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Zusammenfassung

Schrift ist entstanden, als die Lautsprache bereits entwickelt war. Sie fixiert sprachliche Bedeutung und überwindet die Bindung des gesprochenen Wortes an das Hier und Jetzt der Sprechsituation. Historisch ist die Schriftsprache im Verhältnis zur Lautsprache also sekundär. Logisch wäre selbstverständlich auch die Umkehrung dieser Beziehungen zwischen Laut- und Schriftsprache oder eine völlige Unabhängigkeit zwischen beiden möglich. Ein eigenständiges schriftliches In formationssystem ist denkbar.2) Darüber, warum die gesprochene Sprache zuerst entwickelt wurde und als Bezugssystem für die Schrift diente, soll hier nicht weiter spekuliert werden, da es für die weitere Argumentation nicht von Belang ist.

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Anmerkungen

  1. Der Terminus “Schriftsprache” wird hier allgemein zur Bezeichnung für “geschriebene Sprache” verwendet, ohne daß damit die Befolgung bestimmter stilistischer oder orthographischer Normen impliziert ist.

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  2. Bei von Geburt an gehörlosen Kindern kann Schriftsprache offenbar vor dem Erwerb der Lautsprache als Kommunikationsmittel erfolgreich eingesetzt werden. Vgl. z. B. Günther (Klaus) 1981.

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  3. Diese Tatsache wird Editoren von Nachlaßschriften oft schmerzlich bewußt, wenn sie aus Notizen und Aufzeichnungen verstorbener Autoren mühsam den Sinn zu rekonstruieren versuchen, den dieser damit verband.

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  4. Zum Zusammenhang zwischen Schriftsprache und innerer Sprache vgl. Wygotski 1977, 226 ff; Luria 1967, 499 ff; Wild 1980, 65 ff.

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  5. Zur Bedeutung der Schrift für das Sprachbewußtsein schreibt Coulmas in bezug auf das Japanische: “Es ist daher nicht überraschend, daß Japaner, wenn sie über Wörter reden, meist über die Kanji reden (= Schriftzeichen für Lexeme bzw. Morpheme, H. A.), mit denen sie geschrieben werden, und die Vermutung ist nicht weit hergeholt, daß Schrift und Sprache für (gebildete) Japaner enger miteinander verbunden sind als für Benutzer anderer Schriftsysteme und daß die schriftliche Repräsentation sprachlicher Einheiten bei Japanern einen besonderen psychischen Status genießt. Dies mag schon allein durch die intensive Beschäftigung mit der Schrift bedingt sein, die erforderlich ist, um sie zu erlernen. Aus ihr scheint sich zum Teil die Vorstellung zu entwickeln, daß ein Wort primär als Kanji existiert, das so oder so zu lesen ist, und weniger als bedeutungsvolle Lautgestalt, die so oder so geschrieben wird. Für die Annahme, daß die Assoziation eines Morphems mit einem Schriftzeichen enger ist als mit seiner phonologischen Form, spricht nicht nur der größere Informationsgehalt der Kanji; es gibt auch Befunde über die perzeptuelle und kognitive Verarbeitung der Schrift, die auf ihre Bestätigung hindeuten. Sie legen zugleich die Vermutung nahe, daß die phonologische Komponente im schriftlichen Kommunikationsprozeß eine variable Rolle spielt.” (Coulmas 1981, 69 f). Die Vorstellung, ein Wort sei identisch mit dem Schriftzeichen dafür, findet m. E. eine genaue Entsprechung in der Vorstellung von “Schreibern” alphabetischer Schriften, ein Wort setze sich aus Buchstaben zusammen, denen bestimmte Laute entsprechen. Schrift beherrscht das Sprachbewußtsein offenbar entscheidend. Nach meiner Erfahrung bedeutet es für Studierende z. B. eine erhebliche Anstrengung, Laut- und Buchstabenebene eindeutig auseinander zu halten und dabei dominiert immer die Schrift die lautliche Ebene. S. dazu auch III.2.2.

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  6. So auch Coulmas 1981, 21 ff.

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  7. Eine Ausnahme bilden m. W. Taubblinde, die Sprache als alphabetisierte Sprache erwerben. Helen Keller lernte Sprache, indem ihre Betreuerin ihr Wörter “in die Hand buchstabierte”: Berührungen an bestimmten Stellen der Hand symbolisierten bestimmte Buchstaben. Obwohl gerade die Lautgualität der Sprache nicht gelernt, da nicht gehört werden kann, basiert die Strukturierung der taktilen Reize und Wahrnehmungen auf dem alphabetischen Prinzip, welches selbst wiederum auf einer spezifischen Analyse der Lautstruktur beruht.

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  8. Die Tatsache, daß zunächst nur Konsonanten und keine Vokale notiert wurden, kann hier vernachlässigt werden, da sie am zugrundeliegenden Prinzip nichts ändert. Für eine Theorie des SSE ist sie jedoch nicht irrelevant. Denn wenn man sie zusammenbringt mit der empirischen Beobachtung, daß Vokale akustisch und auditiv sehr viel schwieriger zu isolieren sind als Konsonanten, daß Vokale gleichsam nur die Übergänge zwischen den Konsonanten markieren, dann wird deutlich, daß die Schriftgeschichte durchaus einen Beitrag zum Verständnis der Schwierigkeiten Schreibenlernender leisten kann.

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  9. Zeichenökonomie ist jedoch als absolutes Kriterium wenig angemessen und auch durch keine alphabetische Schrift(-norm) konsequent realisiert. Das gilt nicht nur in dem Sinne, daß das “Ideal” einer rein phonemischen Schrift mit eindeutigen Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln kaum erreicht ist; es gilt darüber hinaus in dem viel grundsätzlicheren Sinne, daß nämlich Phoneme als die lautstrukturellen Korrespondenzeinheiten für die Schriftstruktureinheiten nicht den größtmöglichen Abstraktionsgrad aufweisen: denn dieser kommt den distinktiven Merkmalen zu, die die Phoneme definieren. (Vgl. Coulmas 1981, 34 ff). Coulmas vertritt darüber hinaus die einleuchtend begründete und anhand des Japanischen belegte These, daß “Angemessenheit” und “Ökonomie” eines Schriftsystems immer relativ zur Struktur der verschrifte-ten Sprache beurteilt werden müssen. Für Sprachen mit “einfacher” Silbenstruktur wie das Japanische ist eine Silbenschrift angemessener als für Sprachen, die wie das Deutsche komplexe Konsonant-Vokal-Folgen innerhalb einer Silbe aufweisen, und daher eine ungleich größere Zahl von graphischen Symbolen für die Silben brauchten. (Coulmas 1981, 27 ff und 59).

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  10. Das führt natürlich nicht in jedem Falle zu orthographisch korrektem Schreiben wegen der berühmten “Ausnahmen von der Regel”.

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  11. Vgl. 3. dieses Kapitels.

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  12. Kleine Enzyklopädie 1969, 228.

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  13. Ich werde im folgenden nicht mit dem Graphembegriff arbeiten, sondern stets von Buchstaben und Buchstabenverbindungen sprechen. Zwar halte ich die Graphemdefinition weder für falsch, noch für überflüssig. Ich sehe aber eine Gefahr in der “einseitigen” Definition schriftsprachlicher Einheiten unter alleinigem Bezug auf die Lautsprache. Denn das kann eine Fixierung auf Abhängigkeit der Schrift- von der Lautsprache fördern, die das Verständnis von der (relativen) Autonomie, die der Schrift unter strukturellen, funktionalen und psychologischen Gesichtspunkten zukommt, behindern. (S. dazu auch Kohrt (1979) und (1980)) Die historische und logische Nachordnung alphabetischer Schriften gegenüber der Lautsprache darf nicht den Blick dafür verstellen, daß schriftsprachliche Tätigkeit eine Tätigkeit sui generis ist. Zwar halte ich Phonem-Graphem-Korrespondenzregeln zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Laut- und Schriftstruktur für sinnvoll. Es bedeutet jedoch sowohl für eine allgemeine Theorie der Schriftsprache als auch für eine der Schriftsprachdidaktik eine unzulässige Verengung, wesentliche Grundbegriffe in bezug auf die Lautsprache zu definieren. Um hier nichts zu präjudizieren, werde ich von Buchstaben und Buchstabenverbindungen sprechen. Wenn ich mich allerdings auf Literatur beziehe, die den Graphembegriff verwendet, so übernehme ich ihn in den entsprechenden Passagen. Linguisten waren bisher besonders anfällig dafür, die Lautsprache als die “eigentliche” Sprache zu betrachten, der andere Zeichensysteme nur nachgeordnet sein können (dazu Coulmas 1981, 21 ff). In der (Recht-)Schreibdidaktik der letzten Jahrzehnte war dahingegen durch die Betonung der visuellen Wahrnehmung und Einprägung beim Lesen- und Schreibenlernen die Lautstruktur als Bezugsgröße für die Schriftstruktur weitgehend zurückgedrängt — auch wiederum zu Lasten der Angemessenheit der Theorien. Der jüngst ausgetragenen Kontroverse zwischen Günther (1981) und Scheerer (1981) liegt m. E. nicht zuletzt die Tatsache zugrunde, daß dort ein Linguist und ein Psychologe über die Bedeutung der Lautsprache für die Schriftsprache miteinander diskutieren. Der Linguist Günther betont — an die Adresse von Linguisten vollkommen zu Recht — die Eigenständigkeit der Schriftsprache. Der Psychologe Scheerer hält es dahingegen für geboten, die Bedeutung der Lautstruktur für die Schriftstruktur und deren Erwerb zu unterstreichen. Das ist unter dem Eindruck der Bedeutung der visuellen Komponente bei wahrnehmungspsychologischen Ansätzen und deren Einfluß auf didaktische Lehrmeinungen (Ganzwortmethode!) ebenfalls angemessen. Aus dieser Forschungssituation sollte, um unfruchtbare Kontroversen in der bekannten “Entweder-Oder-Manier” zu vermeiden, die Konsequenz gezogen werden, Schriftsprache in allen ihren Aspekten zu erforschen und ihre Beziehungen zur Lautsprache als leil dessen zu analysieren und einzuordnen. Insbesondere ist entscheidend, daß über die Diskussion von Strukturbeziehungen die Frage nach den psycholinguistischen und soziolinguistischen Bedingungen bei schriftsprachlicher Tätigkeit nicht vernachlässigt wird.

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  14. Die Frage, wieviel und welche Phoneme die deutsche Sprache genau aufweist, wird durch verschiedene Theorien unterschiedlich beantwortet, kann hier jedoch vernachlässigt werden.

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  15. Nach der “Kleinen Enzyklopädie”, die auch Riehme zugrundelegt, stehen 40 Phonemen 85 Grapheme gegenüber.

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  16. Nach Riehmes Untersuchungen stehen die nichtphonematischen Zeichen in folgendem Verhältnis zueinander: Großschreibung 34 % bezeichnete Kürze und Länge 28 % ts (ts, z, tz) 11 % f (f, v, ph) 5 % sp - st 5 % s (s, ss, ß) 4 % alle übrigen (eu, kw, ch, sch, -ig, ich) 2 %. Die Rechnung muß jedoch einen Fehler enthalten, da die Summe der Prozentzahlen nur 89 ergibt.

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  17. S. Anmerkung 13).

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  18. Es enthält also morphologische und syntaktische Informationen.

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  19. Das Problem kann und soll hier weder in der wissenschaftshistorischen, noch in der grundlagentheoretischen Dimension, noch auf der Ebene gegenwärtig aktueller Entwicklungen der Phonologie behandelt werden. Diese Arbeit hat das Ziel, der Bedeutung der Bewußtwerdung sprachlicher Strukturen für den SSE nachzugehen. Das geschieht in diesem Kapitel durch die exemplarische Diskussion von “Silbe” und “Phonem” unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfügbarkeit für Sprecher / Hörer: Können sie als kleinen Kindern verfügbare diskrete Einheiten vorausgesetzt werden? Dazu ist es notwendig, die Frage aufzuwerfen, ob und wie die Silbe und das Phonem in der Psyche von Sprecher / Hörern verankert sind. Es ist jedoch nicht notwendig, das Problem der psychologischen Realität von Phonemen extensiv zu behandeln, — der dafür notwendige theoretische Aufwand stünde in keinem angemessenen Verhältnis zum Ertrag für die Argumentation der gesamten Arbeit, denn eine gründliche Erörterung würde ein eigenes Buch füllen. Für eine ausführliche Diskussion s. z. B. Linell (1979).

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  20. Zur Relativierung der These vgl. S. 41.

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  21. Die Annahme des Segments /k/ bei den beiden ersten Beispielen soll hier nicht weiter erörtert werden, da es um den Aufbau der Theorie geht und nicht um die Analyse der einzelnen Beispiele.

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  22. Vgl. dazu z. B. die Kritik von Singer (1984) an Mattingly, die im großen und ganzen mit dem Ansatz der vorliegenden Arbeit übereinstimmt.

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  23. Ebenso Lüdtke (1969); s. auch Marcel (1980). Die historische Entwicklung der Schrift läßt ebenfalls darauf schließen, daß die Ausgliederung von Phonemen keine selbstverständliche Leistung ist. Die Schaffung einer Alphabetschrift ist eine verhältnismäßig späte Erscheinung und wird in der einschlägigen Forschungsliteratur als Ausdruck eines relativ hohen linguistischen Reflexionsniveaus gewertet. Auch nach Sapir ist die Repräsentation phonemischer Strukturen in der Schrift durch “native writer” keineswegs der Normalfall, sondern er beruft sich auf “besonders intelligente” Gewährsleute.

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  24. “Vollends wird man erstaunt angesehen, wenn man ausspricht, dass in lange kein g, in der zweiten Silbe von legen, reden, Ritter, schütteln kein e gesprochen werde, dass der Schlußkonsonant von leben nach der verbreiteten Aussprache kein n, sondern ein m gleichfalls ohne vorhergehendes e sei.” (Paul 1968, 51) In diesem Zitat werden sowohl phonemische wie auch phonetische Verhältnisse thematisiert.

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  25. S. dazu auch den informativen Bericht in Valtin (1984 b).

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  26. Savin / Bever (1970) zeigen für Erwachsene, daß sie Silben schneller ausgliedern können aus einem Kontext als Phoneme.

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  27. Valtin (1984 b) berichtet ausführlich über eine unveröffentlichte Langzeitstudie von Lundberg und Mitarbeitern.

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  28. Innerer und äußerer Sandhi im Sanskrit stellen eine Entsprechung auf der Schriftebene dar.

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  29. Allerdings hat Bierwisch recht, wenn er davor warnt, die Aufmerksamkeit von Schreibenlernenden auf eine genaue phonetische Analyse zu lenken, da die Orthographie weniger die phonetischen, als die phonemischen Verhältnisse wiedergibt.

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  30. Lenneberg 1977, 144.

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  31. Lüdtke (1969) stellt die These auf, daß die “Entdeckung” von Phonemen durch die strukturalistische Linguistik überhaupt erst eine Folge der Alphabetisierung ist, daß Phoneme also auf dem Strukturprinzip alphabetischer Schriften beruhen und nicht etwa umgekehrt. Vgl. auch Paul 1968, 51 f.

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  32. Diesen Gesichtspunkt vernachlässigen alle zuvor zitierten Autoren der empirischen Arbeiten über die Fähigkeiten von Kindern zur Isolierung von Phonemen und Silben aus einem Kontext, da sie nur die Anforderungen an die Abstraktionsfähigkeit bei einer phonemischen Analyse betonen und übersehen, daß auch die Wiedergabe phonetischer Strukturen auf weitreichenden Abstraktionen beruht.

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  33. Libermann u. a. (1967).

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  34. Sie nehmen auch eine entscheidende Bedeutung der Produktionskomponente für die Perzeption an, da diese mit artikulatorischen Impulsen verbunden seien. Für das Verhältnis von Produktion und Perzeption s. auch die Diskussion bei Linell 1979, 39 – 46 und 222, und die dort angegebene Literatur.

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  35. Unter afferenten Prozessen werden nicht selbst ausgelöste Prozesse in den Sinneszellen verstanden, sie verarbeiten also von außen kommende Information. Reafferenzen sind “Rückmeldungen, über die sich das Zentrum über den Zustand seiner Peripherie informiert”. (Tillmann / Mansell 1980, 203) “Die zeitliche Verzögerung zwischen Efferenz und den dazugehörigen Reafferenzen ist umso größer, je länger der Weg ist vom efferenten Ausgangspunkt auf dem motorischen Kortex zu den afferenten Endpunkten auf dem sensorischen.” (a. a. 0., 205) Deshalb werden kleine Versprecher in ganzen Silben, also relativ spät korrigiert, denn die auf dem sensorischen Kortex eintreffende Rückmeldung kommt für eine zentrale Kontrolle zu spät an. Bei automatisierten Bewegungen geschieht auch die Korrektur automatisch, bei nichtautomatisierten schaltet sich die zentrale Kontrolle dazwischen.

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  36. “Wir haben bereits gesehen, daß die gesamte Körperoberfläche zu einem zusammenhängenden Bild auf den sensorischen Kortex projiziert wird. Wir dürfen nun hinzufügen, daß die Projektion der artikulatorischen Retina etwa ein ganzes Drittel dieser Projektionsfläche für sich beansprucht. Der Sprechapparat ist also rein sensorisch gesprochen ausgesprochen stark repräsentiert. Wir müssen festhalten, daß auf der Hirnrinde ein zusammenhängendes Bild der artikulatorischen Retina existiert. Die retinalen Erregungsmuster der Peripherie werden also auf dieses zusammenhängende Gebiet der Hirnrinde sogar in ihrer Geometrie projiziert. Die Artikulationsstellen sind also nicht nur im Sprechapparat, sondern auch direkt auf der sensorischen Großhirnrinde vorhanden.” (Tillmann / Mansell 1980, 210 f)

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  37. “Während wir das artikulatorische Oberflächenverhalten in seinen Einzelheiten durch die analphabetische Beschreibung wiedergeben konnten, können wir nun sagen, daß sich aus der retinal diskretisierten Form dieses Verhaltens die alphabetische Beschreibung des tatsächlich Gesprochenen ergibt. Und zwar ergeben sich die konsonantischen Prädikate mehr oder weniger direkt aus der taktilen Reizform, während die vokalischen Prädikate aus den Varianten der taktilen Reizmuster abgeleitet werden können.” (a. a. 0., 218 f).

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  38. Um Mißverständnisse zu vermeiden, erscheint eine Erläuterung des Begriffs “kortikales Bild” angebracht: “Die kortikalen Bilder sind Bilder nur im mathematisch abstrakten Sinne; die lokalen Aktivitäten auf der Hirnrinde sind Kodierungen von Vorgängen, die allein aufgrund der physikalischen Naturgesetze zustande kommen. Inhaltlich haben die kortikalen Bilder mit den subjektiv wahrgenommenen Ereignissen, mit denen sie koinzidieren, gar nichts gemeinsam. Das einzige, was am Inhalt der kortikalen Bilder als solches von Interesse ist, das ist ihre logische Unterscheidbarkeit. Mit anderen Worten: das Nervensystem des Hörers ist ein abgeschlossenes System, das nichts anderes leistet, als Unterschiede zu kodieren und unterscheidbare Vorgänge im kodierten Kontinuum unterscheidbar darzustellen.” (a. a. O., 291)

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  39. Dieser Einwand sticht m. E. in der vorliegenden allgemeinen Formulierung nicht. Denn die in der Realität existierenden Verschiedenheiten der lautlichen Qualität sprachlicher Ketten werden vom sprechenden / hörenden Subjekt gar nicht “wahrgenommen”. Bewußt sind zunächst Inhalte und Ziele, die mit der Sprechtätigkeit verfolgt werden. Darin hat Bernšstein zweifellos recht. Mit Leontjew ist davon auszugehen, daß tiefere Ebenen der sprachlichen Tätigkeit bewußt werden können, dazu gehört selbstverständlich auch die lautliche Qualität bzw. das Artikulationsverhalten. Nun hat die Tradition der phonetischen Wissenschaft gezeigt, daß Menschen akustisch ungenauer als Maschinen “wahrnehmen”, ihre Wahrnehmung arbeitet selektiv. Das ist schon daran zu erkennen, daß die apparative Phonetik Einsichten in die phonetische Struktur vermittelte, die durch Introspektion nicht möglich waren. Gegen meine Kritik könnte argumentiert werden, daß das Buch von Tillmann / Mansell gerade beschreiben will, wie die “Vielfalt” der äußeren Welt, hier die akustische Qualität von Sprache, physiologisch so verarbeitet wird, daß genau die selektive Wahrnehmung entsteht. Aber das dabei zugrundegelegte Wissen über die äußere Welt entstammt zum großen Teil apparativen Meßverfahren. Daher kann ich den einen gegen das Kodiermodell gerichteten Einwand in dieser allgemeinen Formulierung nicht akzeptieren: “(...) erstens wird das ‘verschiedene’ nur in der äußeren Welt wahrgenommen und nicht in den kortikalen Bildern, ohne die es diese äußere Welt für niemanden gäbe.” (a. a. 0., 285). Es könnte ja sein, daß bereits vor der Abbildung auf dem Kortex Verarbeitungsprozesse stattgefunden haben, die zu hochabstrakten Repräsentationen führen. Einschlägig wäre hier z. B. die These Bernsteins vom Operator, der ein “Modell der Wirklichkeit” erarbeitet. Diese grundsätzlichen Überlegungen richten sich selbstverständlich nicht gegen die Annahme, daß die kortikalen Bilder phonetische (und keine phonemischen, denn darum geht es ja) Repräsentationen enthalten, wenn diese empirisch begründet ist. Zu Bernstein s. 5.1.

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  40. Möglicherweise betrachten die Autoren dieses nicht als Aufgabe eines Buches mit dem Titel “Phonetik”. Gemessen an dem Problemhorizont, den sie abstecken, hätten sie dies jedoch tun sollen.

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  41. Unter Vorgriff auf die nächsten Kapitel: Die Frage nach der Rolle von Phonemen bei Sprachproduktion und -perzeption ist letztlich die Frage danach, wie statische linguistische Strukturelemente überführt werden können in dynamische Prozeßmodelle.

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  42. Gibson / Levin (1975); Valtin (1981) und (1984 b).

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  43. Im folgenden beschränke ich mich auf sprachliches Wissen; neben dem sprachlichen wird bei Sprachproduktion und -perzeption auch sog. “Weltwissen” aktiviert. Zu der Repräsentation von Wissen im Rahmen der Künstlichen Intelligenz s. z. B. die einführende Darstellung von Wettler (1980).

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  44. Ein Problem der Adaptation englischsprachiger Literatur, die von der Bedeutung der Wörter “to know, knowledge” ausgeht, für das Deutsche liegt darin, daß diese nicht in jeder Verwendungsweise durch “wissen, Wissen” übersetzt werden können, sondern teilweise durch “kennen, Kenntnis”. Die logische Analyse verschiedener Sorten von Wissen wird dadurch jedoch nicht substantiell beeinflußt.

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  45. S knows that p if and only if (i) it is true that p, (ii) S believes that p, (iii) S is completely justified in believing that p, and (iv) S is completely justified in believing that p in some way that does not depend on any false statement.” (Lehrer 1974, 21)

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  46. Zum Problem der Begriffe “knowledge” und “competence” vgl. z. B. Chomsky 1975, zum Begriff kognisieren vgl. Chomsky (1975), 199 ff und Chomsky 1981, 75 ff.

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  47. Lehrer nennt bei seiner Differenzierung von drei verschiedenen Bedeutungen des Wortes “know” als eine andere Bedeutung: “eine besondere Form der Kompetenz haben” (“to have some special form of competence”). Damit ist der Gebrauch des Wortes “know” im Sinne von “wissen, wie etwas gemacht wird” gemeint. Nun gibt es eine umfangreiche Debatte über die Frage, ob sprachliches Wissen als “knowledge how” oder als “knowledge that” zu klassifizieren sei. Das Problem der logischen Analyse sprachlichen Wissens ist jedoch keineswegs damit gelöst, daß man feststellt, sprachliches Wissen im Sinne von “mentaler Repräsentation” falle nicht unter den von Lehrer explizierten Wissensbegriff, sondern unter das (von ihm nicht weiter bearbeitete) “Wissen wie”. Denn die Aufgabe besteht dann trivialerweise gerade darin, diese Sorte von Wissen zu analysieren, da das Konzept von Ryle, es als “Disposition” zu bezeichnen, nicht ausreicht. In diese Debatte einzusteigen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einige Aspekte der Unterscheidung zwischen “knowledge how” und “knowledge that” werden jedoch im letzten Kapitel erörtert.

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  48. S. auch die Ausführungen zum Problem der kortikalen De- und Enkodie-rung im Anschluß an Tillmann / Mansell, S. 38 ff.

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  49. Für eine erste Orientierung darüber vgl. Schnelle (1981).

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  50. Zum Beispiel durch Untersuchungen von Hirngeschädigten oder neuro-psychologische Experimente mit Gesunden.

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  51. Bernštein (1975).

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  52. Daß ich mich intensiver mit Bernštein beschäftigt habe, verdanke ich einem mündlichen Hinweis von Irina Weigl. Sowohl die Neuropsychologen Luria und Weigl, der Psychologe A. N. Leontjew als auch der Psycholinguist A. A. Leontjew bauen auf den Forschungen von Bernštein auf. S. z. B. Weigl 1981, 7; Leontjew 1973, 145; Leontjew 1975, 28. Ein neuerer, in der Bundesrepublik Deutschland erschienener Beitrag, der auf Bernštein fußt, ist Sappok (1981).

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  53. Bernštein 1975, 141 ff.

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  54. Leontjew 1975, 22 ff.

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  55. Es entbehrt nicht der Ironie, daß Bernšteins Kritik, die er gegen simplifizierte, auf die Reflexpsychologie reduzierte materialistische Modelle der Widerspiegelung der Realität im menschlichen Gehirn entwickelte, auch Argumente gegen Chomskys Postulat der psychischen Realität linguistischer Modelle als Modelle des unbewußten Sprachwissens liefert, obwohl dem ein idealistischer Sprachbegriff zugrundeliegt. Der entscheidende Ansatzpunkt Bernšteins liegt in der Annahme eines spezifischen aktiven Verarbeitungsmechanismus im Gehirn, der objektive Strukturen der Realität transformiert nach (physiologisehen) Prinzipien menschlicher Wahrnehmung und (motorischer) Veränderung der Realität; er geht also von einer Dialektik zwischen Einwirkung der Realität auf den Organismus und aktiver Bearbeitung der Realität durch diesen aus.

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  56. In Kap. IV wird das Verhältnis von Strukturen und Prozessen, statischem und dynamischem Aspekt ausführlich diskutiert.

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  57. Die Abkürzung bedeutet: T (= Test) 0 (= Operate) T (= Test) E (= Exit).

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  58. Das entspricht dem “Modell des Zukünftigen” bei Bernstein.

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  59. Die Ebenenhierarchie wird sukzessive während der ontogenetischen Entwicklung vom Kind aufgebaut. (Bernstein 1975, 112 ff)

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  60. Unter “Syntagma” versteht Leontjew eine Einheit des motorischen Programms (es ist also kein syntaktischer Begriff), die mehrere Silben enthält. Leontjew 1975, 277.

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  61. Es liegt nahe, die Quant-Wörter eines Modells der Sprachfähigkeit den Satzgliedern in einem Modell der Sprache zuzuordnen. Quant-Wörter werden jedoch nicht nach den gleichen Kriterien identifiziert wie Syntagmen. Ich vermute, daß Sprecher / Hörer sie identifizieren, indem sie die Handlung, auf die sprachlich referiert wird, analysieren. Der Vorgang, die Handlungsträger, -Objekte und -umstände werden isoliert, so daß keine auf die sprachliche Form gerichtete Analyse vorgenommen wird. Denn die Patienten haben genau die Fähigkeit zum bewußten Umgang mit Sprache verloren. S. dazu die Unterscheidung zwischen Ausgliederung und Bewußtwerdung in Abschnitt 6. Metasprachliche Strukturierungen kleiner Kinder, die noch keine be-wußte, analytische Haltung zur sprachlichen Form aufgebaut haben, weisen ähnliche Strukturmerkmale auf. S. dazu Kap. II.

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  62. Die Hierarchie ist nicht als zeitliche Reihenfolge bei sprachlichen Prozessen zu interpretieren.

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  63. S. auch die Unterscheidung zwischen lexikalischem und phonetischem und artikulatorischem Plan bei Linell 1979, 47 ff.

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  64. So auch Linell 1979, 44.

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  65. S. dazu auch Kap. II.2.5.

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  66. Silben können selbstverständlich auch durch bewußte, analytische Handlungen aus einem Kontext isoliert werden; der entscheidende Unterschied zu Phonemen liegt darin, daß diese nicht unbewußt verfügbar sind, aber jene.

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  67. Ich erinnere an die Untersuchung von Fox / Routh (1975), die die Fähigkeit dazu schon bei Vierjährigen zeigte.

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  68. Die Untersuchung wurde mit russischen Patienten angestellt, man muß bei der Übertragung ins Deutsche also Strukturverschiedenheiten zwischen beiden Sprachen beachten. Bei den gegebenen Beispielen ist die Übertragung jedoch möglich.

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  69. Die Folgerungen gelten insgesamt für linguistische Einheiten, die beim SSE bewußt werden müssen. Da ich in diesem Kapitel die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen MSpF und MSp jedoch am Beispiel von Phonemen herausgearbeitet habe, formulie ich sie in bezug auf diese. In den nächsten Kapiteln werden dann auch andere sprachliche Einheiten und Aspekte einbezogen.

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  70. Für die didaktische Praxis erweist sich dieser theoretische Status von Lautsegmenten z. B. immer dann als relevant, wenn für ein Kind als Ursache seines Versagens beim SSE “mangelnde auditive Wahrnehmungsfähigkeit” festgestellt wird. Dann muß nämlich unbedingt unterschieden werden, ob ein Hörfehler vorliegt, so daß sprachliche Äußerungen schlecht verstanden (“gehört”) werden, oder ob das Kind Schwierigkeiten hat, seine auditiven Sprachwahrnehmungen bewußt zu strukturieren. Die Therapie wird in Abhängigkeit davon, welche Diagnose zutrifft, jeweils völlig anders aussehen müssen. In dem einen Fall geht es um die Kompensation einer körperlichen Behinderung, im anderen darum, einen Lernprozeß einzuleiten, der aus Gründen, die erforscht werden müssen, blockiert ist. Diese Differenzierung gehört nach meiner Erfahrung durchaus nicht zu den Selbstverständlichkeiten pädagogischer und psychologischer Praxis.

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Andresen, H. (1985). Theoretische Grundlagen. In: Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewußtheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-14320-8_2

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