Entwicklung eines flächendeckenden Rettungsdienstes

Der Aufbau des Rettungsdienstes in der Bundesrepublik Deutschland basiert auf der bereits 1938 formulierten Forderung des Heidelberger Chirurgen Kirschner: "Der Arzt soll also zum Verletzten kommen, nicht aber der Verletzte zum Arzt!" [21]. Die damalige Umsetzung der Idee durch den Einsatz einer "fahrbaren chirurgischen Klinik", einem Gespann aus Zugmaschine und 2 jeweils zweiachsigen Anhängern scheiterte aber ebenso an der Mobilität des Systems wie der 1957 ebenfalls in Heidelberg unternommene Versuch einen Omnibus mit Anhänger als Klinomobil einzusetzten. Ebenfalls 1957 kam dann in Köln ein umgebauter Lieferwagen als ein dem heutigen Notarztwagen entsprechendes arztbesetztes Rettungsmittel tatsächlich erfolgreich zum Einsatz. Im Jahr 1964 wurden ein VW-Käfer als erstes Arzteinsatzfahrzeug (Abb. 1), unseren heutigen Notarzteinsatzfahrzeugen entsprechend, und 1965 ein Prototyp eines Rettungswagens nach DIN vorgestellt. Die Etablierung weiterer notarztbesetzter Systeme verlief parallel mit dem technischen Fortschritt. Ein weiterer Meilenstein war die Indienststellung des ersten Rettungshubschrubers "Christoph 1" am 01. November 1970 in München.

Abb. 1.
figure 1

Im Jahr 1964 in Dienst gestelltes Heidelberger Arzteinsatzfahrzeug ("HD 10"; Foto: Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg)

Heute verfügt die Bundesrepublik Deutschland über ein sich an der "Hilfsfrist" orientierendes nahezu flächendeckendes Netz von Rettungswachen und bodengebundenen sowie luftgestützten Notarztsystemen. Neben dem Rettungsdienstpersonal kommt der Notarzt heute bei etwa 80% aller Notarzteinsätze im sog. Rendezvous-System zum Einsatz. Die schnelle Zuführung des medizinischen Teams, bestehend aus Rettungsassistenten und Notarzt, steht vor dem Transport in Deutschland auch heute weiterhin im Vordergrund (Abb. 2).

Abb. 2.
figure 2

Versorgung einer Patientin mit schwerem SHT durch den RTH-NA im Rettungswagen (Foto: A.G.)

Personal

Das Rettungsdienstpersonal gehört in Deutschland im Wesentlichen den Berufsfeuerwehren und den Hilfsorganisationen [Deutsches Rotes Kreuz (DRK), Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), Malteser Hilfsdienst (MHD), Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) u. a] an. Noch in den 80er-Jahren wurden Rettungssanitäter nach einer 520-stündigen Ausbildung eingesetzt. Erst mit Verabschiedung des Rettungsassistentengesetztes 1989 wurde das Berufsbild des Rettungsassistenten etabliert und die Ausbildung auf 2 Jahre festgeschrieben. Großzügige Übergangsregelungen machen es allerdings heute immer noch schwierig zwischen "hoch gestuften" Rettungsassistenten ohne und "echten" mit entsprechend verbesserter und verlängerter Ausbildung am Einsatzort unterscheiden zu können. Die Rettungsdienstgesetzte der Länder schreiben die Mindestqualifikation für das auf den verschiedenen Rettungsmitteln eingesetzte Personal fest.

Auch die Qualifikation der Notärzte ist heute keinesfalls einheitlich. Die Fachrichtungen Anästhesie, Chirurgie und innere Medizin sind am häufigsten vertreten [11]. Da die Facharztreife allerdings nicht gefordert wird, lässt sich die tatsächliche Qualifikation ebenfalls nicht ohne weiteres erkennen. Durch den "Fachkundenachweis Rettungsdienst" und in Folge die "Zusatzbezeichnung Notfallmedizin" wurden zwar Mindestanforderungen definiert, ob diese aber tatsächlich ausreichen; bleibt offen. Darüber hinaus variieren auch heute die Anforderungen und die einzelnen Qualifikationsmerkmale in Abhängigkeit vom zugrunde liegenden Landesrettungsdienstgesetz erheblich [19, 36].

Zuständigkeiten

Der Bund hat zwar die allgemeine medizinische Versorgung der Bevölkerung in seiner Sozialgesetzgebung und durch das Rettungsassistentengesetz die Berufsbezeichnung "Rettungsassistent" festgelegt, der Rettungsdienst ist jedoch Sache der einzelnen Bundesländer. In den Rettungsdienstgesetzen und Landesrettungsdienstplänen der Länder werden die Rettungsdienstbereiche, das Vorhaltesoll an Rettungsmitteln und die ärztliche Mitwirkung im Bereich der präklinischen Notfallmedizin geregelt. Die Verantwortung für Organisation und Durchführung des Rettungsdienstes wird allerdings an die Kreise bzw. kreisfreien Städte als Träger des Rettungsdienstes weitergegeben. Diese führen den Rettungsdienst dann entweder mit ihren Berufsfeuerwehren (Eigenregielösung) durch oder geben diese Aufgabe an die Hilfsorganisationen als eigentliche Leistungserbringer (Delegationslösung) ab [3].

Die Verfügbarkeit von präklinisch tätig werdenden Notärzten zusammen mit dem Rettungsdienstpersonal macht den wesentlichen Unterschied zwischen dem bundesdeutschen und etwa dem US-amerikanischen Rettungswesens aus. Der Aufbau der verschiedenen Systeme in den 50er-Jahren ergab sich allerdings weniger aus konkreten Überlegungen, sondern u.a. vor dem Hintergrund mehr oder weniger zur Verfügung stehender finanzieller Mittel.

Einsatzspektrum

Notarztbesetzte Rettungsmittel werden heute nach einem Notarztindikationskatalog notfall- und patientenzustandsbezogenen eingesetzt [17]. Das resultierende Einsatzspektrum bodengebundener Notarztsysteme zeigt einen Anteil von rund 75% nichttraumatologischen und etwa 25% traumatologischen Notfällen. Luftgestützte Systeme (Rettungshubschrauber, RTH) werden neben den lokal zur Verfügung stehenden Systemen häufiger als zusätzliches Notarzt- (NA-)System bei Einsätzen mit mehreren Notfallpatienten und als schnelles Transportmittel in weiter entfernte Traumazentren bereitgestellt. Dies erklärt, warum im Luftrettungsdienst traumatologische Notfälle mit rund 50% einen höheren Anteil am Einsatzspektrum haben.

Am eigenen Notarztstandort mit über 3.500 bodengebundenen Einsätzen jährlich stehen bei den nichttraumatologischen Notfällen die Einsatzdiagnosen Herz/Kreislauf (35%), Neurologie (17%) und Kollaps/Synkope (13%) sowie bei den traumatologischen Notfällen isolierte Extremitätenverletzungen (38%), das Schädelhirntrauma (SHT; 15%) und das Polytrauma (12%) im Vordergrund [29]. Die hierbei durchgeführten notärztlichen Maßnahmen des eigenen überwiegend anästhesiologisch besetzten bodengebundenen Systems fasst Abb. 3 zusammen.

Abb. 3.
figure 3

Notärztliche Maßnahmen in Prozent bei 3.558 Einsätzen des Heidelberger überwiegend anästhesiologisch besetzten Notarzteinsatzfahrzeuges (NEF) im Jahr 2002 [29]

In den Jahren 1998/99 wickelte der Rettungsdienst in Deutschland jährlich über 4 Mio. Einsätze ab, 2,05 Mio. Einsätze ohne und 1,97 Mio. mit Notarzt. Damit fanden durchschnittlich 49 Rettungsdiensteinsätze/1.000 Einwohner statt [20]. Die Kosten des Rettungsdienstes sind dabei schwer zu erfassen. Bei Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherungen von 230 Mio. DM im Jahr 1995 wurden 1,7% für "Fahrtkosten" ausgegeben, Fachleute schätzen den tatsächlichen Anteil des Rettungsdienstes auf etwa 1% der gesamten im Gesundheitssystem entstehenden Kosten [23].

Aktuelle Fragen

Bereits vor dem Hintergrund der ersten Gesundheitsreform forderte der ehemalige Bundesgesundheitsminister 1995, im Rettungsdienst 500 Mio. DM, d. h. mehr als 20% der damals geschätzten Ausgaben, einzusparen. Obwohl dies eher aus populistischen Motiven gefordert wurde, steht der Rettungsdienst auch heute unter zunehmenden Druck Kosten reduzieren zu müssen [23]. Neben immer knapper werdenden finanziellen Mitteln macht sich heute aber erstmalig ein Ärztemangel auch im Bereich der Notfallmedizin bemerkbar, und es wird darauf hingeweisen, dass nicht alle Notarztpositionen besetzt werden können [7, 11].

Vor dem Hintergrund knapper personeller und finanzieller Mittel steigen die Einsatzzahlen immer weiter an. Innerhalb der letzten 15 Jahre haben sich die bundesweiten Einsatzzahlen des Rettungsdienstes mit einer Steigerung von 1,73 Mio. im Jahr 1985 auf jährlich über 4 Mio. in den Jahren 1998/99 mehr als verdoppelt [20]. Auch am eigenen Standort lässt sich dieser Trend mit einer Verdopplung der jährlichen Einsatzzahlen zwischen 1990 und 2001 verfolgen [29].

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die zunehmende Beanspruchung des Notarztdienstes sich tatsächlich durch eine ansteigende Zahl schwer erkrankter bzw. verletzter Patienten erklären lässt, oder ob vielmehr ein Teil der Einsätze nicht indiziert ist. Andere Autoren weisen darauf hin, dass bei 30–40% aller Notarzteinsätze gar kein Notfall vorliege und ein NACA-Score zwischen I und III bei über 60% der Einsätze zeige, dass diese Patienten nicht vital gefährdet seien und ein Notarzt demzufolge nicht notwendig sei [4].

Vor dem Hintergrund einer Zunahme insbesondere von Einsätzen aus psychiatrischer oder psychosozialer Indikation wird gefordert, dass der Notarzt nicht mehr Vitalfunktionsmediziner sondern Akutmediziner sein müsse [1, 27]. Diese Forderung darf allerdings nicht dazu führen, die originären Aufgaben aus dem Auge zu verlieren und die Anforderungen an die notärztliche Qualifikation zu relativieren. Zwar hat ein überproportionaler Anstieg von Einsätzen ohne vitale Indikation zur Verschiebung des prozentualen Einsatzspektrums geführt; die Absolutzahlen der Patienten mit Polytrauma und Herz-Kreislauf-Stillstand sind aber keinesfalls zurückgegangen [20]. Auch heute können schwerer krankte oder -verletzte Patienten nur dann profitieren, wenn sie von einem wirklich qualifizierten Notarzt, der die "Vitalfunktionsmedizin" sicher beherrscht, versorgt werden (Abb. 4).

Abb. 4.
figure 4

Deutlicher Anstieg der bundesweiten Einsatzzahlen mit Zunahme nicht-traumatologischer Notfälle in den letzten 15 Jahren. In diesem Zeitraum geringer Anstieg traumatologischer Notfälle, ohne dass die Absolutzahl aber abgenommen hätte. (Nach Joó 2000 [20])

Die präklinische Versorgung von Notfallpatienten durch Ärzte und Rettungsassistenten wird als integraler Bestandteil unseres Gesundheitssystems angesehen. Die im Verlauf der Entwicklung "des besten und höchstqualifizierten" Rettungssytem der Welt dabei geschaffenen materiellen und personellen Strukturen werden als beispielhaft beschrieben [10].

Tatsächlich weisen Untersuchungen darauf hin, dass die Qualität der präklinischen Versorgung die Prognose von Notfallpatienten bestimmt [33], und dass die zusätzliche Besetzung eines Rettungsmittels mit einem qualifizierten Notarzt die Überlebensrate signifikant verbessert [14]. Dennoch ist es bis heute nicht gelungen die Überlegenheit eines arztbesetzten Systems, wie in Deutschland, gegenüber einem nichtärztlich besetzten System eindeutig nachzuweisen. Vielmehr wird beispielsweise bei der präklinischen Versorgung von Traumapatienten über z. T. gravierende Mängel der notärztlichen Versorgung berichtet. Auch wenn heute eine permissive Hypotension mit zurückhaltender Volumensubstitution bei bestimmten Verletzungsmustern neu diskutiert wird [24], zeigte eine frühere Erhebung, dass das als Standard geltende Volumenmanagement häufig inadäquat war [9, 31], oder dass der Notarzt bereits bei der Anlage der hierfür notwendigen Gefäßzugänge scheiterte [33]. Eine präklinisch initierte Beatmung wurde in 16–37% der Fälle als inadäquat eingestuft [9, 31, 33]. Große Schwierigkeiten bereitet auch die Indikation zur Anlage einer Thoraxdrainage richtig zu stellen [9]. Wenn dies allerdings geschieht, wird dennoch bei bis zu 38% der Patienten auf die Anlage einer Drainage verzichtet [31]. Auch eine adäquate Analgesie wird Traumapatienten häufig vorenthalten. Schüttler et al. konnten zeigen, dass 61% der schwer verletzten Patienten ausschließlich sediert und bei 16% der Patienten weder eine Sedierung noch eine Analgesie durchgeführt wurde [33]. Selbst eine scheinbar einfache, nichtinvasive aber sinnvolle Maßnahme, wie die Oberkörperhochlagerung zur Senkung des intrakraniellen Drucks beim SHT, wird in bis zu 59% der Fälle nicht durchgeführt [33]. Eigene Untersuchungen zeigen, dass diese erschreckenden Befunde weiterhin relevant und aktuell sind und nicht nur traumatologische Notfallsituationen betreffen. In einer Umfrage bei 66 Notärzten verschiedener südwestdeutscher Standorte, die mit durchschnittlich 16±9 Einsätzen seit 8±5 Jahren tätig waren, gab ein Drittel der Befragten an noch nie eine Thoraxdrainage angelegt zu haben (MW±SD). Auf die Frage, vor welchen Einsatzsituationen eine besondere persönliche Angst besteht bzw. es bereits zu einer Überforderung gekommen ist, gaben 79% pädiatrische Notfälle und fast 10% der Befragten das Polytrauma an [37].

Bei der Überprüfung der Qualität der notärztlichen Versorgung in Deutschland muss aber berücksichtigt werden, dass bisher keine bindenden flächendeckenden Instrumente zur Qualitätssicherung vorgehalten und konsequent umgesetzt wurden. Die ärztliche Mitwirkung in der Notfallmedizin beschränkt sich auch heute im Wesentlichen auf die "Durchführung des täglichen notärztlichen Handwerks im Rahmen der durch die Träger des Rettungsdienstes offerierten Möglichkeiten" [28]. Der Ärztliche Leiter Rettungsdienst (ALRD) als Instrument für eine Qualitätssicherung in der präklinischen Notfallmedizin ist bisher in vielen Bundesländern nicht flächendeckend implementiert worden. In Baden Württemberg kann der Leitende Notarzt (LNA) die notärztlichen Interessen im Bereichsausschuss zwar vertreten, ist hier allerdings im Gegensatz zu den Trägern des Rettungsdienstes nicht stimmberechtigt [4].

Kostengünstige und flächendeckende Planungen und Lösungsansätze scheitern dabei immer noch an historisch gewachsenen Strukturen und den Interessen einzelner. Jedes Bundesland verfügt über ein eigenes Landesrettungsdienstgesetz und hält Rettungsmittel vor, die strikt an Landesgrenzen gebunden sind. Die Bindung an Ländergrenzen führt gerade im Intensivtransport dazu, dass deutlich höhere Kosten entstehen können als bei der Entsendung des einsatztaktisch günstigeren nächststationierten Systems des Nachbarlandes. Beim Hubschraubertransport eines Intensivpatienten von Speyer (Rheinland-Pfalz) nach Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) entstehen den Kostenträgern durch Entsendung des für dieses Bundesland zuständigen und in Mainz stationierten Intensivtransporthubschraubers (ITH) deutlich höhere Kosten, als bei der Entsendung des nächsten in Mannheim stationierten Systems (Baden-Württemberg) entstehen würden.

Rettungsdienstbereiche in der Regel mit eigener Rettungsleitstelle sind historisch gewachsen und nicht nach klaren Planungskriterien definiert worden [6]. Zur kostengünstigen Optimierung gerade auch im Hinblick auf ein effizientes Qualitätsmanagement wird die Angleichung der Rettungsdienstgesetze, eine Neustrukturierung der Rettungsdienstbereiche und die flächendeckende Einführung von integrierten Leitstellen gefordert [4]. Durch die Einführung integrierter Leitstellen in unabhängiger öffentlicher Trägerschaft nach wirtschaftlichen und einsatztaktischen Kriterien und unter ärztlicher Überwachung durch den Ärztlichen Leiter Rettungsdienst kann ärztliche Mitarbeit im Rettungsdienst im Sinne eines effizienten Qualitätsmanagement implementiert werden. Die verschiedenen medizinischen Dienste Rettungsdienst, Feuerwehr, der vertragsärztliche Notdienst und andere soziale und medizinische Dienste können zentral disponiert und bedarfsgerecht eingesetzt werden [4, 16]. Die Überprüfung der Leitstellensituation in Hessen und Mecklenburg-Vorpommern im Hinblick auf eine Neustrukturierung bedarfsgerechter Dispositionsbereiche von integrierten Leitstellen erbrachte für Hessen eine mögliche Reduktion von 25 auf 5 Leitstellen mit einem Einsparpotenzial von 48% bzw. für Mecklenburg-Vorpommern eine mögliche Reduktion von 18 auf 4 Leitstellen mit einem Einsparpotenzial von über 61% [8].

In zahlreichen Ländern ist der "Fachkundenachweis Rettungsdienst" durch die "Zusatzbezeichnung Notfallmedizin" zur Verbesserung der notärztlichen Qualifikation abgelöst worden. Tatsächlich ist die Erfüllung der geforderten Qualitätsmerkmale aufwändiger. Eine mindestens 6-monatige Tätigkeit auf der Intensivstation, der Beginn der Kurse erst nach 18-monatiger Tätigkeit und 50 Notarzteinsätze unter Supervision eines erfahrenen Notarztes mit Zusatzbezeichnung sind die wesentlichen Änderungen [7]. Die Zusatzbezeichnung kann zwar auch weiterhin von Kollegen aus nichtnotfallmedizinisch tätigen Fachbereichen erworben werden; die oben genannten Kriterien können allerdings nicht mehr ohne weiteres erfüllt werden. Kleine Krankenhäuser mit Notarztstandorten, aber ohne den jeweils zum Einsatz kommenden Fachgebieten zugeordnete Intensivstationen berichten bereits jetzt über Schwierigkeiten bei der Rekrutierung des notärztlichen Nachwuchses. Ob und wie die flächendeckende Umsetzung und Einführung der Zusatzbezeichnung auch vor dem Hintergrund zurückgehender Ärztezahlen daher tatsächlich realisiert werden kann, ist Thema aktueller Diskussionen [7].

Diese Entwicklung ist gerade für die Anästhesiologie von großer Bedeutung, da die in diesem Fach klinisch tätigen Mitarbeiter die geforderten Kriterien auch weiterhin regelhaft erfüllen können [12]. In einem teilweise heftig diskutierten Beitrag weist Adams darauf hin, dass nicht überall eingesehen werde, "dass wichtige zukunftsträchtige Aufgaben unseres Fachgebietes auch außerhalb von Operationssaal und Intensivstation 'auf der Strasse' liegen und neben der Anästhesie, der Intensivmedizin und der Schmerztherapie gerade die Notfallmedizin als Kernkompetenz des Anästhesisten zu den zentralen Aufgaben des Fachgebietes Anästhesiologie gehöre" [2] (Abb. 5).

Abb. 5.
figure 5

Versorgung einer Patientin im hämorrhagischen Schock nach Suizidversuch. Präklinisch notwendige notfallmedizinische Techniken (Sicherung der Atemwege, Volumentherapie, Infusions- und Pharmakotherapie, Analgesie und Narkose) gehören zu den Routinemaßnahmen in der Anaesthesiologie (Foto: A.G.)

Lösungsansätze

Auch zukünftig muss die notärztliche Versorgung Teil unseres Gesundheitssystems bleiben. Vor dem Hintergrund der Kostendiskussion und der Schwierigkeiten bei der Besetzung einzelner Standorte ist allerdings zu fordern, dass zwar möglicherweise weniger, dann aber wirklich hoch qualifizierte Notärzte tätig werden. Die "Zusatzbezeichnung Notfallmedizin" ist ein Anfang auf dem Weg in die richtige Richtung. Auch für Notärzte muss eine regelmäßige Fortbildung gefordert werden; entsprechende Ausbildungsmaßnahmen müssen praxisnah z. B. unter Nutzung von Simulatorarbeitsplätzen oder "hands-on workshops" erfolgen [15, 25, 37]. Dabei ist der Facharztstandard zu fordern; die Funktion darf nicht mehr als Warteposition für junge und unerfahrene Mitarbeiter verstanden werden. Notärztlich eingesetzte Kollegen müssen angeleitet und mit Hilfe der Supervision" unterstützt werden. Eine vorgeschriebene und zukünftig in einzelnen Bundesländern verpflichtend eingeführte Dokumention der Notarzteinsätze mit zentraler Auswertung von minimalem Notarztdatensatz (MIND) und Mainz-Emergency-Evaluation-Score (MEES) ist im Sinne einer Qualitätsoptimierung ein Schritt in die richtige Richtung [30].

Zahlreiche Notfallsituationen erfordern jedoch nicht den Einsatz eines Notarztes. Der gut qualifizierte Rettungsassistent mit einer Ausbildung von 3 Jahren und einer definierten, dann unter Aufsicht durch den Ärztlichen-Leiter-Rettungsdienst stehenden Regelkompetenz kann den Notfallpatienten in zahlreichen Situationen sicherlich adäquat versorgen. Komplexe Situationen, Polytrauma, Reanimationen und pädiatrische Notfälle erfordern weiterhin einen, dann aber hervorragend qualifizierten Notarzt.

Der Ärztliche-Leiter-Rettungsdienst muss auf Ebene des Trägers gemäß den Forderungen und Definitionen der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften der Notärzte Deutschland e.V. (BAND), der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und der Bundesärztekammer (BÄK) in den Rettungsdienst implementiert werden. Die Übernahme dieser Funktion durch leitende Notärzte, die häufig in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Träger stehen, ist dabei wenig hilfreich [32]. Der Ärztliche Leiter Rettungsdienst kann bereits bei Organisation und Planung von Rettungsdienstbereichen mitwirken und im Sinne eines Qualitätsmanagements eine Aufsichts-, Überwachungs-, und Kontrollfunktion wahrnehmen.

Qualitätsmanagement im Rettungsdienst kann Kosten reduzieren: optimierte Standortplanung, Verringerung der Anzahl von dann integrierten Leitstellen und besser qualifiziertes ärztliches und nichtärztliches Personal auf verschiedenen Ebenen sind Beispiele. Tracerdiagnosen, wie akutes Koronarsysndrom, Schlaganfall, schweres SHT und Polytrauma, können die Versorgungsqualität reflektieren und erlauben ein "benchmarking" [32].

Durch integrierte Leitstellen müssen kassenärztlicher Notdienst, Rettungsdienst mit und ohne Notarzt im Sinne eines gestaffelten Hilfeleistungssystem effizient disponiert werden [26]. Dabei können an die regionalen Verhältnisse angepasste flexible Lösungen, wie z. B. die Integration gut ausgebildeter "First-responder-Systeme" und die Einbeziehung niedergelassener Ärzte mit entsprechender Qualifikation das therapiefreie Intervall bis zum Eintreffen des hoch qualifizierten professionellen notfallmedizinischen Teams überbrücken. Im Sinne einer "Leistungskonzentration" sind notfallmedizinische Kompetenzzentren mit interdisziplinären Notaufnahmen an Schwerpunktkliniken sowohl für die klinische Versorgung von Notfallpatienten zuständig, aber auch organisatorisch und personell für die präklinische notfallmedizinische Versorgung einer Region verantwortlich. Diese können zukünftig Mitarbeiter abstellen, die dann satellitenartig an peripheren Standorten, die über keine eigene Klinik aber weiterhin über einen Notarztstandort verfügen, notärztlich tätig werden. Die Einbindung von KV-Diensten und niedergelassenen Ärzten, für die dann aber das gleiche Anforderungsprofil gilt, muss überprüft werden. Bereits heute stellt der RTH häufig eine Rückfallebene für andere Systeme dar. Die in der Luftrettung tätigen Mitarbeiter verfügen bei einer höheren Einsatzfrequenz oft über größere Erfahrung gerade bei der Versorgung schwer erkrankter bzw. -verletzter Notfallpatienten. Die Ausweitung der Luftrettung mit 24-stündiger Einsatzbereitschaft auch für Primäreinsätze wird z. Z. diskutiert und könnte dann auch nachts ländliche Gebiete mitabdecken [32] (Abb. 6).

Abb. 6.
figure 6

RTH als Rückfallebene für bodengebundene Systeme mit grossem Einsatzradius. Eine Ausweitung der Luftrettung vor dem Hintergrund witterungs- und tageszeitlich bedingter Einschränkungen der Einsatzbereitschaft wird aktuell diskutiert. Verkehrsunfall mit LKW auf der Autobahn mit gemeinsamen Einsatz von NEF und RTH (Foto: A.G.)

Fazit für die Praxis

Vor dem Hintergrund der Einführung von "diagnosis related groups" (DRG) und knappen finanziellen Ressourcen sind Krankenhausschließungen auch zuküntig zu erwarten. Personalmangel im ärztlichen Bereich führt darüber hinaus dazu, dass gerade Notarztstandorte mit wenigen Einsätzen in Frage gestellt bzw. abgemeldet werden und längere Hilfsfristen für Notarztsysteme in Kauf genommen werden müssen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Spezialisierung der Krankenhäuser und der Bildung von Behandlungszentren wird darüber hinaus in Zukunft mit einer weiteren Zunahme der Sekundäreinsätze gerechnet [18].

Unabdingbar wird also sein die vorhandenen Ressourcen optimal und bedarfsgerecht zu disponieren. Integrierte Leitstellen werden sich hier als geeignetes Instrument längerfristig durchsetzen. Der Einsatz von kassenärztlichem Notdienst, Rettungsdienst und Notarzt erfolgt nach Indikation im Sinne eines gestaffelten Hilfeleistungssystems. Die Einführung von Regelkompetenzen für gut ausgebildete Rettungsassistenten, aber auch der Einsatz von wirklich qualifizierten Notärzten bei komplexen Notfallbildern sind erforderlich und müssen konsequent umgesetzt werden. Die Luftrettung muss gerade auch im Hinblick auf eine Zunahme von Intensivtransporten und der Abdeckung von Regionen ohne Notarztstandort ausgeweitet und umstrukturiert werden. Die Standortfrage ist auch hier, Länder übergreifend unter Einbeziehung von Primär- und Sekundärssystemen ("dual use") zu fordern. Durch die flächendeckende Implementierung des Ärztlichen-Leiter-Rettungsdienst kann ein effizientes Qualitätsmanagement sichergestellt werden [34].

Zwar weist Ahnefeld darauf hin, dass bereits vor Jahren als notwendig erkannte Umstrukturierungen bis heute immer noch nicht umgesetzt worden sind [5] und gerade auch im Rettungsdienst "starre Verwaltungsstrukturen und das Verteidigen von Machtpositionen gewichtige informelle Gegner jeder Reform sind [22]. Dennoch werden die beschriebenen strukturellen Veränderungen längerfristig nicht zu umgehen sein, ohne das in Deutschland bestehende Versorgungssystem grundsätzlich zu gefährden und in Frage zu stellen.