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Beichte und Bann. Biomacht und die Rassifizierung der Anormalität

Die Anormalen (1974/75)

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,,Fragmente eines Willens zum Wissen"

Zusammenfassung

In seiner Vorlesung Die Anormalen analysiert Foucault die Formierung der bürgerlichen Kleinfamilie, als deren wesentlicher Katalysator er den Diskurs über die kindliche Masturbation herausarbeitet. Erst die von den Eltern bereitwillig exekutierte Medizinisierung der Masturbation etabliert demnach den Familienverbund als permanentes Überwachungsmilieu und erschließt so die Sexualität einem staatlich-ökonomischen Zugriff. Zugleich bringt dieser Diskurs ethisch-medizinische Vorstellungen in Umlauf, die als Kontrastfolie für die Konstruktion von Figuren der Anormalität fungieren, die unter die Zuständigkeit nicht mehr des juridischen, sondern des psychiatrischen Dispositivs fallen. In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass Die Anormalen zwar einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Genealogie moderner Intimpraktiken und der von ihnen produzierten Ausschlüsse und Verwerfungen darstellt, dabei aber die Bedeutung des Kolonialismus und Rassismus bei der Entstehung der Biomacht ausblendet. Diese Kritik wird mittels einer Konfrontation zweier filmischer Geständnisszenen präsentiert, einer Szene aus Michael Hanekes Das weiße Band und einer aus Ava DuVernays When They See Us. Der Beitrag endet mit einer kurzen Überlegung zu den Konsequenzen aus Foucaults Theorie für ein nicht-faschistisches Leben.

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Notes

  1. 1.

    Foucault legt den Schwerpunkt seiner Analyse auf eine bürgerliche, männliche, weiße und heterosexuelle Perspektive. Während er den Fokus auf das Bürgertum methodologisch begründet und einem Vergleich mit proletarischen Familien wenigstens eine Vorlesung widmet (12. März 1975) sowie die Bedeutung des Rassismus ausblickhaft erwähnt (siehe unten), bleibt die weitgehende Vernachlässigung der weiblichen Masturbation (von einigen Seitenbemerkungen abgesehen) sowie die völlige Abwesenheit des Themas der Homosexualität ungenannt. Für eine ausgewogene Diskussion dieser Schwerpunktsetzung vgl. Taylor (2017, insbes. Kap. 5 und 6), für ein detaillierte Analyse und Kritik des Androzentrismus in Foucaults Konzept der Biopolitik vgl. Deutscher (2017).

  2. 2.

    Der Mutter spricht Foucault keine eigenständige Funktion und insofern auch keine eigene Handlungsfähigkeit zu. Sie kommt nur als Teil „der Eltern“ vor. Dies ist insofern besonders überraschend, als in den Erziehungsratgebern der Zeit die Aufgaben der Mutter durchaus spezifiziert werden, vgl. Deutscher (2017, insbes. 83).

  3. 3.

    „Ich glaube, dass in dieser Art doppelter Forderung: ‚Kümmert euch um eure Kinder‘ und dann ‚Verzichtet hinterher auf sie‘, der sexuelle Körper des Kindes gewissermaßen als Wechselgeld fungiert. Man sagt den Eltern: ‚Im Körper der Kinder ist etwas, das in jedem Fall unantastbar euch gehört und von dem ihr nie abzulassen braucht, denn es wird nie von euch ablassen, nämlich ihre Sexualität.“ (AN 341). Foucault spricht hier immer wieder von einem „Tauschgeschäft“, einem „Köder“, einer „Falle“ oder der Sexualität als „fiktive(m) und wertlose(m) Stück Geld“ (AN 342), das die Eltern im Gegenzug für die Erziehung und Abtretung der Kinder an den Staat erhalten hätten.

  4. 4.

    In seiner Studie über den europäischen Masturbationsdiskurs weist Thomas Laqueur darauf hin, dass Foucault das plötzliche Interesse an der kindlichen Masturbation nur beschreibe, aber nicht erkläre. Seine eigene Deutung geht davon aus, dass die Obsession mit den Gefahren der Masturbation aus einer paradoxen Sorge um den Verfall der öffentlichen Tugend durch eine zu starke Konzentration auf privates Vergnügen im Kapitalismus resultiert, vgl. Laqueur (2004, Kap. V). Auch Laqueur vernachlässigt hier die Signifikanz des kolonialen Imaginären für die Konstruktion der Masturbation als exzessiv. – Für Analysen des europäischen Masturbationsdiskurses und seine selbst-unterminierenden Effekte vgl. ferner Bennett und Vernon (1995).

  5. 5.

    Zum Zusammenhang von Biopolitik und Rassismus bei Foucault vgl. exemplarisch Lemke (2008), Magiros (1995), Muhle (2013); insbesondere zum Nexus Biopolitik, Reproduktion und Rassismus Deutscher (2017). Siehe auch in diesem Band den Beitrag von Gundula Ludwig in diesem Band.

  6. 6.

    Leitend für eine solche Politik, die zugleich anti-disziplinarisch und sorgsam ist, könnten vielleicht am ehesten Figuren sein, die in beiden Geständnisszenen auf eine merkwürdige Weise abwesend sind: Figuren der Mutter oder der Schwester oder der Tochter. Für eine Analyse der Rolle insbesondere von schwarzen Frauen und ihre Bedeutung für subalterne (care-)Netzwerke vgl. Hill Collins (2000), zuletzt prägnant das Konzept des revolutionary mothering in Gumbs et al. (2016).

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Loick, D. (2020). Beichte und Bann. Biomacht und die Rassifizierung der Anormalität. In: Vogelmann, F. (eds) ,,Fragmente eines Willens zum Wissen". Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_6

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  • Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg

  • Print ISBN: 978-3-662-61820-2

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