Zusammenfassung
Im Zeitalter der Digitalisierung werden Informationen immer mehr als ein universaler Zugangscode für die praktische und theoretische Erfassung von Lebenswelt und Mensch ausgegeben und angesehen. Der vorliegende Artikel untersucht das problematische Orientierungsmaß aus einer technikethischen Perspektive, das mit dem übersteigerten Gebrauchswert von Informationen Hand in Hand geht. Thematisiert wird die „Idealisierung der Information“, die mit einer Reduktion des Lebensweltverständnisses und der ethischen Dimension der Erfahrung einhergeht. Unter Berücksichtigung kritischer Reflexionen von Walther Benjamin wird auf die Bedeutung der Erzählung im Zuge der Digitalisierung geblickt.
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Notes
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Rafael Capurro spricht in Bezug auf dieses gegenwärtig sich immer stärker ausbreitende Weltverständnis von „digitaler Ontologie“. Er verwendet diesen Ausdruck, „um jenes Verständnis von uns selbst und der Welt zu benennen, dass darin besteht, zu glauben, nur dann etwas verstanden zu haben, wenn wir es digitalisieren können. Nur das ist, was digitalisierbar oder, genauer, was digital vernetzt ist.“ (Siehe http://www.capurro.de/businessimpact.html; abgerufen am 02.11.2020).
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Zum Begriff der Lebenswelt in seiner philosophischen, ethischen und technikphilosophischen Bedeutung vgl. Joisten et al. 2023.
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Man könnte davon sprechen, dass im Zuge der Digitalisierung eine neue „Hinterwelt“ eingeführt wird deren Vertreter „Verächter des Lebens“ sind, wie Friedrich Nietzsche es u. a. in seinem Zarathustra beschreibt, um metaphysische Weltbilder, insbesondere idealistischer oder christlicher Natur, im Zusammenhang mit seiner Leibphilosophie zu kritisieren.
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U. a. im Horizont dessen, was in dialogphilosophischen Ansätzen als die Begegnung zwischen ‚Du und Ich‘ beschrieben wird oder in der Erfahrung des Anderen, wie diese beispielsweise Jean-Paul Sartre und Emmanuel Levinas hervorgehoben haben.
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Mit Gadamer könnte von hier aus auch die positive Bedeutung der Zeitlichkeit, der Endlichkeit für das menschliche Verstehen reflektiert werden, bspw. entgegen post- oder transhumanistischer Strömungen; siehe Gadamer 1990, u. a. S. 363.
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Vgl. hierzu auch Joisten 2007, S. 207 ff.
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Gadamer auch in der Reflexion der klassisch methodisch wissenschafstheoretischen Differenz zwischen ‚Erklären und Verstehen‘.
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Vgl. zu dieser Dimension in diesem Band die Beiträge von Karen Joisten und Wolfgang Lenski.
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Was wiederum die derzeit immer stärker werdenden posthumanistischen Strömungen und Tendenzen abschaffen wollen, was jedoch – jedenfalls gegenwärtig – immer noch der grundlegende Bezugspunkt psychologischer, psychoanalytischer und verhaltenstherapeutischer Ansätze ist.
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Hier kann an die ethisch appellative Funktion von Narrationen erinnert werden, wie diese insbesondere Peter Kemp herausgearbeitet hat (vgl. Kemp 1997).
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Hier zeigt sich deutlich über die Anspielung Benjamins an Platons Schriftkritik hinaus, wie Benjamin – ohne explizit Thema seiner Darstellung zu sein – auf ein leitendes wissenschaftstheoretisches Problem seiner Zeit reagiert, das gerade im Zuge der gegenwärtigen Datafizierung der Lebenswelt wieder verstärkt diskutiert wird und in der Dichotomie von ‚Verstehen und Erklären‘ sowie deren methodischer Geltung bzw. Geltungshoheit für die Deutung von Mensch und Welt besteht. In Benjamins Zeilen liegt eine dualistische, unvereinbare Kennzeichnung zwischen den Modi des Verstehens, der Auslegung und dem Anschein der Erklärung im Modus der Information. Die Erzählung folgt einer „narrative[n] Logik“, wie es in der Terminologie Paul Ricœurs bezeichnet werden kann, der selbst einen Versöhnungsvorschlag zwischen Erklären und Verstehen formuliert (siehe Ricœur 2005b, u. a. S. 79 ff.), wobei Benjamin sich – wie auch Ricœur – an die klassische Darstellung, wie Aristoteles sie in seiner Poetik darlegt, anschließt (siehe Benjamin, S. 451 f.).
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Thiemer, N. (2023). Zur Bedeutung der Erzählung im Zuge der Digitalisierung – Eine technikethische Reflexion des Grenzverlustes der Information. In: Barbagallo, E., Gerhartz, I.W., Thiemer, N. (eds) Erzählhorizonte. Ethik – Mensch –Technik. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67347-8_4
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