Zusammenfassung
In seinem Roman Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe (2018) ruft Josef Winkler das Raumrepertoire seiner früheren Kärntner Texte wieder auf, lädt es jedoch mit neuen Inhalten auf. Waren es bisher Schauplätze von erinnerten Kindheits- und Jugenderlebnissen des Erzählers, so wird nun der Fokus auf die Kriegszeit der älteren männlichen Mitglieder seiner Familie gelegt. Damit geraten generational bedingte Differenzen des Wissens und das damit verbundene (Ver-)Schweigen in den Blickpunkt. Die Raumzitate ermöglichen Einblicke in den Guckkasten einer Erinnerungsbühne. Durch die narrative Verknüpfung dieser Räume konstruiert der Autor eine literarische Mnemo-scape, die retrospektiv die Lektüre der früheren Texte in ein neues Licht rückt.
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Notes
- 1.
Josef Winkler: Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe. Roman. Berlin 2018, 137. Im Folgenden mit „LDH“ und Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen.
- 2.
Das Dialektwort ‚Tate‘ geht auf ein altes Kinderwort (‚tatta‘, ‚tatte‘, ‚tate‘) für ‚Vater' zurück; auch im Jiddischen trägt es diese Bedeutung. Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16. Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Bd. 21, Sp. 160–161.
- 3.
Josef Winkler: Das wilde Kärnten: Menschenkind. Der Ackermann aus Kärnten. Muttersprache. Drei Romane [1984]. Frankfurt a. M. 1995, 5. Wie bedeutend dieses leitmotivisch wiederkehrende Bild vom kreuzförmigen Dorf für die drei in der Trilogie zusammengefassten Romane geworden ist, beweist die Tatsache, dass dieses Motto erst in der Trilogie nachgereicht wurde. Dem Debütroman Menschenkind (1979) sind andere Motti vorangestellt.
- 4.
Vgl. Josef Winkler: Die Verschleppung. Frankfurt a. M. 1984, 165.
- 5.
Vgl. Michel Foucault: „Die Heterotopien“ [1967]. In: Ders.: Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Frz. von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Berlin 2013, 7–22.
- 6.
Der Kurzbericht vom Doppelselbstmord ist Winklers Debütroman vorangestellt. Vgl. Josef Winkler: Menschenkind. Frankfurt a. M. 1979, o. S. [5].
- 7.
Damit sind die Bilder der endlosen weißen Kreuze auf dem amerikanischen Friedhof der Normandie auf als lieux de memoire des Zweiten Weltkriegs eng verknüpft. Vgl. http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/der-amerikanische-friedhof-der-normandie (20.04.2020).
- 8.
Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Jena 1914, 38.
- 9.
Vgl. Marc Augé: „Nicht-Orte“ [1999]. In: Ders.: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Frz. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1994.
- 10.
Ebd., 50.
- 11.
Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russ. von Rolf-Dietrich Keil. München 1993, 339.
- 12.
Globocnik wurde von Heinrich Himmler im Juli 1942 als SS- und Polizeiführer in den Distrikt Lublin im Generalgouvernement geschickt und mit der ‚Aktion Reinhardt‘ betraut, die dem Holocaust als Modell diente. Globocnik und sein aus Kärntnern zusammengestellter Stab führten sie in den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblinka durch (ca. 1,8 Mill. ermordete Jüdinnen und Juden). Gleichzeitig erbeutete Globocnik als Geschäftsführer der Ostindustrie GmbH Millionen Reichsmark aus jüdischem Besitz bzw. durch Ausbeutung jüdischer Arbeitskräfte. Im Herbst 1943 wurde er zum Höheren SS- und Polizeiführer in der Operationszone Adriatisches Küstenland ernannt, wo er die Bekämpfung von Partisanen und die Deportation von Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau organisierte. Er wurde 1945 gemeinsam mit seinem Adjutanten Ernst Lerch in einer Almhütte über dem Kärntner Weißensee gefangen genommen und in der Heimatgemeinde des Erzählers, in Paternion, gefangen gehalten. Einer Strafverfolgung entzog er sich durch Suizid mit Zyankali. Vgl. Siegfried J. Pucher: „…in der Bewegung führend tätig“. Odilo Globočnik – Kämpfer für den „Anschluß“, Vollstrecker des Holocaust. Klagenfurt 1997; Berndt Rieger: Creator of the Nazi Death Camps. The Life of Odilo Globocnik. London 2007; Johannes Sachslehner: Zwei Millionen ham’ma erledigt. Odilo Globočnik. Hitlers Manager des Todes. Wien u. a. 2014.
- 13.
Vgl. Sachslehner: Zwei Millionen ham’ma erledigt (wie Anm. 12).
- 14.
Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russ. von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008.
- 15.
Ernst Lerch kam bis auf zwei Jahre Haftstrafe wegen seiner maßgeblichen Beteiligung an der Ermordung von ca. 1,8 Mio. Jüdinnen und Juden und 50.000 Romnija und Roma und trotz mehrerer Anklagen ungeschoren davon. Auch Werner Kofler hat sich in seinem Theatertext Tanzcafé Treblinka (2001) damit auseinandergesetzt. Vgl. Pucher: „in der Bewegung führend tätig“, Rieger: Creator oft he Nazi Death Camps, Sachslehner: Zwei Millionen ham’ma erledigt (wie Anm. 12).
- 16.
Hier wird der Begriff scape im Sinne einer Gedächtnislandschaft in Abgrenzung zum Begriff Mnemotop als singulärem Gedächtnisort verwendet. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992; vgl. Nicolas Pethes: „Mnemotop“. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin, Boston 2015, 196–204, insbes. 198–201; Jörg Dünne: „Dynamisierung: Bewegung und Situationsbildung“. In: ebd., 41–54.
- 17.
Vgl. Josef Winkler: Roppongi. Requiem für einen Vater. Frankfurt a. M. 2007, 151.
- 18.
Zu dem auf Henri Lefebvres Theorie der Einschreibung von Bewegungen in die Umwelt zurückgehenden Begriff meshwork vgl. Tim Ingold: Lines. A Brief History. London 2007, 83.
- 19.
Doris Kolesch/Annette Jael Lehmann: „Zwischen Szene und Schauraum – Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstitution“. In: Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, 347–365, hier 348.
- 20.
Almuth Grésillon: „‚Critique génétique‘: Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie“. In: Quarto 7 (1996), 14–24, hier 23.
- 21.
Vgl. Kolesch/Lehmann: „Zwischen Szene und Schauraum“ (wie Anm. 19), 350.
- 22.
Ebd.
- 23.
Von der unheimlichen Wiederkehr der sich verselbstständigenden Figur des Leichnams Globocniks schreibt Christoph Leitgeb: Unheimliche Erinnerung – erinnerte Unheimlichkeit. Nationalsozialismus im literarischen Gedächtnis. Paderborn 2020, 238. Leitgeb zeigt den wiederkehrenden Auszählreim zu Beginn der Kapitel als eine weitere Facette der für Winklers Werk so charakteristischen Wiederholung, durch die sich die Geschichte mit dem Ort verbinde (ebd.).
- 24.
In der ungewollten und unkontrollierbaren Wiederholung sieht Leitgeb das Unheimliche: „Die Wiederholung der autobiografischen Motive läuft aus dem Ruder willentlicher Erinnerung.“ Ebd., 239.
- 25.
Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerik. von Katharina Menke. Frankfurt a. M. 1991, 207.
Literatur
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992.
Augé, Marc: „Nicht-Orte“ [1999]. In: Ders.: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Aus dem Frz. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1994.
Bachtin, Michail M.:Chronotopos.Aus dem Russ.von Michael Dewey.Frankfurt a.M.2008.
Bergson, Henri: Das Lachen. Jena 1914.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerik. von Katharina Menke. Frankfurt a. M. 1991.
Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16. Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Bd. 21, Sp. 160–161.
Dünne, Jörg: „Dynamisierung: Bewegung und Situationsbildung“. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin, Boston 2015, 41–54.
Foucault, Michel: „Die Heterotopien“ [1967]. In: Ders.: Die Heterotopien/Les hétérotopies. Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Frz. von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Berlin 2013, 7–22.
Grésillon, Almuth: „‚Critique génétique‘: Gedanken zu ihrer Entstehung, Methode und Theorie“. In: Quarto 7 (1996), 14–24.
http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/de/der-amerikanische-friedhof-der-normandie (20.04.2020)
Ingold, Tim: Lines. A Brief History. London 2007.
Kolesch, Doris/Lehmann, Annette Jael: „Zwischen Szene und Schauraum – Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitskonstitution“.In: Uwe Wirth (Hg.):Performanz.Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften.Frankfurt a.M.2002, 347–365.
Leitgeb, Christoph: Unheimliche Erinnerung – erinnerte Unheimlichkeit. Nationalsozialismus im literarischen Gedächtnis. Paderborn 2020.
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. Aus dem Russ. von Rolf-Dietrich Keil. München 1993.
Pethes, Nicholas: „Mnemotop“. In: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur & Raum. Berlin, Boston 2015, 196–204.
Pucher, Siegfried J.: „…in der Bewegung führend tätig“. Odilo Globočnik – Kämpfer für den „Anschluß“, Vollstrecker des Holocaust. Klagenfurt 1997.
Rieger, Berndt: Creator of the Nazi Death Camps. The Life of Odilo Globocnik. London 2007.
Sachslehner, Johannes: Zwei Millionen ham’ma erledigt. Odilo Globočnik. Hitlers Manager des Todes. Wien u. a. 2014.
Winkler, Josef: Menschenkind. Frankfurt a. M. 1979
Winkler, Josef: Die Verschleppung. Frankfurt a. M. 1984.
Winkler, Josef: Das wilde Kärnten: Menschenkind. Der Ackermann aus Kärnten. Muttersprache. Drei Romane [1984]. Frankfurt a. M. 1995.
Winkler, Josef: Roppongi. Requiem für einen Vater. Frankfurt a. M. 2007.
Winkler, Josef: Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe. Roman. Berlin 2018.
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Millner, A. (2022). Josef Winklers in-formierte Räume. Raumzitate in Laß dich heimgeigen, Vater, oder Den Tod ins Herz mir schreibe im Hinblick auf das Gesamtwerk. In: Bosse, A., Glinik, C., Lenhart, E. (eds) Inter- und transmediale Ästhetik bei Josef Winkler. Kontemporär. Schriften zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, vol 8. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63787-6_10
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