Dauer- oder Prämedikation kann am Operationstag mit einem Schluck Wasser eingenommen werden.