Auszug
Die Berliner Koalition aus SPD und Grünen brachte viel Erwartungstreues und manche handfeste Überraschungen zustande. Davon legt bereits die Sozialpolitik der ersten rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2002 Zeugnis ab (Schmidt 2003). Erwartungsgetreu war, dass Rot-Grün die sozialpolitischen Reformen der Regierung Kohl, wie im Wahlkampf versprochen, alsbald zurücknahm. Ferner folgte Rot-Grün bis zum Ende der 14. Legislaturperiode im Jahre 2002 im Wesentlichen einem gewerkschaftsfreundlichen Kurs. Davon zeugt beispielsweise die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes von 2002. Noch gewichtiger war aber die schier an Unterwürfigkeit grenzende Akzeptanz gewerkschaftlicher Politik, gleichviel ob es sich um aggressive Lohnpolitik handelte, um partikularistische Interessenpolitik im „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ (Fickinger 2005) oder um die wohlfahrtskorporatistische Nutzung der Sozialpolitik (Streeck 2005), die die Gewerkschaften im Verein mit den Arbeitgeberverbänden, den Betriebsräten und den Personalabteilungen von Unternehmen in großem Stil betrieben, beispielsweise durch rigorose Nutzung der Frühverrentung älterer Arbeitnehmer. Allerdings gab es auch Überraschungen. Dass die rot-grüne Koalition einen rentenpolitischen Kurswechsel vollziehen würde — und zwar durch den Übergang von der niveauorientierten zur einnahmenorientierten Alterssicherungspolitik1 — hatte beim Regierungswechsel von 1998 kaum jemand erwartet.
Der neuen Alterssicherungspolitik zufolge sollte die Einnahmenbasis, definiert durch möglichst konstant gehaltene Sozialbeiträge, das Niveau der Alterssicherung bestimmen und nicht umgekehrt das jeweils gewünschte Niveau die Einnahmenbasis. Damit setzte Rot-Grün eine Politik energischer um, die ihre Vorgängerin im Amte, die Regierung Kohl, programmatisch angedacht, aber nicht realisiert hatte, weil sie am Ende einen weiteren Anstieg der Beitragsbelastung tolerierte (Alber 2001: 267f.).
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Schmidt, M.G. (2007). Die Sozialpolitik der zweiten rot-grünen Koalition (2002–2005). In: Egle, C., Zohlnhöfer, R. (eds) Ende des rot-grünen Projektes. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90302-6_13
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