Zusammenfassung
Die These, daß die Angelegenheiten aller Menschen irgendwie zusammenhängen, dürfte heute kaum Widerspruch finden. Die begriffliche Konstruktion dieses Zusammenhanges und dessen genaueres Verständnis bereiten jedoch beträchtliche Schwierigkeiten. Das liegt teils an der Komplexität des Gegenstandes, teils auch — wie wir sehen werden — daran, daß überlieferte Denkvoraussetzungen und Begriffsprägungen uns die unbefangene Annäherung erschweren. Die „Idee eines Weltreichs“ sei „hassenswerth“, ereiferte sich Heinrich von Treitschke, die Vielheit der Nationalstaaten dagegen eine „nothwendige und vernunftgemäße“ (1)*. Es sei noch nicht so weit, aber die Tendenz ziele auf fortschreitende Zusammenfassung der menschheitlichen Zivilisation aller Völker in einem Gesellschaftskörper, meinte gleichzeitig Albert Schaf fle (2). Die Denkmittel und Argumente, mit denen solche Positionen entfaltet wurden, sind heute als unzulänglich durchschaut; aber ein überzeugender Ersatz ist noch nicht gefunden. An die Stelle einfacher und kurzschlüssiger Kontrastierungen ist eine Konfusion okkasioneller, nicht aufeinander bezogener Meinungen und ein methodisch bedingter Agnostizismus getreten (3). Dabei wird das Problem der Weltgesellschaft kaum mehr gestellt. Es wird durch die Staubwolken verdeckt, die die Kontroversen um den Gesellschaftsbegriff und die Gesellschaftstheorie auf der einen, die Diskussion der Weltlage in politischer oder ökonomischer, spieltheoretischer oder entscheidungstaktischer Hinsicht auf der anderen Seite aufgewirbelt haben.
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Anmerkungen
Politik, Bd. I, Leipzig 1897, S. 29 bzw. 28.
Bau und Leben des Sozialen Körpers, Bd. I, 2. Aufl., Tübingen 1896, S. 330 ff. Ähnlich René Worms, Organisme et société, Paris 1895, S. 32 f.
Zum letzteren die sehr ernst zu nehmenden Bedenken von Erwin K. Scheuch,„Methodische Probleme gesamtgesellschaftlicher Analysen“, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages Frankfurt 1968, Stuttgart 1969, S. 153–182. Als ein für die Gessr,:tlage typisches Erzeugnis vgl. Samuel Z. Klausner (Hrsg.), The Study of Total Societies, Garden City, N. Y. 1967.
Zur Abgrenzung von Moral und Recht unter diesem Gesichtspunkt vgl. Jean Piaget, „Les relations entre la morale et le droit“, in dens., Etudes sociologiques, Genf 1965, S. 172–202.
Hierzu trägt Otthein Rammstedt (mündlich) den Gedanken bei, daß zunehmend weltweite Faktenkenntnis und Interaktionsverflechtungen die moralischen Prätentionen auf ein Minimum reduzieren oder in Bereiche folgenlosen Handelns verlagern. Das würde in anderen Worten bedeuten, daß man die Achtung anderer Menschen zunehmend weniger von „Bedingungen“ abhängig machen kann; oder daß jedenfalls das Gesellschaftssystem selbst dazu nicht mehr legitimiert.
Dies war das Thema von Gerhart Niemeyer,Law Without Force: The Function of Politics in International Law, Princeton/London/Oxford 1941.
Insofern gehören diese Überlegungen ins allgemeine Kapitel der Wahrnehmbarkeit von Neuerungen. Vgl. dazu F. E. Emery, The Next Thirty Years: Concepts, Methods, and Anticipations“, Human Relations 20 (1967), S. 199–237 (209 ff.), oder Albert O. Hirschman, „Obstacles à la perception du changement dans les pays sous-développés”, Sociologie du travail 10 (1968), S. 353–361.
Bezeichnend dafür sind neuere Publikationen, die sich thematisch mit dem alle Menschen umfassenden System befassen, ihm aber den Titel „Gesellschaft“ vorenthalten, und Gesellschaften als Teilsysteme dieses Globalsystems (so Wilbert E. Moore,„Global Sociology: The World as a Singular System”, The American Journal of Sociology 71 (1966), S. 475–482) bzw. politischen Systemen (so in einem sehr weiten Sinne von Politik Herbert J. Spiro,World Politics: The Global System, Homewood III. 1966) zu begreifen suchen. Kenneth S. Carlston,Law and Organization in World Society. Urbana Ill. 1962, der sich vornimmt, einen,structural view of world society“ auszuarbeiten (S. 64 ff.), bleibt dann doch bei der Feststellung, daß die Weltgesellschaft eigentlich keine Gesellschaft sei (S. 66), und zwar deshalb nicht, weil Interaktion auf der internationalen Szene durch Organisationen vermittelt werde. Leon Mayhew läßt seinen Artikel „So-
ciety“, Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 14, New York 1968, S. 577–586 (585), in einen vagen Hinweis auf einen „emergent global level of social reality” ausmünden, nennt diesen aber nicht „society `. Auch die ältere Literatur sprach eher von Weltreich oder Weltstaat als von Weltgesellschaft. Darin wirkt die Tradition eines Totalitätsanspruchs im Gesellschaftsbegriff nach, der auf der Ebene eines Systems aller Menschen nicht realisierbar zu sein scheint.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Parsons’ Gesellschaftstheorie, weil hier gut verfolgbare Konstruktionsinteressen die klassische Position begründen. Soziale Systeme sind für Parsons Teilsysteme des allgemeinen Handlungssystems mit einem Schwerpunkt in integrativen Funktionen. Daher gibt auch die Gesellschaft als Höchstform eines sozialen Systems der Integrationsfunktion den Primat, findet in ihrem integrativen Subsystem, der „community“, ihre „core structure” und in der Herstellung effektiver Solidarität ihr Prinzip — und kann in der Spezialisierung auf gerade diese Leistungen nicht sinnvoll als Weltgesellschaft gedacht werden. Sie bleibt nationale Gesellschaft. So besonders klar Talcott Parsons,„Systems Anal’;sis: Social Systems“, Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 15, New York 1968, S. 458–473 (461 f.).
Zumeist wird die Frage per implicationem als schon beantwortet unterstellt. Unter den wichtigsten expliziten Lösungsvorschlägen wären zu nennen: territoriale Grenzen des politischen Systems; kulturelle Grenzen; Schwellen der Kommunikations-oder Interaktionshäufigkeit; Unterschiede relativer Interdependenz des Handelns. Die Lösungsvorschläge beruhen also entweder auf Dominantsetzen eines Teilsystems und dessen Grenzen oder auf Kriterien, deren Anwendung für die einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft -zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen führen würde. Stillschweigend scheint sich mit den letzteren Kriterien übrigens ein unterstellter Primat des Wirtschaftlichen durchzusetzen.
So formulierte E. L Bekker,Das Recht als Menschenwerk und seine Grundlagen, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Heidelberg 1912, S. 3, ohne allerdings vorauszusehen, was wenig später auf diesem Theater gespielt werden würde.
Vgl. dazu Robert E. Lane,„The Decline of Politics and Ideology in a Knowledgeable Society“, American Sociological Review 31 (1966), S. 649–662.
Die Schwierigkeit besteht schon darin, daß sich das Problem nicht einfach durch Klassifikation und Auszählung lösen läßt, wobei der Wissenschaftler nach irgendwelchen Daumenregeln Interaktionen in weltweite und lokale einzuordnen hätte. Er würde dann finden, daß nach wie vor überwiegend homogam geheiratet wird usw. (Siehe z. B. Alain Girard,Le choix du conjoint, Paris 1964). In solchen Untersuchungen lassen sich Veränderungen in Richtung auf eine Vergrößerung des faktisch wirksamen Auswahlbereichs der Kontakte feststellen. Die eigentliche Neuerung aber besteht in der Konstituierung eines weltweiten Bewußtseinshorizontes, in der entsprechenden Steigerung des Selektivitätsbewußtseins und in der Umformung der Institutionen dahin, daß sie hohe Selektivität rechtfertigen und Selektionsleistungen übertragen können — im Falle der Gattenwahl etwa in der Umstellung von präskriptiver oder durch die Familie arrangierter Auswahl auf Liebe.
Zu diesen verschiedenen Ebenen (oder Perspektiven und Metaperspektiven) der Erwartungsbildung vgl. Ronald D. Laing, The Self and Others: Further Studies in Sanity and Madness, London 1961; Ronald D. Laing/Herbert Phillipson/A. Russell Lee, Interpersonal Perception: A Theory and a Method of Research, London 1966.
Eine ausreichende Erläuterung dieser schwierigen Passagen würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Sie beruhen auf dem Versuch, den Husserlschen Horizontbegriff von Akten auf Interaktionen zu übertragen (dazu Näheres unter VI) und ihn mit neueren Überlegungen zur Theorie interpersonaler Reflexivität des Erwartens als Grundlage jeder Interaktionssteuerung zu verbinden. Das führt auf die These, daß nicht nur das Erwarten, sondern auch die Horizonthaftigkeit des Erwartens anderer und die mir im Erwarten anderer zugeschriebene Horizonthaftigkeit meines Erwartens erwartbar sein muß, und daß die Identität der Welt als ein symbolisches Kürzel für die komplizierte reziproke Erwartbarkeit der Horizonte des Erwartens fungiert.
Daß diese Formel trotz ihrer logischen Radikalität zunächst noch projektive und insofern partikulare Züge trug, das heißt die Welt der „bürgerlichen Gesellschaft“ projektierte, kann Bernard Willms,Revolution und Protest. Oder Glanz und Elend des bürgerlichen Subjekts: Hobbes, Fichte, Hegel, Marx, Marcuse, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, zugegeben werden. Aber Willms sieht das bürgerliche Subjekt als Ganzes, als einmalige historische Gestalt, die jetzt in ihrer besonderen Kombination von Radikalität und Partikularität sichtbar wird und zu begreifen ist, während mir diese Figur eine Überleitungsfunktion zu haben scheint — eine Funktion der Oberleitung von Gesellschaften mit projektiv konstituierter Welteinheit zur Weltgesellschaft mit real konstituierter Welteinheit.
Die Ungewöhnlichkeit dieser Steuerungsweise wird deutlich, wenn man sie mit der Art vergleicht, in der ältere Sozialordnungen die Orientierung am miterlebenden Anderen vorsahen. Für archaische Gesellschaften siehe Jean Cazeneuve, „La connaissance d’autrui dans les sociétés archaïques“, Cahiers Internationaux de Sociologie 25 (1958), S. 75–99.
Hierzu und zum folgenden ausführlicher Johan Galtung,„Expectations and Interaction Processes“, Inquiry 2 (1959), S. 213–234; Niklas Luhmann,„Normen in soziologischer Perspektive”, Soziale Welt 20 (1969), S. 28–48.
Das Argument, darauf sei nochmals eigens hingewiesen, hängt ab von unserer eigenwilligen Begriffsbildung, die die kognitive Einstellung parallel zur normativen nicht als passive Rezeption eines möglichst richtigen Eindrucks der Realität definiert, sondern durch Bereitschaft zur Korrektur der Erwartungen nach Maßgabe von Erfahrungen. Diese Begriffsbildung bewährt sich ihrerseits dadurch, daß sie ein solches Argument und die von ihm abhängigen Einsichten ermöglicht.
Im übrigen beschränken wir unser Argument auf die Ebene des sozialen Systems. Vermutlich könnte jedoch die psychologische Persönlichkeitstheorie sekundieren und zeigen, daß auch für psychische Systeme normative Erwartungseinstellungen leichter internalisierbar sind als kognitive.
Auch der Konformitätsdruck scheint bei diesen Erwartungen typisch höher zu sein; so jedenfalls die Feststellungen bei Peter M. Blau, „Patterns of Deviation in Work Groups“, Sociometry 23 (1960), S. 245–261 (258 f.).
Dazu Claude C. Bowman,„Distortion of Reality as a Factor in Morale“, in: Arnold M. Rose und andere (Hrsg.), Mental Disorder, London 1956, S. 393–407.
Vgl. Ralph M. Stogdill,Individual Behavior and Group Achievement. New York 1959, S. 59 ff.
Siehe als ein typisches Beispiel Raymond Aron,Paix et guerre entre les nations, Paris 1962 (dt. Übers.: Frieden und Krieg: Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt 1963). Für die Schwierigkeiten, ein so konzipiertes „internationales System“ überhaupt noch als System zu denken, bezeichnend J. P. Nett/Roland Robertson,International Systems and the Modernization of Societies: The Formation of National Goals and Attitudes, London 1968, insb. S. 137 ff., und für Zweifel, die sich innerhalb der Sphäre des Politischen bewegen, Chadwick F. Alger, „Comparison of Intranational and International Politics”, The American Political Science Review 57 (1963), S. 406–419.
So u. a. Roger D. Masters, „World Politics as a Primitive Political System“, World Politics 16 (1964), S. 595–619; Michael Barkun, Law without Sanctions: Order in Primitive Communities and the World Community, New Haven-London 1968.
Hierzu näher: Niklas Luhmann,Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft“, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 175–202.
So Niemeyer,a.a.O., S. 209, im Rahmen einer kritischen Analyse des Zerfalls dieses Systems.
In diesem Zusammenhang verbinden sich mit internationalen Organisationen und ihrer funktionalen, lernfähigen Arbeitskonzeption Hoffnungen, deren Verhältnis zur Politik der Staaten jedoch problematisch geblieben ist. Siehe als Quelle David Mitrany, A Working Peace System: An Argument for the Functional Development of International Organization, London 1943, mit dem bezeichnenden Schlagwort from „rights“ to „services” (S. 7 ff.), und für den heutigen Stand der Diskussion namentlich Ernst B. Haas, Beyond the National-State: Functionalism and International Organization, Stanford, Cal. 1964.
Planen in Modellen“, notiert Hans K. Schneider,„Planung und Modell”, in: Zur Theorie der allgemeinen und regionalen Planung, Bielefeld 1969, S. 42–59 (51), „induziert einen systematischen Lerneffekt“.
Hierfür hat es symptomatische Bedeutung, daß „Frieden“ in der neueren Zeit als Sicherheitsproblem gesehen wird — und nicht mehr in alter Weise als Rechtsproblem
Siehe als eine der klassischen Quellen Aristoteles,Politik, z. B. 1252a, 19 ff., 1274b, 38 ff.
Zum geistesgeschichtlichen Kontext siehe J. W. Burrow,Evolution and Society: A Study in Victorian Social Theory, Cambridge/Engl. 1966.
Vgl. Emile Durkheim, De la division du travail social, Paris 1893, und als Beleg für die Fortführung dieses Gedankens z. B. Talcott Parsons, Some Considerations on the Theory of Social Change“, Rural Sociology 26 (1961), S. 219–239, und zum Zusammenhang dieser These mit der Annahme eines proportionalen Verhältnisses von Differenzierung und generalisierter Integration ders., „Durkheim’s Contribution to the Theory of Integration of Social Systems”, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Durkheim 1858–1917, Columbus, Ohio 1960, S. 118–153.
Bemerkenswerte klare, aber in der Soziologie bisher unbeachtete Fassungen dieser Kritik findet man bei Hermann Cohen,Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902, S. 280 ff.;Andras Angyal
The Structure of Wholes“, Philosophy of Science 6 (1939), S. 25–37, mit kleineren Änderungen neu gedruckt in ders.,Foundations for a Science of Personality, New York 1941, S. 243–261. Im Unterschied zu diesen Autoren verstehen wir Einheit nicht lediglich als ein logisches Prinzip, sondern als ein dynamisches Verhältnis zur Umwelt auf der Basis geringerer Komplexität des Systems.
Insofern stützen wir uns auf neuere Entwicklungen der Systemtheorie, die hier nicht im einzelnen dargestellt werden können. Vgl. auch Niklas Luhmann, „Funktionale Methode und Systemtheorie“ und „Soziologie als Theorie sozialer Systeme” in: ders.,Soziologische Aufklärung I, 4. Aufl. Opladen 1974, ders.,Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Tübingen 1968, Neudruck Frankfurt 1973, S. 117 ff.
Im Gegenteil: systemeinheitliche Werte, Normen oder Rollen können immer nur Teile des Systems sein, da es in ihm ja auch nichteinheitliche Werte, Normen und Rollen gibt. Aus diesem Grunde wurde im alteuropäischen Denken, das sich mit Hilfe der Kategorien Ganzes und Teil explizierte, der Gedanke der hierarchischen Repräsentation zwangsläufig. Vgl. als Ausgangspunkt Aristoteles, Politik, 1254a, 28–31. Repräsentation und Legitimierung der Repräsentation des Ganzen durch einen Teil markierten als politische Kategorien das Problem, das wir beim Obergang zur Weltgesellschaft möglicherweise durch das Problem der Lernfähigkeit von Systemen in einer überaus komplexen Umwelt ersetzen müßten.
Hier sind Überlegungen über die Funktion von Strukturen und über die begrenzte Reduktionskapazität von Systemen vorausgesetzt, die näher erläutert sind in: Niklas Luhmann,„Soziologie als Theorie sozialer Systeme“, a.a.O.
Zu dieser Interpretation der Grundrechte näher Niklas Luhmann,Grundrechte als Institution: Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin 1965, Neudruck 1974.
Siehe auch die Kritik jener Einheitsvorstellung bei Ronald Cohen, „Conflict and Change in a Northern Nigerian Emirate“, in: George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 495–521 (518 f.), oder bei Mayhew,a.a.O., S. 583 f. Altere Ausführungen über den Zusammenhang von Innendifferenzierungen und Differenzierung äußerer Grenzen findet man bei Guillaume de Greef,La Structure Generale des Sociétés, 3 Bde., Bruxelles—Paris 1908, insb. Bd. II, S. 245 ff., 299 ff.
Eines der frühesten Beispiele findet sich in der Entstehung unterschiedlicher Bezugsgruppen für Religion und Politik in den antiken Großreichen. Vgl. dazu S. N. Eisenstadt, „Religious Organizations and Political Process in Centralized Empires“, ”l’hc Journal of Asian Studies 21 (1962), S. 271–294.
Als einen Versuch der Behandlung dieser Frage, für den jedoch ausdrücklich nur analytische, nicht auch empirisch konkrete Bedeutung in Anspruch genommen wird, vgl. Talcott Parsons,„Systems Analysis: Social Systems“, Encyclopedia of the Social Sciences Bd. 15, New York 1968, S. 458–472 (466 f.), wobei allerdings noch eine Mehrheit von Gesellschaften zu Grunde gelegt wird.
Als Vorschlag einer nur noch funktionalen Bestimmung der Gesellsehaftsgrenze als Leistung letzter, grundlegender Reduktionen vgl. Niklas Luhmann,„Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse“, in: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages Frankfurt 1968, Stuttgart 1969, S. 253–266.
Die heute übliche Distanzierung von älteren Evolutionstheorien, besonders von Spencer, arbeitet freilich mit Unterstellungen, die näherer Nachprüfung nicht standhalten. Es genügt nicht, biologische und kulturelle Evolution zu unterscheiden oder einen unlinearen, notwendigen, kontinuierlichen, irreversiblen Fortschritt zu bestreiten. Solche Thesen sind im 19. Jahrhundert kaum und allenfalls von drittrangigen Autorenvertreten worden. Vgl. z. B. Herbert Spencer, Principles of Sociology, B.. I, 3. Aufl. London—Edinburgh 1885, S. 93 ff. Richtig ist allerdings, daß weder die älteren noch die neueren Evolutionstheorien über theoretisch nicht begründbare „Konzessionen“ im Hinblick auf gegenläufige Entwicklungen hinausgelangt sind. Siehe die Kritik von J. T. D. Peel, „Spencer and the Neo-Evolutionists”, Sociology 3 (1969), S. 173–191.
A.a.O.
Diese Hypothese wird noch kaum in dieser allgemeinen Fassung, wohl aber in Anwendung auf bestimmte Systemarten, also in konkreterer Interpretation, vertreten. In der Theorie des Organismus unterscheidet man zum Beispiel Mutation (im einzelnen: Genmutation, Änderungen in Struktur und Zahl der Chromosomen, genetische Rekombination), natürliche Auslese und reproduktive Isolation. Vgl. G. Ledyard Stebbins,Evolutionsprozesse, Stuttgart 1968. In der Theorie sozialer Systeme unterscheidet Alvin Boskoff, „Functional Analysis as a Source of a Theoretical Repertory and Research Tasks in the Study of Social Change“, in: George K. Zollschan/Walter Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change, London 1964, S. 213–243 (224 ff.), Quellen innovativer Werte oder Verhaltensweisen, Filterprozesse mit Kontrolle der Innovationen und daraus
entstehende Strukturen und Rückwirkungen. Für die Lerntheorie könnte man in Anlehnung an Donald T. Campbell, „Methodological Suggestions from a Comparative Psychology of Knowledge Processes“, Inquiry 2 (1959), S. 152–182 (163), an wahrnehmungsmäßige Konfrontierung mit einer übermäßig komplexen, variablen Umwelt, Lust/Unlust-Mechanismus und Gedächtnis denken. Bei der Evolution des Rechts scheinen gesellschaftliche Differenzierung mit Überproduktion von Normprojektionen (im oben erörterten Sinne), Entscheidungsverfahren und regulative, satzungsmäßige, schließlich dogmatisch kontrollierte Formulierung des geltenden Rechts zusammenzuwirken. Hierzu näher Niklas Luhmann, „Evolution des Rechts”, Rechtstheorie 1 (1970) S. 3–22.
In solchen durch „das kulturelle System“ ermöglichten „greater generalized adaptive capacities” sieht Talcott Parsons,Societies: Evolutionary and Comparative Perspectives, Englewood Cliffs, N. J. 1966, diejenigen evolutionären Errungenschaften, die die Entwicklung tragen. Vgl. auch ders.,„Evolutionary Universals in Society“, American Sociological Review 29 (1964), S. 339 bis 357, neu gedruckt in: ders.,Sociological Theory and Modern Society, New York/London 1967, S. 490–520.
Hierzu Niklas Luhmann,„Gesellschaftliche Organisation“, in, Thomas Ellwein u. a. (Hrsg.), Erziehungswissenschaftliches Handbuch, Bd. I, Berlin 1969, S. 387–407, und ausführlicher ders.,Funktionen und Formen formaler Organisation, Berlin 1964, Neudruck 1972.
Genauer formuliert: Es gibt Erwartungen, die regeln, wie man zu erwarten hat. Die Stilwahl und mit ihr der Modus der Enttäuschungsabwicklung sind dem einzelnen nicht freigestellt, sondern ihrerseits institutionell geregelt durch normatives Erwarten normativen bzw. kognitiven Erwartens.
Vgl. Manfred Riedel,„Hegels ‚bürgerliche Gesellschaft` und das Problem ihres geschichtlichen Ursprungs“, Archiv für Rechts-und Sozialphilosophie 48 (1962), S. 539–566.
Zum dann noch möglichen Begriff des funktionalen Primats des jeweils komplexesten und dadurch evolutionär führenden Teilsystems siehe näher Niklas Luhmann,„Wirtschaft als soziales System“, in: ders.,Soziologische Aufklärung I, 4. Aufl., Opladen 1974.
Vgl. dazu umfassend Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, und spezieller zur Geschichte von Kontingenz ders., „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. Bd. III, Tübingen 1959, Sp. 1793 f., mit Hinweisen auf die ältere Lit.; ferner Heinrich Schepers, Möglichkeit und Kontingenz: Zur Geschichte der philosophischen Terminologie vor Leibniz, Turin 1963; ders., „Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz: Die beste der möglichen Welten”, in: Collegium Philosophicum: Studien J. Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/ Stuttgart 1965, S. 326–350.
Zu dieser Umkehrung, derzufolge nicht mehr das offene Mögliche in einer an sich kosmisch-notwendigen Welt, sondern das Notwendige in einer an sich kontingenten Welt zum Problem wird, vgl. Celestino Solaguren,„Contingencia y creaciOn en la filosofia de Duns Escoto“, Verdad y Vida 24 (1965), S. 55–100 (insb. 67 ff.).
Siehe hierzu Henry Deku,„Possibile Logicum“, Philosophisches Jahrbuch der Gärres-Gesellschaft 64 (1956), S. 1–21.
Zur Entstehungsgeschichte, vor allem zur Umdenkung des antiken Bewegungsproblems in ein Problem der Abhängigkeit durch Avicenna vgl. Guy Jalbert,Nécessité et Contingence chez saint Thomas d’Aquin et chez ses Prédécesseurs, Ottawa 1961, und speziell zum Kausalproblem Cornelia Fabro,„Intorno alla nozione,Tomista’ dié contingenza, Rivista dié Filosofia Neoscolastica 30 (1938), S. 132–149.
Vgl. etwa GuyPicard,„Matière, contingence et indeterminisme chez saint Thomas“, Laval Théologique et philosophique 22 (1966), S. 197–233.
Vgl. Philotheus Boehner, The Tractatus de praedestinationc et de praescientia Dei et de futuris contingentibus of William Ockham, St. Bonaventura, N. Y. 1945; Léon Baudry, La querelle des futurs contingents (Louvain 1465–1476), Paris 1950; Nicholas Rescher, Temporal Modalities in Arabic Logic, Dordrecht 1967.
Siehe z. B. Konstanty Michalski, „Le problème de la volonté à Oxford et à Paris au XIVe siécle“, Studia Philosophica 2 (1937), S. 233–365.
Hierzu mehrere Beiträge in: La Filosofia della Natura nel Medioevo: Atti del Terzo Congresso Internazionale di Filosofia Medioevale, Mailand 1966.
Vgl. Edmund Husserl,Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. I, Husserliana, Bd. II, Den Haag 1950, S. 57 ff., 110 ff., insb. S. 113 f., über „Logische Möglichkeit und sachlicher Widersinn einer Welt außerhalb unserer Welt“; Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana, Bd. VI, Den
Haag 1954, S. 105 ff.; Erfahrung und Urteil, Hamburg 1948, S. 23 ff. An Sekundärliteratur siehe Helmut Kuhn, „The Phenomenological Concept of,Horizon` “, in: Marvin Farber (Hrsg.), Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl, Cambridge, Mass. 1940, S. 106–123; Ludwig Landgrebe, „The World as a Phenomenological Problem”, Philosophy and Phenomenological Research 1 (1940), S. 38–58 (dt. in: ders., Der Weg der Phänomenologie, Gütersloh 1963, S. 41 ff.); Gerd Brand, Welt, Ich und Zeit. Nach unveröffentlichten Manuskripten Edmund Husserls, Den Haag 1955. Im Anschluß an letztlich phänomenologische Analysen scheint auch die analytische Philosophie auf dem Wege zu sein, den Gedanken einer Mehrheit möglicher Welten aufzugeben und sich das Mögliche als Ergebnis einer generalisierenden Kombinatorik von Aktualitäten einer Welt vorzustellen. So jedenfalls Nelson Goodman, Fact, Fiction, and Forecast, 2. Aufl. Indianapolis 1965, insb. S. 56 f.
So namentlich in Erste Philosophie (1923/24), Husserliana Bd. VIII, Den Haag 1959, S. 44 ff.
Vgl. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Husserliana, Bd. I, Den Haag 1950, S. 121 ff. Dazu kritisch Alfred Schütz, „Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl“, Philosophische Rundschau 5 (1957), S. 81–107; René Toulemont, L’essence de la société selon Husserl, Paris 1962; Michael Theunissen, Der Andere: Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 1965.
Eine genauere Begründung würde genetische und funktionale Analysen des Negierens und des Erlebens von Möglichkeiten voraussetzen, die hier nicht vorgelegt werden können. Eine wertvolle Vorarbeit ist René A. Spitz,Nein und Ja: Die Ursprünge menschlicher Kommunikation, Stuttgart o. J.
Grundlegend hierfür ist Parsons’ Einsicht in die funktionelle Interdependenz der Doppelunterscheidung von actor-situation und system-environment: Dadurch, daß ein Handelnder sich auf eine Situation hin versteht, ist er genötigt, sich als actor-in-situation einem System zuzuordnen, das sich von einer nichtdazugehörigen Umwelt abgrenzen läßt. Der theoretische Reichtum der Parsonsschen Soziologie beruht wesentlich auf der Nichtidentität dieser beiden Unterscheidungen.
Hierzu gut Daniel Bell, „The Disjunction of Culture and Social Structure: Some Notes on the Meaning of Social Reality“, in: Gerald Holton (Hrsg.), Science and Culture: A Study of Cohesive and Disjunctive Forces, Boston/Cambridge, Mass. 1965, S. 236–250.
Vgl. hierzu auch Niklas Luhmann,Soziologische Aufklärung 1, 4. Aufl., Opladen 1974, S. 66 ff., 113 ff.
Wie Hans Jürgen Krysmanski, „Soziale Konflikte und Problemlösungsprozesse“, Archiv fürRechts-und Sozialphilosophie 56 (1970), S. 325–349 (339), freilich von anderen Ausgangspunkten her, formuliert.
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Luhmann, N. (1975). Die Weltgesellschaft. In: Soziologische Aufklärung 2. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-12374-3_4
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