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Die neue digitale Welt der Pflege stellen wir Ihnen in einer Serie in den folgenden Ausgaben vor. Dabei gehen wir diesen und anderen Fragen nach: Welche Erfahrungen wurden in einer Einrichtung mit assistiven Technologien gesammelt? Wie bringt ein Netzwerk Anbieter innovativer Lösungen und Pflegefachkräfte zusammen? Was bringt „RoboLand“ für die Betreuung von Menschen mit Demenz?

© HASLOO / Getty Images / iStockc

Personenbezogene Dienstleistungen wie Alten-, Gesundheits- und Krankenpflege sind geprägt durch Fürsorge und soziale Interaktion und weisen im Vergleich zu Branchen wie Telekommunikation oder Versicherungswesen einen geringen Digitalisierungsgrad auf. Für die Gesundheits- und somit die Pflegebranche wird eine längerfristige Entwicklung mit einem erheblichen Ausmaß prognostiziert. Zu den Treibern zählen das E-Health-Gesetz, dem es zuzurechnen ist, dass Videosprechstunden nun reguläre Leistung der gesetzlichen Krankenkassen sind, ebenso wie die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation, die den Einsatz mobiler Endgeräte wie Tablets und neuer Computerprogramme motivieren. Art und Ausmaß der Digitalisierung unterscheiden sich dabei innerhalb der Pflege, so auch zwischen ambulant und stationär.

Sprung in die Praxis steht noch bevor

Mit der Digitalisierung werden sowohl Potenziale für die Arbeitsgestaltung der Beschäftigten assoziiert, als auch die Möglichkeit, Menschen mit Pflegebedarf in ihrer Selbstbestimmung zu stärken. Eine Vielzahl der Lösungen trägt derzeit jedoch noch das Etikett „Forschung und Entwicklung“. Im Folgenden einige Best Practice Beispiele für aktuelle Projekte.

Organisations- und prozessbezogene Unterstützung: Strukturierung, Standardisierung und damit verbunden Ressourcen- sowie Effizienzgewinne — dafür steht Digitalisierung. Eine digitale Dienstplanung visualisiert und erleichtert die Schichtplanung, ermöglicht eine kurzfristige Reaktion bei Planungsänderungsbedarf (z.B. bei Krankheit) sowie eine vorausschauende Planung. Auch die Tourenplanung, speziell in der ambulanten Pflege, wird zunehmend digital unterstützt. Das Projekt Dynasens (2012–16) integriert Sensoren in Pflegekleidung, die individuelle Belastungssituationen Pflegender erfassen. Auf dieser Datengrundlage erfolgen die Tourenplanung sowie die Gestaltung individuell zugeschnittener präventiver Trainings- und Schulungsprogramme. Eine Optimierung der Ressourcen wird zudem durch Systeme wie Service- und Transportrobotik ermöglicht, die z.B. Verbrauchsmaterialien, Medikamente oder Wäsche transportieren. Über mobile Endgeräte können sie gerufen und ihnen Arbeitsaufgaben zugewiesen werden. In stationären Einrichtungen können sie heute nahezu autonom navigieren.

Minderung körperlicher und psychischer Belastungen: Tätigkeiten wie Umlagern, Mobilisieren, Hilfe beim Aufstehen belasten den Bewegungsapparat. Obwohl vielfach zumindest im stationären Bereich Lifter für den Transfer zur Verfügung stehen, werden Patienten manuell bewegt, da Geräte nicht vor Ort oder die Anwendung solcher zeitintensiv sind.

ELEVON (Fraunhofer IAO, 2017) ist ein Multifunktionslifter, der Transfervorgänge autonom ausführen und Patienten liegend und sitzend transportieren kann. Das Personal spart Zeit und Laufwege, da es den Lifter per Knopfdruck anfordern kann.

Die CareJack (2012–15) kann in der ambulanten Pflege eingesetzt werden, wo Lifter in der Regel nicht verfügbar sind. Sie unterstützt das Heben mittels einer Oberkörperorthese, die mit winzigen Elektronikkomponenten ausgerüstet und als leichte Weste getragen wird. Träger erzeugen durch die eigene Bewegung Energie (z.B. beim Beugen), die gespeichert und beim Heben als Kraftunterstützung freigegeben wird.

Zur Erleichterung körperlich beanspruchender Mobilisierung Pflegebedürftiger auf Intensivstationen entwickelt MobiPar (2017–20) ein Pflege- und Rehabilitationssystem, das mittels Roboterkomponenten am Bett u.a. das Aufrichten und das Gehbewegungstraining unterstützen.

Tab. 1 Technologische Entwicklungen als Treiber der Digitalisierung

Zur Erhöhung der Selbstständigkeit Pflegebedürftiger trägt ROBINA (2017–20) bei, indem Mobilitäts- und Assistenzhilfen komplett auf ein technisches Assistenzsystem übertragen werden. Motiviert durch das Krankheitsbild Amyotropher Lateralsklerose (ALS), das u. a. zu hochgradigen motorischen Einschränkungen führt, wird eine Unterstützungsrobotik für Pflegebedürftige entwickelt, mit der sie Aufgaben wie Anreichen, Halten oder Kratzen vom robotischen Assistenten ausführen lassen können. Zudem werden Systeme entwickelt, die Entscheidungshilfen in komplexen Situationen bieten können, wie im Projekt MoCaB (2016–19), das anhand von Sensordaten aus Aktivitätsanalysen in Krisensituationen Entscheidungs- und Interventionshilfen vorschlägt.

Akteurs- und sektorenübergreifende Vernetzung: Zur Vereinfachung von Pflegeprozessen und Sicherstellung der Kommunikation ist eine Vernetzung intersektoral und interprofessionell sinnvoll, das zeigt die erfolgreiche Nutzung der elektronischen Patientenakte in Schweden. Sie ermöglicht eine automatische Datenübergabe zwischen den Akteuren auch intersektoral, was auch doppelte Dokumentationen vermeidet.

Mit Bea@home (2013–16) wurde ein neues Versorgungs- und Pflegekonzept für langzeitbeatmete Patienten entwickelt, das die gesamte Versorgungskette vom Krankenhaus über die stationäre Pflegeeinrichtung bis zur häuslichen Umgebung berücksichtigt. Für die Vernetzung wurde ein elektronisches Pflegedokumentationssystem für den intersektoralen Zugriff und eine sogenannte videobasierte eKonferenz für den direkten Austausch umgesetzt. Dies ist auch in ländlichen Regionen relevant: So unterstützt MORECARE (2016–18) die Pflege durch mobile Rehabilitationsteams im häuslichen und stationären Umfeld und vernetzt dafür Reha-Teams, pflegende Angehörige und ambulante Pflegedienste technisch miteinander. Über körpernahe Sensorsysteme werden Mobilitätsdaten erfasst und die Bewegung von Pflegebedürftigen spielerisch und therapiegerecht gefördert. Die Dokumentation erfolgt semi-automatisch und ist zugänglich für alle beteiligten Akteure.

Im Vorhaben Pflegebrille (2016–19) wird der Einsatz von Datenbrillen, auf deren Brillenglasinnenseite Informationen virtuell eingeblendet werden, kombiniert mit Sensortechnologien untersucht, um die Kooperation professionell und informell Pflegender zu unterstützen. Die „intelligente“ Brille setzen Pflegende auf, um beispielsweise einander Informationen zu übergeben sowie versorgungsrelevante Anleitungen zu erhalten.

QuartrBack (2015–18) möchte dazu beitragen, mittels Technologien für Ortung, Monitoring und Information ehrenamtliche Helfer wie Angehörige, Nachbarn und Freiwillige mit professionellen Diensten des Quartiers zu vernetzen, um ein demenzfreundliches Gemeinwesen zu gestalten. Der Technologieeinsatz soll u.a. ermöglichen, risikoarme Bereiche zu definieren, in denen sich Betroffene bewegen können, um so zu Teilhabe und individuellen Kompetenzen von Menschen mit Demenz beizutragen.

Ansätze praxistauglich machen

Führt Digitalisierung zu mehr Freiraum für zwischenmenschliche Interaktion? Entlastet die Technologie bei physisch belastenden und psychisch beanspruchenden Tätigkeiten?

Beide Fragen lassen sich erst beantworten, wenn die Systeme aus der Forschung und Entwicklung in die praktische Erfahrungswelt drängen. Die Nutzung im Pflegealltag erfolgt bislang nur punktuell, überwiegend im organisationsbezogenen Bereich wie Abrechnung und Dokumentation. Darauf reagieren u.a. die Modellvorhaben des GKV-Spitzenverbands und die Initiative „Pflegeinnovationen 2020“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). So ist das Projekt PflegeTab (GKV, 2017) damit beschäftigt, Nutzen und Wirksamkeit der Beschäftigung von Menschen mit Demenz mittels Tablet-Computern kombiniert mit innovativen Betreuungskonzepten zu untersuchen. Mit der Maßnahme „Zukunft der Pflege“ (BMBF online) sollen künftig vier Pflegepraxiszentren gefördert werden, die strukturiert Lösungen in die Praxis einführen und diese evaluieren sowie gegebenenfalls anpassen. Die Erfahrungen werden dann auch in die curriculare Gestaltung der beruflichen wie hochschulischen Bildung einfließen.

Pflegende involvieren

Die Einführung neuer Technologien ist komplex und damit auch zeitaufwändig, weil Informationsflüsse organisiert und strukturiert werden müssen. Die Betrachtung der Schnittstellen von Menschen in der Pflege, der geplanten Technik und die Einbettung in die Organisation sind hier zentrale Zukunftsaufgaben. Dafür ist es entscheidend, dass Pflegende in die Gestaltung der digitalen Versorgungswelt involviert werden. Sie verfügen nicht nur über wertvolles Wissen für die Arbeitsgestaltung. Das Gelingen hängt auch von ihnen und ihrer Bereitschaft ab, sich erforderliche Kompetenzen für den Umgang mit Technologien anzueignen.

Das BMBF fördert seit 2012 mit Nachdruck das Konzept der integrierten Forschung (BMBF online). Dabei geht es explizit darum, in interdisziplinäre Forschungsverbünden Pflegende wie Pflegebedürftige einzubinden. Ferner sind methodische Kompetenzen gefragt, um nutzerzentriert und partizipativ zu entwickeln. Um die Rolle von Anwendungspartnern wie Pflegediensten in den Verbünden zu stärken, werden diese vielfach als Koordinatoren der Projekte gefördert.

Wie wollen wir pflegen und gepflegt werden?

Werden neue Technologien den Menschen ersetzen und Pflege automatisieren? Können Pflegebedürftige künftig noch mitbestimmen, wie sie gepflegt werden? Die Beziehung zwischen Pflegenden und Gepflegten steht auch künftig im Mittelpunkt der Pflegearbeit. Empathie und Erfahrungswissen können nicht unmittelbar auf Technik übertragen werden. Zwar gibt es robotische Systeme wie die Roboter-Robbe „Paro“ oder die Roboter-Katze „JustoCat“; deren Anwendung ist aber durch die Betreuung Pflegender vorgesehen.

Dennoch, der zunehmende Einsatz autonom agierender Technologien ruft ethische, rechtliche und soziale Fragen hervor. Beteiligte des Pflegenetzwerks ebenso wie forschende Hochschulen und Unternehmen müssen sich deshalb als mündige Verantwortliche des Prozesses begreifen und entsprechende Rahmenbedingungen aushandeln.

Die wenigen am Markt verfügbaren Roboter sind im Aufgabenspektrum begrenzt und übernehmen einfache Tätigkeiten, die sich leicht automatisieren lassen, wie die Verteilung von Medikamenten. Forschungsprojekte, die sich mit der emotionssensitiven Gestaltung beschäftigen, machen deutlich, dass eine kontinuierliche Reflexion des Technikeinsatzes und möglicher Auswirkungen erforderlich sind. Auch der Faktor IT-Sicherheit ist dabei bedeutend, wie der jüngst erfolgte Hackerangriff „WannaCry“ verdeutlicht. Dieser schließt den Schutz persönlicher Daten, aber auch die ausfallsichere Ausstattung der Systeme ein. Die Antworten auf die Fragen hängen also am Gestaltungswillen und nicht allein an den technischen Möglichkeiten.

Tipp: In der nächsten Ausgabe berichten Mitarbeiter des Bethel-Seniorenzentrums Breipohls Hof in Bielefeld, welche Erfahrungen sie beim Einsatz von assistiven Technologien in einer vollstationären Pflegeeinrichtung gesammelt haben.

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Maxie Lutze