Zusammenfassung
Ein zentrales Argument der Entstrukturierungsthese bezieht sich auf das Kriterium der Beziehungswahl als ein in der modernen Gesellschaft dominierendes Element der Einbindung von Individuen in soziale Handlungskontexte. Während noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts diese Einbindung in einem hohen Ausmaß über traditionelle, kollektive Bindungen und Identitäten (z.B. in Form der sozialen Herkunft, der Schicht- oder Klassenzugehörigkeit) vorgegeben war, sollen diese Faktoren seit Ende des zweiten Weltkrieges ihre handlungsbestimmende Kraft verloren haben. Unter anderem bedingt durch den massiven Anstieg des Lebensstandards, die Bildungsexpansion, die Entwicklung von einer Arbeitsgesellschaft zu einer zunehmend konsum-, freizeitund erlebnisorientierten Gesellschaft, haben sich die individuellen Handlungsoptionen vergrößert: das Individuum kann seine sozialen Beziehungen selbstbestimmter wählen. Als eine unmittelbare Folge hiervon, so wird postuliert, konstituieren sich soziale Gruppen nicht mehr über extern bestimmte Beziehungsvorgaben, sondern über selbstbestimmte Beziehungswahlen von Individuen (Schulze 1993; Buchmann/Eisner 1998).1 Die Möglichkeit der Beziehungswahl in Verbindung mit der Annahme, dass die Vermehrung des Einkommens und anderer Ressourcen das individuelle Handeln von materiellen Zwängen unabhängiger werden lasse, soll dann dazu führen, dass objektiv ungleichheitsrelevante Merkmale die Konstituierung von sozialen Verkehrskreisen immer weniger beeinflussen und langfristig durch neue, nicht-hierarchische Abgrenzungskriterien ersetzt werden.
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Literatur
Der Gedanke einer zunehmenden individuellen Handlungsfreiheit beim Eingehen von sozialen Beziehungen ist keinesfalls neu, sondern wird schon von Simmel (1992:458) diskutiert: „Überhaupt untersteht der ganze angedeutete Typus der Entwicklung der Tendenz auf Vermehrung der Freiheit: sie hebt zwar nicht die Bindung auf, aber sie macht es zu einer Sache der Freiheit, an wen man gebunden ist. Denn gegenüber der lokalen oder sonst irgendwie ohne Zutun des Subjektes veranlaßten Bindung wird die frei gewählte in der Regel doch die tatsächliche Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die Gruppierung auf sachlichen, d.h. in dem Wesen der Subjekte liegenden Beziehungen sich aufbauen lassen.“
Die Einordnung von Bildung als nicht-hierarchisches Merkmal durch Schulze bezieht sich nicht auf den beruflichen Positionierungsprozeß, sondern auf die abnehmende Bedeutung von Bildungsunterschieden in der gesellschaftlichen Wahrnehmung (Schulze a.a.O.:256).
Idealtypisch deshalb, weil das Heiratsverhalten im Zeitverlauf nicht nur zwischen verschiedenen Gesellschaftstypen (vgl. z.B. Goode 1963, 1982; Burgess et al. 1971; Goody 1986) variiert, sondern auch innerhalb eines Landes, zwischen einzelnen Regionen sowie zwischen verschiedenen Klassen und Schichten (vgl. Kocka et al. 1980; Ehmer 1991 ).
Dieses generationenübergreifende Interesse kommt bspw. auch darin zum Ausdruck, dass das Bürgerliche Gesetzbuch noch bis 1865 die Einwilligung der Großeltern bei einer Eheschließung voraussetzte (Schumacher/Vollmer 1981:50).
Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung, Form und Funktion von Heirat und Partnerwahl vgl. u.a. Ariès/Duby (1992, 1993) und Weber-Kellermann (1996).
Zu Beginn des Jahrhunderts waren circa 30 Prozent der Frauen erwerbstätig (9,4 Millionen): 51,1 Prozent davon als Arbeiterinnen, 33,5 Prozent als Mithelfende Familienangehörige, 3,9 Prozent als Beamte/Angestellte und 11,5 Prozent als Selbständige (Statistisches Bundesamt 1985:75; vgl. auch Lauterbach 1991).
Es sei angemerkt, dass die `standesgemäße’ Partnerwahl in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen eine nach wie vor herausragende Rolle spielt: „Der Adel (…) hat seinen Heiratsmarkt. Man beschnuppert sich ständig, prüft, ob der Nachbar aus einer standesgemäßen Familie, aus einem `guten Stall’ kommt.“ (Joseph von Westphalen, DER SPIEGEL, 16, 1998:80).
Für einen Überblick zum Wandel der Einstellungen zur Rolle der Frau vgl. Kurz (1998).
Buchmann und Eisner (1998) interpretieren diesen Befund dahingehend, dass für eine moderne Partnerbeziehung, die in erster Linie auf gegenseitiges Verständnis und emotionale Geborgenheit ausgerichtet ist, Hinweise auf die soziale Position keine kulturell legitimitierten `Suchkriterien’ mehr darstellen. Wie sie allerdings selbst feststellen (1998:3), ist dies nicht gleichbedeutend damit, dass soziale Merkmale damit auch notwendigerweise ihren strukturierenden Einfluß verlieren. Gerade bei Heiratsanzeigen wird durch die gezielte Wahl der Zeitung, in welcher inseriert wird, eine nicht unbeträchtliche soziale Vorselektion vorgenommen, womit sich überdeutliche Hinweise auf das eigene ‘social Standing’ erübrigen.
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Wirth, H. (2000). Sozialhistorische Betrachtung: Von der Partnervorgabe zur Partnerwahl. In: Bildung, Klassenlage und Partnerwahl. Forschung Soziologie, vol 105. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09421-0_2
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