Die Strafverfolgung von NS-Unrecht durch die bundesdeutsche Justiz hat nahezu 80 Jahre gedauert. Sie wird in zwiespältiger Erinnerung bleiben. Zwar gelten Verfahren wie der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1958) und der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 bis 1965) als Meilensteine der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Ihnen steht aber die Masse von Tätern gegenüber, die nur sehr milde bestraft worden oder gänzlich von Strafverfolgung verschont geblieben ist. Die Aufhebung der Verjährung für Mord (§ 211 StGB) im Jahr 1979 hat die rechtliche Möglichkeit geschaffen, immerhin für dieses Delikt die Strafverfolgung fortzuführen. Die Justiztätigkeit in der Folgezeit blieb aber überschaubar – auch wegen der strengen Anforderungen an die Beweisführung, die nach der Rechtsprechung galten.

Zu einer letzten Welle von Ermittlungen und Verfahren hat das Urteil des Landgerichts München II gegen John Demjanjuk geführt (2011), in dem das Gericht bei der Tätigkeit in einem Vernichtungslager relativ niedrige Anforderungen an den Nachweis des Tatbeitrages formulierte. Um die Strafverfolgung seit dem Verfahren gegen Demjanjuk geht es schwerpunktmäßig in dem vorliegenden Buch. Frühere Entwicklungen werden freilich nicht ausgeblendet. – Die letzte Phase der Strafverfolgung von NS-Unrecht lädt gerade dazu ein, auch eine Gesamtbilanz zu ziehen. „Spätverfolgung“Footnote 1 wird deshalb vorliegend lediglich als grobe Umschreibung für den letzten Akt der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen verstanden und soll den Blick auf die Justiz-Tätigkeit (und Untätigkeit) davor nicht versperren. Sprachlich lässt der Begriff dies zu, immerhin könnte man auch Verfahren, die lange vor dem Demjanjuk-Prozess geführt wurden, als „Spätverfolgung“ bezeichnen. Bundesdeutsche Zeitung haben dies bereits in den 1950er-Jahren getan.Footnote 2

Dass auch noch Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Diktatur Strafverfahren gegen greise Angeklagte – im Falle des Verfahrens vor dem Landgericht Neuruppin (2021–2022) sogar gegen einen 101-Jährigen – durchgeführt worden sind, ist häufig begrüßt worden. Es hieß, die Strafverfolgung müsse so lange fortgeführt werden, wie Beschuldigte am Leben seien, deren Gesundheitszustand die Teilnahme an einem Strafverfahren erlaube. Hierdurch erführen Überlebende und deren Angehörige Genugtuung. Zudem setze der Staat ein klares Zeichen gegen antisemitische und rassistische Gewalt, was mit Blick auf zunehmende Hasskriminalität gegen Menschen mit jüdischen und ausländischen Wurzeln auch heute noch dringend erforderlich sei. Dagegen machten vereinzelte kritische Stimmen geltend, die bundesdeutsche Justiz versuche, mit übertriebenem Verfolgungseifer ihre damaligen Versäumnisse wiedergutzumachen. Hierfür zahle sie einen günstigen Preis, denn politisch-gesellschaftliche Widerstände gegen die Verfahren seien heute nicht mehr zu erwarten. Für die mittlerweile sehr alten Angeklagten, die zum Tatzeitpunkt fast noch Kinder gewesen seien und (schon deshalb) auf den niedrigsten Hierarchieebenen gestanden hätten, stellten die Verfahren hingegen schwerwiegende Beeinträchtigungen dar.

Mit der Spätverfolgung befassen sich zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen, u. a. Rechtswissenschaften, Geschichtswissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Theaterwissenschaften, Literaturwissenschaften, Erziehungswissenschaften. Der Diskurs ist mithin disziplinenübergreifend unter Berücksichtigung der Perspektive der Justizpraxis zu führen. Übersehen wird zudem häufig, dass das Thema auch eine internationale Dimension hat. Die Verfahren haben im Ausland großes Aufsehen erregt. Im Gerichtssaal waren regelmäßig internationale Pressevertreter anwesend. Holocaust-Überlebende aus Israel, Polen oder den USA nahmen als Nebenklägerinnen und -kläger an den Verfahren teil. Vor allem aber ist es keineswegs ein Spezifikum des deutschen Vergangenheitsbewältigungsprozesses, dass die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung von Systemverbrechen auch Jahrzehnte nach ihrer Begehung noch andauert – es dürfte sogar eher die Regel sein. Staaten wie Argentinien, Chile, Kambodscha, Südafrika oder Südkorea sind nur naheliegende Beispiele hierfür.

Das vorliegende Buch bringt wissenschaftliche, praktische und internationale Perspektiven zusammen. Im I. Teil geht es um den juristisch-zeitgeschichtlichen Kontext der Spätverfolgung. Wie ist es zu erklären, dass Jahrzehnte nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur noch Strafverfahren geführt worden sind? Zeitgeschichtliche und juristische Entwicklungslinien der strafrechtlichen Aufarbeitung von NS-Unrecht werden in den Beiträgen von Gerhard Werle und Thomas Köhler herausgearbeitet. Eine Darstellung und Analyse der (Nicht-)Verjährung von NS-Verbrechen bietet der Beitrag von Martin Asholt. Paolo Caroli berichtet über die Prozesse wegen Beteiligung an NS-Massakern in Italien.

Teil II ist dem Demjanjuk-Verfahren gewidmet, das die Spätverfolgung im hier verstandenen Sinne eingeleitet hat. Kirsten Goetze, die als Staatsanwältin das Verfahren geprägt hat, bietet einen Blick aus der Innenperspektive. Die Beiträge von Giesela Friedrichsen und Lawrence Douglas analysieren das Verfahren und seine Folgen „von außen“ aus dem Blickwinkel der Prozessbeobachtung.

Im III. Teil geht es um persönliche Erfahrungen und Eindrücke von Prozessbeteiligten. Erfasst werden die Perspektiven der Vorermittlungsstelle in Ludwigsburg (Thomas Will), des Gerichts (Anne Meier-Göring und Tino Frieling), der Nebenklagevertretung (Christoph Rückel) und der Verteidigung (Rebecca Ohnesorge, aus der Perspektive einer Prozessbeobachterin). Ein fertig editierter Beitrag eines mit NS-Verfahren befassten Staatsanwalts lag ebenfalls zur Veröffentlichung vor. Leider konnten sich Verlag und Autor nicht auf eine Veröffentlichung einigen. Für die staatsanwaltschaftliche Perspektive sei deshalb auf den Beitrag von Kirsten Goetze verwiesen.

In Teil IV werden zentrale Rechtsfragen der Spätverfolgungsprozesse in den Blick genommen. Sind überzeugende Wege gefunden worden, die Beteiligung an den nationalsozialistischen Massenverbrechen dogmatisch zu erfassen und gerechte Strafen zu verhängen? Gab es mit Blick auf die enorme Zeitspanne zwischen den Taten und den Verfahren Alternativen zur Strafverfolgung? Wie ist die Legitimationsfrage zu beantworten? Die Beiträge von Tobias Köpcke, Bettina Weißer, Boris Burghardt, Aziz Epik, Wolfgang Mitsch und Christian Fahl bieten kritische Analysen.

Teil V nimmt die Perspektive der Geschichtswissenschaften ein. Historische Fakten haben in den Verfahren eine entscheidende Rolle gespielt. Historiker haben im Gerichtssaal Expertengutachten präsentiert, unter ihnen Stefan Hördler, der neben Peter Steinbach einen Beitrag in diesem Teil des Buchs liefert. Auch in den Anklageschriften und Urteilen finden sich umfangreiche Ausführungen zu den historischen Umständen der angeklagten Verbrechen. Insofern liegt die Frage nah, ob die späten Verfahren dazu beigetragen haben, buchstäblich „Geschichte zu schreiben“, also neue historische Fakten hervorzubringen.

Im VI. Teil werden Erscheinungsformen der Strafverfolgung untersucht. Inwiefern sind die Verfahren im Rahmen der Spätverfolgung ein „Schauspiel“ für die Gesellschaft auf der „Bühne“ der Justiz (hierzu Stefan Arnold und Kerstin Wilhelms) und welche „Visualität“ haben sie (hierzu Caroline Fournet und Mark Drumbl)? Zudem geht es um die Wirkungen der Verfahren. Welche gesellschaftlichen, politischen und individuellen Auswirkungen werden den Verfahren zugeschrieben und wie ist dies zu bewerten? Die Beiträge von Katharina Rhein, Katharina Stengel und Emanuela Fronza untersuchen jeweils einzelne Aspekte aus diesem Fragenkomplex.

Teil VII bietet einen internationalen Vergleich. Welche Erfahrungen haben andere Staaten bei der juristischen Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften von faschistischen Regimen und Militärdiktaturen Jahrzehnte nach deren Ende gemacht? Auch Fragen von Transitional Justice werden hier berücksichtigt. Als Länderbeispiele dienen Chile (Claudia Cárdenas), Ghana (Marian Yankson-Mensah), Spanien (Francisco Muñoz Conde) und Südafrika (Gerhard Kemp).