Zusammenfassung
Der Beitrag zum körperlichen Erinnern beim Einstudieren von Tanzfiguren im Rahmen des Ballett-Trainings qualifiziert das Einüben als Genese körperlichen Wissens. Mit Hilfe ethnographischen Materials wird zweierlei deutlich gemacht: Zum einen nimmt der Körper beim Erinnern ganz unterschiedliche Rollen und Funktionen ein, die sich mit der Rede von ›dem‹ Körpergedächtnis nur schwer abbilden und einfangen lassen. Zum anderen stellen Praktiken des Einübens und Trainierens hochgradig komplexe Prozesse dar, die auf verschiedenen Ebenen ablaufen und deren Analyse einen entsprechend praxistheoretisch geschulten Blick erfordert.
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Notes
- 1.
Grundlage dieser Überlegungen bildet das Material meiner ethnographischen Studie zum Balletttraining.
- 2.
Zitat aus einem Interview mit einer Tänzerin, das ich 2012 im Rahmen der oben genannten Ethnographie geführt habe.
- 3.
So stellt auch die Soziologin und Ballettforscherin Anna Aalten (2005, S. 58) fest, dass »the theories of Pierre Bourdieu and Michel Foucault are definitely of major importance in the field.«
- 4.
Guest (1984, S. 3) spricht hier aus tanzanalytischer Perspektive von einer »›kinetic logic‹, which involves its own ›parts of speech‹, its own organization of ›nouns‹, ›verbs‹,›adverbs‹ etc. into ›words‹, ›phrases‹, ›sentences‹ and ›paragraphs‹.« Das Spektrum der Mehrdeutigkeiten ist dabei entsprechend schmal, denn die korrekte Ausführung und die Positionierung jedes Körperteils ist bis ins Kleinste festgelegt – zum Beispiel dahingehend, welche Muskeln man bei einer Bewegung benutzen soll, oder, in welcher Relation Blick und Hand dabei sind.
- 5.
Während der Ausbildung ist das Training zumeist Teil eines achtjährigen, festgeschriebenen Syllabus, in dessen Verlauf sich die Variationen der Bewegungskombinationen in den Übungen im Anspruch steigern und stets neue Schritte hinzu kommen, die auf den vorher gelernten aufbauen. Diese werden entweder in die schon bekannten Übungen eingebunden oder als neue Übung hinzu genommen, während schon bekannte Schritte nicht mehr als einzeln geübt werden, sondern in Übungskombinationen oder implizit in aufbauenden Schritten integriert sind. Die Grundbewegungen werden jedoch in jedem Training durchgeführt. Bis zum Ende seines Tänzerdaseins wird ein Tänzer täglich dieselben Übungen mit den gleichen Grundbewegungen machen, wenn er sich an die Stange stellt.
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So konstatiert Schneider (2012, S. 76), dass die »Beschreibungen mithilfe des Wortes ›können‹ den regelhaft zu erwartenden Erfolg oder Misserfolg im Handeln [betreffen], wie er von den Mitspielern im wiederholten Umgang mit der Person erfahren wird.«
- 7.
Diese Abbildungen sind von mir in Anlehnung an ein Ballett-Lehrbuch (Ward-Warren 1989) gezeichnet. Hier wird deutlich, wie im feldeigenen Lehrmaterial schon durch Auswahl der Standbild-Momente Marker für die Ausführung der Bewegung gesetzt werden (zum Beispiel ›für die korrekte Körpertechnik zu passierende Zwischenposition‹; zu erreichender ›Wendepunkt‹).
- 8.
Diese und die folgenden zwei Szenen entstammen meiner ethnographischen Studie zum Ballett-Üben. Sie sind Assemblagen aus Feldnotizen zu Beobachtungen als Ballettelevin in einem professionellen Ausbildungsprogramm, entsprechenden Videosequenzen, Notizen beim Anschauen des Videos sowie Erinnerungen daran, wie solche Situationen im Training gewöhnlich sind – kurz, sie entstammen unter anderem meinem ethnographischen Körpergedächtnis, wobei ich auch auf Tagebücher anderer Elevinnen, informelle Gespräche und Interviews als ergänzende Datenquellen zurückgegriffen habe, Da die Protagonistin ein konstruiertes Ergebnis dieser Assemblage ist, spreche ich hier nicht von ›ich‹, sondern von der fiktiven Figur ›Lena‹. Wenn ich in der vierten Szene dann über mein Tun als Forscherin schreibe, werde ich allerdings kontrastierend auf die Ich-Form zurückgreifen.
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Auf solches Vergessen durch Inkorporierung hat auch Peter Wehling (2011) mit Rückgriff auf Bourdieu hingewiesen.
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So können viele Tänzer eine Choreographie, die sie von längerer Zeit oft getanzt haben, nicht beschreiben oder vormachen. Hören sie jedoch die Musik, kommen unwillkürlich Bewegungsimpulse.
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Zum Beispiel werden die Gelenke bei Markierungsbewegungen nicht vollständig gestreckt, Spannungen nicht in dem vollen Maße aufgebaut wie bei der ›gemeinten‹ Bewegung, dynamische Momente wie Sprünge oder Drehungen eliminiert und lediglich durch Streckung der Beine symbolisiert (siehe auch Mitchell 2010).
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Die ersten beiden unterscheiden sich entlang einer ähnlichen Linie wie jener, mit der Collins (2001) »mimeomorphic actions« von »polymorphic actions« unterscheidet und entsprechende zugehörige Formen impliziten Wissens trennt (Collins 2012): Während es bei ersterem um ein Reproduzieren geht, ist das zweite eher ein Sich-wieder-zurechtfinden.
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Müller, S. (2016). Erinnerungsarbeit: Wissen als körperliche Praxis im Balletttraining. In: Heinlein, M., Dimbath, O., Schindler, L., Wehling, P. (eds) Der Körper als soziales Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09743-1_10
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