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Folgende Mitglieder der Sektion Ethik haben dieses Positionspapier erarbeitet:

  • Dr. med. Gerald Neitzke, Hannover;

  • Univ.-Prof. Dr. med. Hilmar Burchardi, Bovenden;

  • Univ.-Prof. Dr. jur. Gunnar Duttge, Göttingen;

  • PD Dr. med. Christiane Hartog, Jena;

  • Renate Erchinger, Schopp;

  • Dr. med. Peter Gretenkort, Viersen;

  • Dr. med. Andrej Michalsen, Tettnang;

  • Prof. Dr. med. Michael Mohr, Bremen;

  • Univ.-Prof. Dr. med. Friedemann Nauck, Göttingen;

  • Prof. Dr. med. Fred Salomon, Lemgo;

  • Univ.-Prof. Dr. med. Herwig Stopfkuchen, Mainz;

  • Univ.-Prof. Dr. med. Norbert Weiler, Kiel;

  • Prof. Dr. med. Uwe Janssens, Eschweiler.

1 Präambel

Intensivmedizin rettet Menschenleben. Entwicklungen v. a. im Bereich der technischen Verfahren und der Pharmakologie haben einen medizinischen Fortschritt ermöglicht, der eine Überlebensperspektive auch in solchen Situationen eröffnet, in denen früher das Sterben unaufhaltbar und der Tod unvermeidlich waren. Aber die Möglichkeiten und Chancen, Leben zu erhalten und zu verlängern, sind nicht frei von Ambivalenz und tragischen Konsequenzen. Das ist v. a. dann der Fall, wenn der Tod trotz intensivmedizinischer Bemühungen nicht abgewendet oder wenn das Überleben nur um den Preis einer dauerhaften schweren Einschränkung der Lebensqualität sichergestellt werden kann. Deshalb stellt sich angesichts einer schlechten Prognose häufig die Frage nach der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit der weiteren Intensivbehandlung. Wo sollen die Grenzen innerhalb des medizinisch Machbaren gezogen werden? Welche Perspektiven und welchen Sinn sehen die an der Behandlung Beteiligten und die von ihr Betroffenen?

Die Sektion Ethik der „Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin“ (DIVI) hat dieses Positionspapier als Orientierungshilfe für Menschen erarbeitet, die in der Intensivmedizin und Intensivpflege arbeiten. Die Sektion Ethik möchte damit einen Beitrag leisten für einen qualifizierten multiprofessionellen Austausch über die Sinnhaftigkeit von Therapien und Behandlungsgrenzen auf der Intensivstation. Das Positionspapier soll helfen, Einschätzungen und Hoffnungen im Einzelfall anhand konkreter Kriterien zu prüfen und zu diskutieren. In diesem Sinne verdeutlicht es die Verantwortung des Behandlungsteams.

Der v. a. im angloamerikanischen Bereich genutzte Begriff „futility“ wird hier nicht verwendet. Der Begriff ist unzureichend definiert und wird häufig auf eine ökonomische Kosten-Nutzen-Bewertung reduziert. Im Rahmen einer Behandlung muss der Sinn von diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen ohne Beachtung der ökonomischen Auswirkungen geklärt werden. Dazu liefert dieses Positionspapier Entscheidungshilfen. Nur die als sinnvoll erachteten Behandlungskonzepte dürfen weiter verfolgt werden. Nach der Feststellung der Sinnhaftigkeit ist im konkreten Entscheidungsprozess auch das gesetzlich vorgegebene Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Die gesundheitsökonomischen Rahmenbedingungen werden hingegen in einem gesellschaftspolitischen Prozess festgelegt, der nicht mit der Klärung der individuellen Sinnhaftigkeit vermischt werden darf. Auch betriebswirtschaftliche Überlegungen dürfen auf die Klärung der Sinnhaftigkeit im Einzelfall keinen Einfluss nehmen.

2 Grundlagen

2.1 Aufgaben der Intensivmedizin

Prinzipiell werden Patienten auf eine Intensivstation mit einem kurativen Therapieansatz aufgenommen. Die Intensivtherapie stellt medizinische, pflegerische sowie medizintechnische Verfahren, fachliches Wissen und eine hohe Personaldichte zur Verfügung, um Zeit für das Wiedererlangen gestörter oder verlorener Körper- und Organfunktionen zu gewinnen. Ziel ist es, dass die betroffenen Patienten, möglicherweise mit verbleibenden Defekten, ein Leben unabhängig von der Intensivstation führen können. Somit ermöglicht die Intensivmedizin im Erfolgsfall das Überleben und die Rückkehr des Patienten in ein möglichst unabhängiges und selbstbestimmtes Leben [14].

Immer wieder kommt es jedoch zu einer kompletten, teilweise irreversiblen Abhängigkeit des Patienten von lebensunterstützenden Apparaturen. In anderen Fällen wird die intensivmedizinische Behandlung nur mit schweren seelischen und körperlichen Defiziten überlebt, die für den Patienten nach Entlassung eine erhebliche Einschränkung seiner Lebensqualität und für die Angehörigen eine große und anhaltende Belastung bedeuten können [3, 8].

2.2 Sinnhaftigkeit/Sinnlosigkeit

Im Rahmen von Behandlungsprozessen muss immer wieder die Frage nach dem Sinn der Behandlung gestellt werden. Dies bezieht sich auf den Sinn eines Therapieziels und die davon abhängenden diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen Maßnahmen. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit ist nicht objektiv zu klären, sondern bedarf des Rückgriffs auf individuelle und subjektive Bewertungen, etwa zur Bedeutung von Leben, Sterben und Leid, zur Einschätzung von Lebensqualität oder zu Lebenszielen und Lebensentwürfen. Dieser Rückgriff erfolgt sowohl intuitiv „aus dem Bauch heraus“ als auch in Form eines reflektiert rationalen Prozesses.

Sinn erhalten Handlungen oder Zustände dadurch, dass ihnen eine Bedeutung zum Erreichen von (Lebens-)Zielen beigemessen wird. Was aus Sicht einer Person als sinnvolle Lebenserhaltung erscheint, kann von einer anderen Person als sinnlose Quälerei und Sterbeverhinderung bewertet werden. Die Prüfung der Sinnhaftigkeit einer Maßnahme lässt also als Ergebnis zu, dass dieselbe Maßnahme abhängig vom jeweiligen Blickwinkel als „sinnvoll“ oder „sinnlos“ bewertet wird. Zwischen diesen beiden Polen eröffnet sich ein Kontinuum von Einschätzungen, dass etwas mehr oder weniger sinnvoll sei.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit enthält 2 Komponenten: die Zweckrationalität und die Wertrationalität. Beide können getrennt voneinander betrachtet und diskutiert werden.

Zweckrationalität beschreibt die Eignung einer Maßnahme, ein bestimmtes Ziel erreichen zu können (Beispiel: „Es ist sinnvoll, diese Infektion mit Antibiotika zu behandeln.“). Sinnvoll in diesem Sinne ist eine ärztliche oder pflegerische Maßnahme dann, wenn ausreichend Erfahrung oder Evidenz vorliegt, dass diese Maßnahme mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit einen Behandlungserfolg herbeiführen kann.

Wertrational ist eine Maßnahme hingegen, wenn sie in geeigneter Weise bestimmte moralische Grundwerte ausdrückt oder zur Geltung bringt (Beispiel: „Es ist sinnvoll, einem infektiös erkrankten Patienten zu helfen.“). Diese Grundwerte sind zeit- und kulturabhängig tief im individuellen Menschenbild und Moralverständnis verankert. Wenn die Sinnhaftigkeit einer Maßnahme geprüft werden soll, müssen also u. a. Fragen nach dem Wert der angestrebten Behandlungsziele, der Bedeutung von Leid und Krankheit, den subjektiven Faktoren der Lebensqualität sowie dem Stellenwert von professioneller und familiärer Hilfe und Unterstützung geklärt werden.

Der Sinn einer Maßnahme umfasst immer beide genannten Komponenten. Deshalb enthält die Behauptung, dass eine Maßnahme sinnvoll sei, sowohl eine Bewertung ihrer Zweckrationalität (es ist fachlich sinnvoll) als auch ihrer Wertrationalität (es ist menschlich angemessen). Die Zuschreibung von Sinn kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem aus welcher Perspektive sie vorgenommen wird. Daher ist jeweils zu prüfen, wie Ärzte, Pflegende, Patienten und Angehörige zu einer Bewertung der Sinnhaftigkeit kommen und welche Bedeutung diese für die Behandlungsentscheidung hat.

Erkennt der Arzt (nach Prüfung der unter 3.1 genannten Kriterien) eine Sinnhaftigkeit, ergibt sich daraus ein Behandlungsangebot. Der Patient kann dann eine Bewertung der Sinnhaftigkeit der angebotenen Behandlung aus seiner Perspektive (vgl. 3.2) vornehmen. Erkennt der Arzt (nach Prüfung der unter 3.1 genannten Kriterien) für eine Behandlungsmaßnahme keine Sinnhaftigkeit, darf keine Indikation gestellt und die Behandlung nicht angeboten werden. Diese ärztliche Festlegung schützt den Patienten vor sinnlosen Behandlungen.

3 Kriterien der Sinnlosigkeit

In die Überlegung, ob etwas als sinnlos oder sinnvoll eingeschätzt wird, fließen sowohl objektive Fakten als auch intuitive und emotionale Wertungen ein, die auf einer Reihe von unterschiedlichen Wahrnehmungen und Haltungen beruhen. Das gilt sowohl für die professionelle Perspektive (vgl. 3.1.) als auch für die Patientenperspektive (vgl. 3.2). Die Einschätzung einer Sinnhaftigkeit kann sich auf beiden Seiten unterscheiden. Ein reflektiertes Verständnis der Sinnkriterien ist eine notwendige Voraussetzung für eine qualifizierte und tragfähige Entscheidungsfindung.

Es ist in vielen Behandlungssituationen schwierig, die Sinnhaftigkeit von Behandlungskonzepten und Behandlungsmaßnahmen zu belegen und zu begründen. Die Sinnlosigkeit von Behandlungsbemühungen lässt sich hingegen einfacher erkennen. Daher benennen diese Empfehlungen Kriterien zur Prüfung der Sinnlosigkeit. Zur Prüfung der Sinnlosigkeit von Behandlungskonzepten oder Behandlungsmaßnahmen ist zu klären:

  • Kann das angestrebte Therapieziel nach professioneller Einschätzung erreicht werden?

  • Wird dieses Therapieziel vom Patienten gewünscht?

  • Sind die Belastungen während der Behandlung durch die erreichbare Lebensqualität/Lebensperspektive aus Patientensicht gerechtfertigt?

Behandlungskonzepte oder Behandlungsmaßnahmen sind sinnlos, wenn

  • das angestrebte Therapieziel nicht erreicht werden kann,

  • dieses Therapieziel vom Patientenwillen nicht gedeckt ist,

  • die dadurch erreichbare Lebensqualität/Lebensperspektive die Belastungen während der Behandlung aus Patientensicht nicht rechtfertigt.

3.1 Professionelle Perspektive

3.1.1 Therapieziel

Ein Therapieziel ist das angestrebte Ergebnis einer Behandlung. Innerhalb des Behandlungsteams können durchaus unterschiedliche Therapieziele präferiert werden. Als Therapieziele können gelten:

  • Heilung,

  • Lebensverlängerung,

  • Verbesserung der Lebensqualität,

  • Symptomlinderung,

  • Sterbebegleitung.

Dabei sind diese unterschiedlichen Therapieziele nicht immer klar voneinander abzugrenzen.

Verschiedene Faktoren wirken auf die Bewertung von Therapiezielen ein. Dazu zählen medizinische Fakten und nachvollziehbare Prognoseeinschätzungen, individuelle Hoffnungen und Erfahrungen, aber auch professionelle Ansprüche und medizinrechtliche Aspekte. Wenn ein Therapieziel nach professioneller Einschätzung faktisch nicht erreicht werden kann, sind die darauf ausgerichteten Behandlungsmaßnahmen sinnlos. Wenn ein Therapieziel aus professioneller Einschätzung nur mit sehr geringer Wahrscheinlichkeit erreicht werden kann, sind die darauf ausgerichteten Behandlungsmaßnahmen nicht von vornherein sinnlos, sondern nur fraglich oder zweifelhaft indiziert [9, 13]. In solchen Situationen muss der Arzt die Sinnhaftigkeit der Behandlung aus Patientensicht kritisch und eingehend mit allen Beteiligten klären.

Wenn Behandlungsmaßnahmen als sinnlos bewertet werden, ist eine Therapiezieländerung unumgänglich.

3.1.2 Prognose

Die Prognose umfasst die Einschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit möglicher Krankheitsverläufe eines Patienten durch das Behandlungsteam. Die Einschätzung bezieht sich auf klinisch relevante Endpunkte wie z. B. Überleben, Wiederherstellung bestimmter Organfunktionen, Lebensqualität oder Kommunikationsfähigkeit. Prognostische Aussagen beruhen auf relevanten klinischen Befunden, statistischen Wahrscheinlichkeiten und ärztlicher/pflegerischer Erfahrung und stellen keine Vorhersage des individuellen Krankheitsverlaufs dar. Die Prognosestellung hilft, die Eintrittswahrscheinlichkeit von Therapiezielen einzugrenzen. Damit dient sie der Einschätzung der Sinnhaftigkeit von Therapiezielen.

In der Prognosestellung kommt der Irreversibilität eines Krankheitszustands eine besondere Bedeutung zu. Irreversibilität ist weniger eine objektiv feststellbare Tatsache als vielmehr eine professionelle Einschätzung und enthält auch subjektive und individuelle Bewertungen. Daher sollte diese Zuschreibung einer Irreversibilität in einem breiten multiprofessionellen Teamkonsens erfolgen. Da eine genaue Vorhersage des Schicksals eines einzelnen Patienten prinzipiell unmöglich ist, muss in diesem Konsens auch die tolerierbare Restunsicherheit geklärt werden (z. B.: „Dieser Zustand ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irreversibel.“). Mit der konsentierten Einschätzung des Zustands als irreversibel übernimmt also das Behandlungsteam die Verantwortung für eine minimale und vertretbare Irrtumswahrscheinlichkeit.

Der Einsatz von Scoresystemen zur Prognosestellung ist allenfalls zur Beschreibung von Patientengruppen bei Studien, bei qualitätssichernden Maßnahmen und zur Voraussage in großen Populationen von Intensivpatienten geeignet. Eine individuelle Voraussage der Prognose ist wegen verbleibender erheblicher Restunsicherheiten nicht möglich.

3.1.3 Patientenwille

Die als sinnvoll erachteten Behandlungsmaßnahmen dürfen nur durchgeführt werden, wenn sie dem geäußerten oder mutmaßlichen Patientenwillen entsprechen. Daher ist es in jedem Fall erforderlich, den Patientenwillen zu ermitteln. Eine Bewertung des Patientenwillens auf Grundlage der eigenen Wertmaßstäbe des Behandlungsteams darf hingegen nicht handlungsleitend sein. Bei einwilligungsunfähigen Patienten ist es in der Regel die Aufgabe des Bevollmächtigten oder des Betreuers, den Patientenwillen zu ermitteln und zur Geltung zu bringen [9].

3.1.4 Lebensqualität und Belastung

Die Bewertung der vorhandenen und erreichbaren Lebensqualität wird durch die Mitglieder des Behandlungsteams intuitiv vorgenommen, darf aber nicht als Grundlage für die Beurteilung der Sinnlosigkeit der weiteren Behandlung dienen. Diese ist ausschließlich dem Patienten vorbehalten. Damit diese Bewertung aus Patientensicht gelingen kann, ist eine ehrliche und verständliche Information über die aus den möglichen Krankheitsverläufen resultierenden Einschränkungen der Lebensqualität unerlässlich. Dabei müssen gewünschte und unerwünschte Behandlungsergebnisse und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sowohl für die Patienten als auch die Angehörigen (z. B. Überleben ohne Wiedererlangen des Bewusstseins) gleichermaßen erörtert werden.

3.2 Patientenperspektive

3.2.1 Therapieziel

Die Beurteilung, ob ein Therapieziel erreicht werden kann oder nicht, ist professionelle Aufgabe. Ob die erreichbaren Therapieziele auch gewünscht oder angestrebt werden, kann nur der Patient entscheiden. Hier spielen u. a. seine Werte, weltanschaulichen/religiösen Bindungen, Lebensentwürfe, Zukunftspläne, Hoffnungen und Ängste eine Rolle. Damit der Patient oder ggf. sein juristischer Stellvertreter eine Bewertung der grundsätzlich erreichbaren Therapieziele vornehmen kann, ist eine eingehende ärztliche Beratung über den zu erwartenden Zustand nach Erreichen des Therapieziels geboten.

3.2.2 Prognose

Der Patient bzw. sein Stellvertreter wird über die Prognose informiert. Darunter ist die Eintrittswahrscheinlichkeit der unter 3.1.1 benannten grundsätzlich erreichbaren Therapieziele zu verstehen. Dabei ist auch auf die generell bestehende Prognoseunsicherheit hinzuweisen. Die Bewertung dieser Prognose aber obliegt dem Patienten. Ob eine bestimmte Prognose also aus seiner Sicht annehmbar ist oder nicht, unterliegt allein seiner Einschätzung. Nur wenn die Prognose akzeptabel und erstrebenswert erscheint, wird der Patient der weiteren Behandlung zustimmen.

Aus Patientensicht spielt bei der Bewertung einer Prognose nicht nur die Erfolgswahrscheinlichkeit eine Rolle. Es erscheint zwar bei einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit rational, die Prognose als gut zu bewerten und demzufolge optimistisch zu reagieren. Entsprechend kann eine niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit eine pessimistische Bewertung rechtfertigen.

Aber selbst bei geringer Erfolgswahrscheinlichkeit sehen viele Patienten Grund zur Hoffnung. Ob aus Sicht eines Menschen Hoffnung besteht, richtet sich in diesem Fall weniger nach der faktisch bestehenden Wahrscheinlichkeit als vielmehr nach der Möglichkeit eines positiven Ausgangs. Die unterschiedliche Bedeutung von Optimismus und Hoffnung sollte deshalb bei der Beratung des Patienten oder seines Stellvertreters berücksichtigt werden.

3.2.3 Patientenwille

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist ein hohes ethisches Gut und gesetzlich garantiert. Der Patientenwille muss respektiert werden [5]. In Bezug auf die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des weiteren Vorgehens bedeutet dies: Autonomie kann nur wirksam werden, wenn sie unterstützt und begleitet wird. Dazu zählen eine patientenorientierte ergebnisoffene Aufklärung und die Bereitschaft, Therapieziele und Prognosen im Rahmen einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung zu erläutern.

Der Patientenwille ist nicht immer eindeutig und kann sich im Verlauf einer Behandlung verändern. Insbesondere bei konkurrierenden oder widerstrebenden Interessen ist eine wiederholte Beratung und Unterstützung durch das Behandlungsteam hilfreich. In Bezug auf den Sinn weiterer Behandlungsmaßnahmen kann auch eine erhebliche Ambivalenz vorliegen. Im Rahmen einer Beratung sollten die Werthaltungen des Patienten und seine mutmaßliche Perspektive auf den Erkrankungsverlauf angesprochen werden.

Falls sich widersprechende Willensäußerungen – etwa zwischen einer Patientenverfügung und der Einwilligung in eine vor Kurzem durchgeführte Operation oder zwischen dem mutmaßlichen Willen und aktuellen Äußerungen des nicht sicher einwilligungsfähigen Patienten – wahrgenommen werden, muss dieser Widerspruch so weit wie möglich geklärt werden: Stellen die aktuellen Äußerungen einen Widerruf der Patientenverfügung dar? Bis zu welchem Punkt rechtfertigt die präoperative Aufklärung und Einwilligung in eine Operation die nachfolgende Weiterbehandlung und ab wann bedarf es einer neuen Bewertung und Entscheidung aufgrund des geäußerten oder mutmaßlichen Patientenwillens?

3.2.4 Lebensqualität/Belastung

Die WHO definiert Lebensqualität als „die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertsystemen, in denen sie lebt, und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen“ [15]. Lebensqualität ist demnach eine subjektive Bewertung, die über die Zeit veränderlich ist und sich objektiv nur schwer fassen lässt. Dennoch darf die Frage nicht übergangen werden, wie die aktuelle oder zukünftig erwartete Lebensqualität eingeschätzt und ob sie akzeptiert wird. Sie kann nur vom Patienten selbst und zuverlässig nur für die aktuelle Situation beantwortet werden. Einschränkend für die Bewertung einer möglichen zukünftigen Lebensqualität gilt, dass sie sich durch das Erleben der tatsächlichen Situation ändern kann. Beispielsweise kann das Leben im Rollstuhl von einem derzeit gesunden Menschen als nicht akzeptabel bewertet werden, dagegen kann derselbe Mensch im Fall des tatsächlichen Erlebens dieser Situation diese als durchaus lebenswert erfahren.

Für die Einschätzung durch den Patienten ist auch die körperliche und seelische Belastung durch die Intensivtherapie von Bedeutung. Für Patienten können Therapiemaßnahmen schmerzhaft, eingreifend und mit dem Verlust von Kontrollfunktion, Intimsphäre und Persönlichkeitsrechten verbunden sein. Wird die Intensivtherapie als sinnhaft eingeschätzt, werden diese Belastungen eher in Kauf genommen. Bei abnehmender Sinnhaftigkeit tritt die Bedeutung der Belastungen für eine Neubewertung des Therapieziels zunehmend in den Vordergrund.

3.3 Behandlungsversuch

Lässt sich die Prognose zunächst nicht mit der nötigen Sicherheit stellen, kann die definitive Entscheidung durch einen begrenzten Behandlungsversuch vorbereitet werden. Bei einem solchen Versuch wird eine potenziell sinnvolle Behandlung zunächst begonnen und auf ihren Erfolg geprüft. Selbst wenn der erwünschte Behandlungserfolg ausbleibt oder fragwürdig erscheint, wird auf diese Weise die definitive Entscheidung für alle Beteiligten sicherer.

Ein solcher Behandlungsversuch bei Entscheidungsunsicherheit muss ein klares Therapieziel verfolgen, das mit einer realistischen Chance erreichbar erscheint. Dieses angestrebte Therapieziel sollte außerdem in einem überschaubaren Zeitraum erreicht werden können (z. B.: „Wenn die kardiale Funktion innerhalb einer Woche nicht wesentlich besser wird …“). Sonst besteht die Gefahr, dass die definitive Entscheidung von einer trügerischen Hoffnung zur nächsten hinausgeschoben wird.

4 Herausforderung bei der Umsetzung

4.1 Entscheidungen in der Unsicherheit

Medizinische Prognosen sind als Voraussage für den individuellen Krankheitsverlauf unsicher. Es bleibt grundsätzlich ein gewisses Maß an Unsicherheit, derer sich das Behandlungsteam bewusst sein muss. Gerade in der Intensivmedizin kann sich die Krankheitssituation dramatisch und unerwartet ändern. Deshalb müssen sowohl die Prognose als auch die daraus abgeleiteten Entscheidungen ständig hinterfragt und neu angepasst werden.

Bei den Gesprächen mit den Patienten und Angehörigen darf diese Ungewissheit nicht ausgeblendet werden. Unterschiedliche erwartbare Krankheitsverläufe sollten offen mit den daraus folgenden Konsequenzen angesprochen werden. Dies steht jedoch im Widerspruch zum Bedürfnis mancher Patienten und Angehörigen nach Eindeutigkeit. Es sollte vermieden werden, eine solche Eindeutigkeit von professioneller Seite vorzutäuschen.

4.2 Erfolgswahrscheinlichkeit gering

In manchen Behandlungssituationen erscheint ein Behandlungserfolg sehr unwahrscheinlich. In diesen Situationen kann die Indikation für lebensunterstützende Maßnahmen nicht automatisch negiert werden, bleibt aber fraglich.

Zunächst sollte deshalb im multiprofessionellen Team ein Konsens erreicht werden. Danach müssen Arzt und Behandlungsteam mit dem Patienten und/oder seinem gesetzlichen Vertreter das jeweils medizinisch Machbare mit dem aus der Patientenperspektive Angemessenen abwägen, um die individuellen Grenzen der Therapie festzulegen [7, 9, 11].

Dazu sind regelmäßige und offene Gespräche zwischen dem Patienten (und/oder dem gesetzlichen Vertreter), den Angehörigen und dem Behandlungsteam erforderlich [2]. Dieser Dialog dient dazu, dass sich alle Beteiligten bei sehr geringer Erfolgswahrscheinlichkeit und hohem Risiko bzw. hoher Belastung über die Sinnhaftigkeit verständigen können.

Wenn nicht einschätzbar ist, ob das (bisherige) Therapieziel mit intensivmedizinischen Maßnahmen erreichbar ist, aber wegen hoher Dringlichkeit keine Zeit für eine gemeinsame Entscheidungsfindung bleibt, dann erscheint ein Behandlungsversuch gerechtfertigt. Ausdrücklich soll eine Reevaluierung nach einem zuvor vereinbarten Intervall erfolgen.

4.3 Überleben nahezu ausgeschlossen

Ist ein Überleben mit vertretbarer Restunsicherheit ausgeschlossen, muss das Therapieziel hin zur palliativmedizinischen Versorgung geändert werden [12]. Diese Entscheidung sollte einfühlsam und transparent mit dem Patienten und der Familie bzw. dem Patientenvertreter besprochen werden, um möglichst ein Einverständnis und Einvernehmen herbeizuführen.

Eine Zustimmung des Patienten oder seines Stellvertreters ist hingegen in diesen Situationen juristisch nicht erforderlich. Ist eine ärztliche Behandlung sinnlos oder unmöglich (geworden), bleibt für das Selbstbestimmungsrecht von vornherein kein Raum (BGHZ 154, 205, 224 f.). Der Dialog zwischen behandelndem Arzt und Betreuer/Bevollmächtigtem wird erst auf der Grundlage einer vorausgehenden Indikationsstellung möglich (§ 1901b Abs. 1 BGB). Diese fällt vollständig in die ärztliche Verantwortung.

In Einzelfällen gibt es jedoch durchaus Gründe, eine für das Überleben des Patienten sinnlose intensivmedizinische Behandlung begrenzt weiterzuführen. Hierzu zählt die Aufrechterhaltung der Organfunktionen bei einer vorgesehenen Organspende [6] oder eine zeitliche Überbrückung, um Angehörigen den Abschied zu ermöglichen, solange dies nicht dem erklärten Patientenwillen widerspricht.

Eine ungerechtfertigt abwartende Haltung, also das Vermeiden oder Verdrängen einer Entscheidung zur Therapiezieländerung, hat jedoch auch Entscheidungscharakter: Sie kann einem Patienten in seiner letzten Lebensphase deutlich mehr Leid als Nutzen zufügen und ist damit nicht zulässig [9].

4.4 Therapieziel aus Sicht des Patienten sinnlos

Es kommt vor, dass aus ärztlicher Sicht erreichbare Therapieziele vom Patienten nicht mitgetragen werden, da sie seiner Vorstellung von einem guten Leben nicht entsprechen. Es kann auch sein, dass ein Therapieziel vom Patienten deshalb nicht angestrebt wird, da er die Belastungen durch die notwendige Behandlung nicht auf sich nehmen möchte. In beiden Fällen erscheint die Behandlung aus Sicht des Patienten als sinnlos und ist daher nicht durchzuführen.

Das Behandlungsteam muss sich bewusst machen, dass jenseits medizinischer Befunde und Kriterien patienteneigene Bewertungen existieren, die die Sinnhaftigkeit einer ärztlich indizierten Therapie infrage stellen. Dazu gehören z. B. die Vorstellung eines gelingenden Lebens und guten Sterbens, die Bedeutung des Tods, individuelle Lebensziele und Aspekte der Lebensqualität.

In jedem Fall ist vor Beendigung lebensverlängernder Maßnahmen aufgrund einer solchen Patientenselbsteinschätzung sicherzustellen, dass diese Entscheidung nicht auf einer krankheitsbedingten und vorübergehenden Stimmungslage beruht. Bei jedwedem Zweifel sollte eine unabhängige professionelle Einschätzung (z. B. durch einen Psychiater) erfolgen.

Wenn aus Sicht des Patienten die Weiterbehandlung sinnlos ist, kann sie nicht durch eine vermeintliche Hilfeleistungspflicht gerechtfertigt werden, sondern entspricht juristisch dem Tatbestand einer strafbewehrten Körperverletzung.

4.5 Vorgehen in Konfliktsituationen

Differenzen über die Erreichbarkeit von Therapiezielen und den Sinn von Behandlungsmaßnahmen können grundsätzlich zwischen allen Beteiligten entstehen und die notwendige Klärung des Therapieziels verzögern oder vereiteln. Innerhalb des Behandlungsteams können Unterschiede in der professionellen Einschätzung der erreichbaren Therapieziele zu Konflikten auf verschiedenen Hierarchieebenen sowie zwischen und innerhalb der beteiligten Fachdisziplinen und Berufsgruppen führen. Auch sollte selbstkritisch geprüft werden, ob sachfremde Motive oder sekundäre Interessen in die Bewertung einfließen [16]. Es kann auch Konflikte zwischen Angehörigen und Behandlungsteam oder unter den Angehörigen geben.

Persönliche Betroffenheit, emotionale Belastungen und die (empfundene) Abhängigkeit vom Behandlungsteam können es für Patienten und ihre Angehörigen schwer machen, ihre Empfindungen zu ordnen und zielführende Fragen zu formulieren und vorzubringen. Die Sinnhaftigkeit von Therapiezielen und -maßnahmen kann aber nachhaltig nur unter Einbeziehung aller Betroffenen bewertet werden. Es ist – bei aller Belastung – Aufgabe des Behandlungsteams, eine dafür angemessene Atmosphäre zu schaffen. Auch innerhalb des Behandlungsteams muss es jedem Mitarbeiter, unabhängig von seiner Berufsgruppenzugehörigkeit und hierarchischen Stufe, möglich sein, Fragen zur Sinnhaftigkeit der jeweiligen intensivmedizinischen Maßnahmen zu formulieren und mögliche äußere Einflüsse und Motive bei Therapieentscheidungen zur Sprache zu bringen.

Insgesamt ist eine adäquate interdisziplinäre und interprofessionelle Kommunikation im Sinne einer offenen und auf Leitungsebene auch vorgelebten Gesprächskultur eine wesentliche Voraussetzung zur Vermeidung oder Lösung von Konflikten. Dazu gehören regelmäßige Teambesprechungen, die ggf. auch Behandelnde anderer Abteilungen einschließen, sowie strukturierte Angehörigengespräche [7]. Zusätzliche Möglichkeiten bestehen in der Beratung von externen Experten, wie z. B. im Rahmen einer Ethik-Fallberatung durch ein klinisches Ethikkomitee [4] oder einer palliativmedizinischen Konsultation [10].

Die Unsicherheit im Verständnis rechtlicher Vorgaben zu den ärztlichen Entscheidungen am Lebensende und die Sorge vor juristischen Konsequenzen [1] können dazu führen, dass schriftliche oder mündliche Patientenwünsche und damit der autonome Patientenwille übergangen werden. Eine regelmäßige Aus- und Weiterbildung der Mitglieder des Intensivteams auch in ethischen, palliativmedizinischen und juristischen Grundlagen, verbunden mit einer kontinuierlichen Selbstreflexion, kann helfen, mehr Klarheit in der Vorgehensweise zu schaffen.

Innerfamiliäre Konflikte hinsichtlich der wertrationalen Sinnhaftigkeit intensivmedizinischer Maßnahmen kann ein Behandlungsteam vermutlich oft nicht oder nur ansatzweise zu lösen helfen. Die Bewertung der zweckrationalen Sinnhaftigkeit bleibt allerdings auch im Konfliktfall abschließend eine ärztliche Aufgabe.

5 Entscheidungshilfen

Fragen über Sinn oder Sinnlosigkeit von Therapiezielen und Behandlungsmaßnahmen erfordern eine Bewertung durch die einzelnen Beteiligten. Die Frage, ob eine Erfolgswahrscheinlichkeit ausreichend groß ist oder ob der Patientenwille mit ausreichender Sicherheit festgestellt werden konnte, muss individuell geklärt und kann nicht immer objektiv gesichert werden. Eine Reflexion dieser Einschätzungen kann durch die nachfolgenden Fragen unterstützt werden.

5.1 Fragen zur Reflexion im Behandlungsteam

  • Halten Sie es für realistisch, dass der Patient die aktuelle Krankheitssituation überlebt?

  • Wurde die Überlebensprognose anhand objektiver Methoden eingeschätzt?

  • Nehmen Sie an, dass der Patient im Fall des Überlebens einen Gesundheitszustand erreicht, der seinen Vorstellungen von Lebensqualität entspricht?

  • Existiert eine Patientenverfügung, die den Standpunkt des Patienten verdeutlicht?

  • Liegen Ihnen andere Hinweise zum geäußerten oder mutmaßlichen Patientenwillen vor?

  • Gehen Sie davon aus, dass der Patient die aktuell eingesetzten Therapiemethoden für angemessen hält, um eine Verbesserung seines Gesundheitszustands und seiner Lebensqualität zu erreichen?

  • Halten Sie es für möglich, dass die eingesetzten Diagnose- und Therapieverfahren den Patienten unvertretbar belasten und die aktuelle Lebensqualität des Patienten weiter verschlechtern?

  • Rechnen Sie mit einer Verbesserung der aktuellen Situation (im Sinne einer Verbesserung der Lebensqualität unter der Therapie)?

  • An welchem kurzfristig evaluierbaren Therapieziel machen Sie eine Verbesserung fest?

  • Bestehen aus Ihrer Sicht Umstände (Erwartungshaltungen innerhalb des Teams, bei einzelnen Mitarbeitern, bei Angehörigen), die eine Bewertung von Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit erschweren?

  • Sind solche Umstände bereits unter den Beteiligten erörtert worden?

  • Wird die Einschätzung des behandelnden Arztes zu Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit von allen Beteiligten geteilt?

5.2 Fragen zur Selbstreflexion von Stellvertreter bzw. Angehörigen

  • Was wünschen Sie sich selber? Was wünschen Sie sich für den Patienten? Was glauben Sie, wünscht sich der Patient?

  • Ist Ihnen bewusst, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass der Patient diese Krankheitsphase überlebt?

  • Ist Ihnen die Einschränkung der Lebensqualität bewusst, falls der Patient diese Krankheitsphase überlebt (z. B. Pflegebedürftigkeit, Kommunikationsunfähigkeit)?

  • Welche Bedeutung hat das für Ihre Beurteilung?

  • Haben Sie geprüft, ob die aktuelle Therapiesituation und das aktuelle Therapieziel mit der Patientenverfügung des Patienten bzw. mit seinen früher geäußerten Standpunkten übereinstimmen?

  • Welche sonstigen früheren Äußerungen des Patienten (jenseits der Patientenverfügung) könnten noch relevant dafür sein, was er sich in der jetzigen Situation wünscht? Beispiele: Wie ist er mit Krankheit umgegangen? Welche Erfahrung hat er mit Sterbenden gemacht? Was war für sein Leben wichtig? Was trug für ihn zur Lebensqualität bei? Welche Lebenspläne hatte er zuletzt?

  • Fühlen Sie sich ausreichend informiert, um eine Bewertung der Sinnhaftigkeit aus Sicht des Patienten vorzunehmen?

Die Ergebnisse solcher Reflexionen sind unbedingt strukturiert zu dokumentieren, um die relevanten Überlegungen und Einschätzungen für alle Beteiligten verfügbar zu machen.