Zusammenfassung
Der Beitrag verknüpft Argumente der Phänomenologie, Körpersoziologie und neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, um ein typologisch-deskriptives Verständnis von Gedächtnisformen zu entwickeln. Mit Hilfe des Begriffs der inkarnierten Sozialität, der gleichermaßen auf die Sozialität des Körpers und die Körperlichkeit des Sozialen verweist, problematisiert er dabei nicht nur die Unterscheidung von bewussten und unbewussten Gedächtnisleistungen beziehungsweise von deklarativen und non-deklarativen Gedächtnisformen, sondern stellt auch den etablierten Dualismus von Körper und Geist (oder Gesellschaft) in Frage. Die Frage des Körpergedächtnisses wird damit in einen breiten gedächtnistheoretischen Kontext gestellt, der soziologische mit psychologischen und neurowissenschaftlichen Standpunkten und Forschungsergebnissen verbindet.
»… le corps est l’existence figée ou généraliséeet l’ existence une incarnation perpétuelle«»… der Körper ist die geronnene oder verallgemeinerte Existenzund die Existenz ist eine ständige Inkarnation .«(Maurice Merleau-Ponty). (Merleau-Ponty (1966, S. 199, in der französischen Ausgabe S. 194))
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Notes
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Es gibt allerdings durchaus Belegstellen im Neuen Testament, in denen die Konstruktion »habitare« mit der Präposition »in« zwingend mit »innewohnen«, »wohnen in« übersetzt werden muss: zum Beispiel Römer 8,9: »Vos autem in carne non estis, sed in spiritu: si tamen Spiritus Dei habitat in vobis« (»Ihr seid aber nicht im Fleisch, sondern im Geist, so anders Gott in euch wohnt» (Römer 8,9); Epheser 3,17: »Christum habitare per fidem in cordibus vestris« (»… daß Christus wohne durch den Glauben in euren Herzen«); 1. Korinther 3,16: »Nescitis quia templum Dei estis, et Spiritus Dei habitat in vobis« (»… daß der Geist Gottes in euch wohnt«); 2. Tim. 1,14: »Bonum depositum custodi per Spiritum Sanctum, qui habitat in nobis«; Kolosser 3,16: »Verbum Christi habitet in vobis abundanter«. Dank an Jochen Montiegel für diese Hinweise!
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Diese Einsicht verdanke ich den instruktiven Ausführungen von Albrecht Braun, die er mir im März 2013 zukommen ließ. Auch an ihn ein herzliches Dankeschön.
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Dahinter steht im Französischen ein Wortspiel, das im Deutschen nicht adäquat wieder gegeben kann: »L’ habitus est cette présence du passé au présent qui rend possible la présence au présent de l’à venir.« (Bourdieu 1997, S. 251) »L’à venir« bedeutet ungefähr das (Zu-)Kommende und entspricht phonetisch »l’avenir = die Zukunft«.
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Mit Sicherheit waren Pierre Bourdieu alle diese Referenzen bekannt, seiner Autobiographie ist zu entnehmen, dass die Beschäftigung damit zu seinen sehr frühen philosophischen Impulsen gehörten (Bourdieu 2002, S. 13, 48 f., 88).
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Vergleiche dazu die Formulierung Bourdieus: »Akteur […] und die soziale Welt […] sind, darauf haben schon Heidegger und Merleau-Ponty hingewiesen, in einem regelrechten ontologischen Einverständnis vereint« (Bourdieu und Wacquant 1996, S. 161); »Der Leib ist unser Mittel überhaupt eine Welt zu haben« (Merleau-Ponty 1966, S. 176); »Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn die Welt Fleisch (chair) ist?« (Merleau-Ponty 1994, S. 182).
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Bourdieu schreibt dazu: »Was Lebewesen angeht, heißt das Dasein erworbener Dispositionen leugnen soviel wie das Lernen als selektive und dauerhafte Umwandlung des Körpers durch Stärkung oder Schwächung synaptischer Verbindungen zu leugnen« (Bourdieu 2001, S. 175). Damit nimmt Bourdieu Bezug auf die entscheidende Entdeckung der modernen neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung, für die Eric Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis erhielt (vgl. dazu Kandel 2006, S. Kap. 13).
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Man kann sich darüber streiten, ob die Assoziation des Phonems »Katze« mit verschiedenen sensomotorischen Erfahrungen mit realen Katzen: der Wahrnehmung ihrer Gestalt und ihres Bewegungshabitus, dem Vorbeistreichen am eigenen Bein, dem Streicheln und den Fangspielen noch zum »Körpergedächtnis« in diesem Sinn gehört oder nicht.
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So ermöglicht es beispielsweise die Weißfärbung der menschlichen Sklera, also der Lederhaut des Augapfels, durch den farblichen Kontrast zur Pupille dem Menschen als einzigem Primaten dem Blick (der Augenrichtung) des Anderen zu folgen (Tomasello 2011, S. 211).
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Birbaumer und Schmidt (2006, S. 141 ff.) gebrauchen hier den Ausdruck »Psychoneuroendokrinologie«.
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Ich spreche hier bewusst nicht von »Handlungsfähigkeit« und nicht von »Akteur« oder »Subjekt« im Sinne eines reflexivem »Handlungszentrums«, weil »Handeln« ein voraussetzungsvoller Spezialfall von sozialem Verhalten ist. Die »Sozialität des Körpers«, um die es hier geht, bezieht sich auch auf Sachverhalte, die nicht mit einem Akteurs- oder Subjektmodell gefasst werden können.
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Hieroglyphen erfordern Schriftkundige, eine Computermaus eine dazu geschickte Hand. Umgekehrt gilt allerdings auch: erst die Orgel ruft die Fähigkeit des Organisten ab, der Anblick der Tastatur des Geldautomaten den Pin-Kode meines Bankkontos.
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Diese einfache Einsicht gerät insbesondere in der soziologischen Theoriediskussion immer mal wieder aus dem Blick. Seltsamerweise greift ausgerechnet diese in weitem Umfang auf quasi-transzendentaltheoretische Konzeptionen, also Denkformen idealistischer Philosophie zurück. Die Soziologie scheint qua Disziplin besonders anfällig für moderne Formen des Universalienrealismus zu sein, die die notgedrungen abstrahierende Beschreibungssprache der Soziologie, ihre Konstruktionen 2. Ordnung mit der Wirklichkeit selbst verwechseln. Bei genauer Betrachtung referiert aber jede noch so typisierte Kennzeichnung sozialer Struktur und Praxis auf eine bestimmbare Menge spezifischer sozial koordinierter körperbasierter Verhaltensmuster und Funktionselemente wie etwa Aufmerksamkeitsfokussierung, Affektregulation, sensomotorische Koordinationen, Anwendungen von Wahrnehmungsschemata, kommunikative und psychische Aktualisierungen von Wissen, Erinnerung, Fertigkeit). »Oberhalb« oder »außerhalb« dieser Dimension gibt es keine »soziale Realität«. Das ist nichts Neues, sondern nur eine Variante der Position eines methodologischen Individualismus.
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Damit liefert die Neurowissenschaft übrigens in ihrem Feld Belege für Phänomene, die als solche zum Beispiel von George Herbert Mead oder Maurice Merleau-Ponty heraus gearbeitet wurden; vergleiche für Merleau-Ponty (1966, S. 403) das Beispiel des »Beißens« eines 15-monatigen Kindes. Bei Mead (1973, S. 99) gibt es instruktive Überlegungen zum Thema Nachahmung, wichtiger noch ist in diesem Zusammenhang in seinen späteren Aufsätzen die Rolle der Verknüpfung von Distanz- und Kontaktreizen bei der Dingkonstitution (Mead 1987, S. 95).
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Man könnte das, wie bereits angedeutet, auf Merleau-Pontys Konzept der »fungierenden Intentionalität« beziehen (Merleau-Ponty 1966, S. 475).
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Damit meine ich sowohl Können im Sinne einer generativen Fertigkeit, aber auch zur Haltung gewordene »verfestigte« Reaktionsmuster, in dem Sinne, dass man sich »nicht anders verhalten kann« als ebenso. Das kann auch eine Einschränkung bedeuten.
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Sie hätte bei Bourdieu thematische Zusammenhänge von Habitus und sozialer Resonanz (bis zu Fragen der Rekrutierung von Eliten) ebenso einzubeziehen wie eine Soziologie des Spracherwerbs und der Kommunikation sowie eine für soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit sensible Soziologie der Fertigkeiten (Berufe, Subsysteme, Organisationen, künstlerische Felder, soziale Milieus).
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Non-deklarative Fertigkeiten können aber auch, besonders, wenn es um sozial sehr klar vortypisierte Fertigkeiten geht (zum Beispiel Cellospielen) als Leistungen ins Bewusstsein treten, ohne dass dies aber für ihre Ausführung selbst wesentlich wäre.
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»Intercorporéité« sagt Merleau-Ponty (1994, S. 185). Das setzt voraus, nicht zu grundsätzlich zu argumentieren, was soziale Ordnung betrifft, sondern mit Sinn für Unschärfen: Es genügen strukturelle Kopplungen zwischen individuellen Akteuren, die für operativ hinreichende Gemeinsamkeiten sorgen.
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Kastl, J. (2016). Inkarnierte Sozialität – Körper, Bewusstsein, non-deklaratives Gedächtnis. In: Heinlein, M., Dimbath, O., Schindler, L., Wehling, P. (eds) Der Körper als soziales Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09743-1_5
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