Zusammenfassung
Die antike Philosophie der Natur, so habe ich oben festgestellt, entzaubert ihren Gegenstand im Zuge seiner begrifflichen Ausdifferenzierung. Was von ihr als eigenständiges Forschungsobjekt ausgewiesen wird, soll nicht länger mit den anthropomorphen Metaphern beschrieben werden, die den mythischen Weltdeutungen zu eigen sind.1 Insofern kann die Entstehung der Naturphilosophie als fundamentaler Dezentrierungsschritt in der Entwicklung des Denkens begriffen werden. Keineswegs aber entspricht dieser Dezentrierungsschritt jener Entzauberung der Natur, durch die sie im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Begriff des mathematischen Naturgesetzes dem neuzeitlichen Planungs- und Berechnungskalkül unterworfen wurde. Der Naturbegriff der Antike verharrt trotz aller Distanzierung von der anthropomorph-personalisierten Erzählung des Mythos strukturlogisch im Stadium der primären Kausalität.
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Literatur
Bereits Thales suchte — trotz seiner Annahme, „alles (sei) von Göttern voll“ — nach strikt immanenten Erklärungen für Naturgeschehnisse und spekulierte so z. B. über den Zusammenhang von jahreszeitlich zusammentreffenden Winden und Hochwassern, vgl. Thales, Fragm. r3 u. 54. Sein Schüler Anaximander entwickelte bereits den Begriff eines entpersonalisierten, anfangslosen und unbegrenzten Naturprinzips, des Apeiron, und stellte ebenfalls meteorologische Hypothesen auf, vgl. Anaximander, Fragm. 12, 14, z3-z3. Bei Heraklit findet sich die Abgrenzung gegen den anthropomorphen Pantheon in aller Deutlichkeit: „Die gegebene schöne Ordnung… aller Dinge, dieselbe in allem, ist weder von einem der Götter noch von einem der Menschen geschaffen worden, sondern sie war immer, ist und wird sein: Feuer, ewig lebendig, nach Maßen entflammend und nach Maßen erlöschend.” (Heraklit, Fragm. 62.)
Siehe unten, Kapitel v, 3.
Vgl. K. Popper, Objektive Erkenntnis.
Dabei werden auch Differenzen zwischen Spätantike und mittelalterlicher Scholastik aufzuweisen sein. Unter strukturlogischem Gesichtspunkt bilden die Arbeiten spätantiker Naturphilosophen jedoch kein eigenständiges Stadium. Soweit sie nicht der tradierten, Aristotelischen Logik folgen, nehmen sie im wesentlichen Gedankengänge vorweg, die in der Scholastik zur Entfaltung kamen.
Vgl. neben vielen anderen C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 45 ff.
Darin weiß sich die philosophische Anthropologie einig. Vgl. nur J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 20 ff.; H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 2.88 ff.; A. Gehlen, Der Mensch, S. 9 ff. Die Offenheit des menschlichen Weltbezugs ist freilich keine unbedingte. Historisch und ontogenetisch entstehen qua Selektion Strukturierungen, die Möglichkeiten ausschließen und neue Möglichkeiten erschließen. In Nietzsches bekannter Formulierung, „der Mensch (ist) das noch nicht festgestellte Thier“ (Jenseits von Gut und Böse, § 62, S. 8e), liegt die Betonung (auch) auf dem „noch”: Der Mensch ist das Wesen, das sich in seiner Geschichte Strukturen gibt, die ebenso rigide wirken können wie die naturalen Fixierungen des Tieres. Zurfundierenden Rolle dieses Theorems und anthropologischer Überlegungen allgemein für die Sozialwissenschaften vgl. A. Honneth/H. Joas, Soziales Handeln und menschliche Natur. Die Konsequenzen für den soziologischen Handlungsbegriff hat A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, gezogen.
Von dieser heftig geführten Kontroverse um die Instanz, dem das Sinn konstituierende Überschußpotential zuzurechnen ist, wird die grundlegende und bemerkenswerte Einigkeit über den Sinnbegriff mitunter übertönt. Während die handlungs-und entwicklungstheoretische Tradition theoriearchitektonisch mit dem Sinnbegriff das Subjekt als Basiselement der Soziologie zu verankern sucht, konzipieren differenztheoretische Zugänge den Sinnüberschuß „antihumanistisch“ als Konsequenz einer Bewegung, die den Medien, insbesondere der Sprache bzw. Schrift selbst eignet. (Vgl. für die enge Verknüpfung von Sinn-und Subjektbegriff in der ersten Tradition z. B. Max Webers Konzeption des „subjektiv gemeinten Sinns”. Am Beispiel Webers wird auch die Gefahr einer solchen Konzeption sichtbar, die insbesondere darin liegt, dem Subjekt Letztbegründungsqualitäten zuzuschreiben. Bei Weber geschieht dies in der Kategorie der Entscheidung. Vgl. hierzu G. Dux, Subjekt und Gegenstand im Erkenntnisprozeß historischen Verstehens. — Zur differenztheoretischen, antihumanistische Tradition vgl. in der Verlängerung des Strukturalismus z. B. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge; J. Derrida, Die Schrift und die Differenz. Zur Kritik dieser Perspektive vgl. G. Dux, Wie der Sinn in die Welt kam und was aus ihm wurde; U. Wenzel, Poststrukturalistische Medienforschung.) Jenseits der kritischen Feststellung, dieser Antihumanismus reifiziere nur anstelle des dekonstruierten Subjekts mit der Sprache bzw. Schrift eine andere, gleichermaßen zweifelhafte Instanz, gibt die Kontroverse Anlaß für entwicklungstheoretische Überlegungen. Ausgangspunkt für die differenztheoretischen Argumentationslinie ist ja nicht zuletzt die Beobachtung, daß ein Denken in Subjekt-Objekt-Relationen Schwierigkeiten hat, einen Begriff vom Anderen zu entwickeln. Dies wird vor allem in Hinblick auf die Problematik der Entstehung des Neuen im Entwicklungsprozeß deutlich. Ich nehme die unterschiedlichen Ansätze zur Formulierung des Sinnbegriffs deshalb in den entwicklungstheoretischen Schlußfolgerungen (Kapitel vit) noch einmal auf. — Eine originelle differenztheoretische Fassung des Sinnbegriffs bietet der systemtheoretische Entwurf von N. Luhmann, Soziale Systeme. Hier geht Sinn nicht — wie im Poststrukturalismus üblich — in einem Medium (oder mehreren) auf, sondern figuriert selbst als Medium.
J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. zr f.
Vgl. ebd., S. 26 ff.
Ich sage nicht „einem Gewählten“, um alle unnötigen Bezüge zu voluntaristischen Handlungskonzeptionen zu vermeiden.
Sinn-Gegenstände sind nicht notwendigerweise „Dinge“. Das Dingschema, in dem die durch die Sinnoperation gebildete Einheit präexistent gesetzt wird, ist nur eine unter mehreren Möglichkeiten, den synthetisierten Objekten Existenz zuzusprechen. Das Verwiesensein von Sinn auf Gegenstände ist demgegenüber in seiner Form begründet: Bewußtsein und Kommunikation, das hat insbesondere Husserl betont, beziehen sich auf „etwas” in Abgrenzung zu „anderem“, gleich wie diese Gegenstände hernach aufgefaßt werden. Luhmann hat dieses universale Moment der Sinnform als Sachdimension von den zeitlichen und sozialen Momenten unterschieden (N. Luhmann, Soziale Systeme, S. rrz ff).
A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, S. 74. Schütz verwendet hier den Terminus „sinnvoll“ für das, was in der vorliegenden Arbeit mit „sinnhaft” bezeichnet wird. „Sinnfülle“ wird hier reserviert für die Bewertung sinnhaften Geschehens vor dem Hintergrund von Lebensplänen oder moralischen Maßstäben. Anders gesagt, Ereignisse oder Handlungen können als „sinnvoll” und „sinnentleert/sinnlos“ nur vor dem Hintergrund einer sinnhaften Lebensweise qualifiziert werden.
Vgl. A. Schütz, ebd., S. 74 ff. Handeln vollzieht sich Schütz zufolge immer im modo futuri exacti (ebd., S. 81).
In philosophisch-anthropologischer Perspektive wird dieser Gedanke in Plessners Begriff der Exzentrizität besonders deutlich. Vgl. H. Plessner, a. a. O.
Vgl. D. Sedley, Is Aristotle’s teleology anthropocentric?
Aristoteles, Phys., n, r, 19zb. (Bei Verweisen auf die Schriften des Aristoteles sind jeweils Buch, Kapitel und die traditionelle Seitenzählung nach der Bekker-Ausgabe von 1831 angegeben.)
Vgl. Aristoteles, Phys., uI, z, zoza; VII, I; vm, 4. Einzig von den Lebewesen wird gesagt, sie seien „Selbstbeweger“, aber auch das wird noch auf zweifache Weise eingeschränkt: Sich selbst bewegen kann auch ein Lebewesen im strikten Sinne nicht, seine Ausnahmestellung erfährt es nur daher, daß in ihm der bewegende und der bewegte Teil auf natürliche Weise vereinigt sind. Außerdem ist der bewegende Teil, die Seele, selbst noch einmal von etwas anderem bewegt. Siehe hierzu den Abschnitt „Selbstbeweger” im nächsten Kapitel.
Der in den Dingen selbst liegende „Anfang“ von Veränderung und Ruhe setzt sich in diesem Fall aus einem „männlichen” Prinzip des Bewegens und Erzeugens und einem „weiblichen“ Prinzip des zu formenden Stoffs zusammen, vgl. Aristoteles, GA, 1, 2.
Vgl. z. B. Aristoteles, Phys., VIII, 4, z55b.
Ebd., II, 8, 199 a.
Aristoteles, Phys. (Ed. Wicksteed/Cornford), n, 8, 199 b. Wicksteeds Übertragung bringt den Gedanken klarer zum Ausdruck als diejenige Zekls: „Unverständlich ist der Einwand, man könne doch nicht meinen, sie (die Naturabläufe) erfolgten wegen etwas, wenn man ja nicht sehe, daß das Anstoßgebende planend mit sich zu Rate gegangen sei. Doch auch die Kunstfertigkeit überlegt nicht mehr hin und her; und wenn die Schiffsbaukunst in dem Holz läge, dann würde sie ähnlich wie die Natur zu Werke gehen.“
Mit dem Problem des Entschlusses oder der Absicht ist selbstverständlich nicht die Sinnform der menschlichen Handlung bzw. Kommunikation angesprochen, wie sie von der modernen Soziologie verstanden wird. Wie man bereits an der Beschränkung dieses Begriffs auf Erwachsene sieht, steht für Aristoteles ein Rationalitätsaspekt im Vordergrund, der in einer Reihe soziologischer Theorien als zu voraussetzungsreich aus dem Sinnbegriff ausgeklammert wird. Gleichwohl sind mit diesem Thema in der Eth. Nic. durchaus Aspekte angesprochen, die von der Soziologie im Sinnbegriff behandelt werden. Eigens stellt Aristoteles fest, der von ihm verwendete Begriff, rtpoaCgros, konnotiere, daß etwas vor anderem gewählt werde (Eth. Nic., in, z, irrza). In diesem Verständnis reflektiert der Terminus ein für den modernen Sinnbegriff (vom Symbolischen Interaktionismus bis zur Systemtheorie) sehr wesentliches Moment, nämlich das der Selektivität angesichts von Kontingenz: Handlungen bzw. Kommunikationen sind sinnvoll, insofern sie vor einem nicht exakt bestimmbaren, aber präsenten Horizont weiterer Möglichkeiten realisiert werden. — Besonders deutlich werden die Spuren des Aristotelismus in dem im Anschluß an Husserl gewonnenen Sinnbegriff Luhmanns. Alle Sinnerfahrung sei gekennzeichnet durch die Differenz von Aktualität und Potentialität (N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 92 ff., z. B. S. su). Als weitere grundlegende Momente des Sinnbegriffs werden Sequentialität und Selbstreferentialität genannt.
Aristoteles, Eth. Nic., ui, 3, urza.
Lesart laut Rackham unklar. Muß evtl. heißen:,,… more about our opinions“. z6 Aristoteles, Eth. Nic., m, 3, rnzb.
Vgl. ebd., iI, 3. Damit hat Aristoteles den Bereich des ethischen Urteils abgegrenzt: Tugendhaft kann ein Handeln nur dort sein, wo es unserer Wahl untersteht; die Mittel unterstehen unserer Abwägung und Wahl, also äußert sich die Tugendhaftigkeit eines Mannes vorzugsweise in der Wahl seiner Mittel, vgl. ebd., ni, 5, m3 b.
Ebd., in, 3, nrzb.
Vgl. ebd., ni, 5, nr4a.
Vgl. ebd., x, 9, n79 ff. Es werden noch andere Ursachen für die Herausbildung einer ethischen Disposition genannt, etwa göttliche Fügung.
Vgl. unten, Kapitel iv, z.
Vgl. Aristoteles, Eth. Nic., i, 8, ro97b.
Vgl. ebd., rrr, 3, rrr3 ab.
Ebd., III, 3, ru3 a.
Vgl. ebd., vi, 5–7: „Nor is Prudence a knowledge of general principles only: it must also take account of particular facts, since it is concerned with action, and action deals with particular things“ (ebd., vi, 7, r141b).
So aber, sogar mit Bezug auf die 400–500 Jahre früher liegende homerische Zeit, M. Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung.
Vgl. Aristoteles, Phys., vni, 4, z55b.
Die Einführung eines Kontingenzmoments in die Finalität der Natur bereitet dem aristotelischen Weltbild daher die allergrößten Schwierigkeiten. Nur daher erklärt sich das Interesse, das die mittelalterliche Scholastik bestimmten gedankenexperimentell konstruierten Konstellationen entgegenbrachte, bei denen einem Naturkörper mehrere gleich wahrscheinliche Wege zu seinem Telos zur Verfügung stehen. Für das finalistische Weltbild wird die Frage, warum einer dieser Wege den anderen vorgezogen wird, zum unlösbaren Problem. Vgl. unten, Kapitel v.
Aristoteles, Phys., n, 8, 199a. — Ein Beispiel für solche Fehler in den Dingen, die „von Natur aus“ sind, sind Mißbildungen bei den Nachkommen von Tieren oder Menschen.
Vgl. Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen.
Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch; G. H. Mead, Geist — Identität — Gesellschaft; W. L. Schneider, Die Beobachtung von Kommunikation.
Vgl. Aristoteles, Phys., 1, 7, i89b—r9ra; u, r, 593 ab.
Vgl. ebd., n, I 593 b.
Die Notwendigkeit eines externen Bewegers wird systematisch in Phys., vili, 4, entwikkelt. Vgl. auch Met., O, ro46a. Für die Annahme, wonach zwischen Ursache und Bewirktem eine Identität bestehen muß, vgl. Phys., 1n, 3. Um genau zu sein: Da die Ursache bereits aktuell die Form aufweist, die das Bewirkte erst potentiell an sich hat, sind sie nicht identisch; sie sind zwei Seiten eines einzigen Veränderungsprozesses und entsprechen einander, wie „der Weg von Theben nach Athen und der von Athen nach Theben“ (ebd.). Vgl. zu dieser Passage J. Weisheipl, The principle omne quad movetur ab alio movetur in Medieval physics, S. 76 f.
Aristoteles, Phys., 1, 9, 192a.
Vgl. H. S. Lang, Aristotle’s Physics and Its Medieval Varieties, S. roo.
Vgl. Aristoteles, Phys., n, I, 193 b.
Ähnlich J. Piaget, Die Entwicklung des Erkennens, n, S. 63 ff.
Ebd., 1, 5, 188 b.
Vgl. zu ähnlichen Befunden in der Ethnologie, Ch. R. Hallpike, Die Grundlagen des primitiven Denkens, S. 267 ff.
Aristoteles, Phys., v, 2, zz5b.
Aristoteles, De gen. et corr., 1, 3.
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Wenzel, U. (2000). Natur und Kultur im Aristotelischen Weltbild. In: Vom Ursprung zum Prozeß. Reihe Theorie des sozialen und kulturellen Wandels, vol 1. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-11781-0_4
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