Zusammenfassung
Ausländische Gäste, die an einem georgischen Tisch zum Essen und Trinken Platz nehmen, wissen selten, daß sie sich in eine Situation begeben, die sich von vergleichbaren Situationen ihres Heimatlandes stark unterscheidet. Sie sind in ein Zeremoniell eingetaucht, das mit dem im Westen üblichen Geplauder zwischen Speis und Trank nur wenig zu tun hat, das alte Zeremoniell des supra, der Tafel. Der Rahmen des Essens mit Gästen ist interkulturell sehr unterschiedlich realisiert und aktiviert ganz andere schematische Wissensbestände.1 Das kaukasische Georgien ist immer gastfreundlich gewesen, und die Gastfreundschaft wird bis auf den heutigen Tag zelebriert.2 Die Inszenierung eines supra gehört unbedingt zur Ehrbezeugung gegenüber dem Gast dazu. Aber auch unter sich, d.h. in Großfamilie und Nachbarschaft, gibt es viele Anlässe zum zeremoniellen Tafeln, z.B. Hochzeiten, Geburtstage, Dissertationsverteidigungen, Geburten, Heimkehr von Reisen, aber auch Todesfälle und ihre Jahrestage. Entsprechend der Anlässe werden die “glücklichen” Tafeln (lxinis supra) von den “traurigen” (čiris supra) unterschieden. Durch die Auswahl der Speisen und die Themen der Trinksprüche sind beide Anlässe klar voneinander abgrenzbar.
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Literatur
Ich gebrauche den Ausdruck “Rahmen” im Sinne von Goffman (1980), der darunter Situationsdefinitionen und -wahrnehmungen von Ereignissen versteht, die durch bestimmte kulturgeprägte Organisationsprinzipien zustandekommen.
Gastfreundschaft gehört zentral zu den Momenten positiver nationaler Selbstbeschreibung der Georgier und Georgierinnen.
Siehe Douglas (1975) und Enninger (1982) zur Diskussion der Semiotik der Kulinaria.
Die Transliteration aus dem Georgischen folgt den allgemeinen wissenschaftlichen Normen, wie sie z.B. in Fähnrich (1986) dargelegt sind. Ich notiere allerdings den stimmhaften postvelaren Reibelaut als “r”.
Zur Geschlechterproblematik der Gattung siehe vor allem Kotthoff (1991).
Brown/Levinson (1987) präsentieren ein universales Höflichkeitskonzept. Zur Kulturspezifik von Höflichkeit gibt es inzwischen eine Fülle von Literatur, z.B. Held (1995).
Müller (1989) diskutiert die Ethnoperformanz von Dreier-Listenstrukturen, Lautparallelismen und Verfahren oraler Stilisierung überhaupt.
Ein heidnisch-christliches Heiligtum von Piavi und Chevsuretien. Religionsethnologisch sind die Gegenden Georgiens sehr interessant. Häufig mischt sich orthodoxes Christentum mit Elementen anderer Religionen. So ist Larari kein christlicher Heiliger, was aber niemanden daran hindert, ihn einfach zu einem solchen zu erklären, wenn man sich als christlich ausgeben möchte. In kommunistischer Zeit war der kirchliche Einfluß in Georgien gering. So konnten sich alte regional-religiöse Vorstellungen gut erhalten und nach Belieben mit christlichen mischen. In Piavi findet sich z.B. auch eine starke Verehrung von Bäumen. Die Gemeinden haben religiöse Oberhäupter, die mit der Kirche überhaupt nichts zu tun haben. Trotzdem feiert man auch christliche Feiertage, z.B. zu Ehren von Maria und dem heiligen Georg.
Das Opfern ist in Georgien als religiöser Brauch wesentlich verbreiteter als bei uns. Sogar in der Hauptstadt Tbilisi fallen vor Festtagen die vielen Schafe auf, die eigens zur Opferung auf Balkonen gehalten werden.
Mit Gluckman (1962) und anderen Anthropologen kann man als wichtige Funktion des Zusammenhangs von Religion und Ritus die Stabilisierung der Gesellschaft annehmen.
In Kotthoff (1995) präsentiere ich drei georgische Gattungen der poetisch-formalisierten Rededuelle, die in den ländlichen Gegenden Georgiens noch praktiziert werden. Diese Rededuelle haben den Charakter von Wettkämpfen, bei denen es Sieger und Verlierer gibt.
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Kotthoff, H. (1999). Mahlzeiten mit Moral: Georgische Trinksprüche zwischen Pathos und Poesie. In: Bergmann, J., Luckmann, T. (eds) Kommunikative Konstruktion von Moral. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-12193-0_1
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