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Subjektivierung als Selbstaufgabe. Von der Geburt abendländischer Subjektivität im Kloster

Die Regierung der Lebenden (1979/80)

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,,Fragmente eines Willens zum Wissen"

Zusammenfassung

Die Vorlesungen Die Regierung der Lebenden im Winter und Frühjahr 1980 werden oft als „Scharnier“ bezeichnet, insofern sie einen inhaltlichen Bruch mit den vorausgegangen Biopolitik- und Gouvernementalitätsanalysen in Foucaults Denken darstellen und sich Fragen nach Subjekt, Subjektvierung, Ethik und Wahrheit zuwenden, die den späten Foucault beschäftigen. So sind die Lebenden zwar noch im Titel erwähnt, der Begriff des Lebens und all seine biopolitisch-gouvernementalen Konnotationen werden jedoch in den Vorlesungen nicht mehr thematisiert. Stattdessen geht es Foucault um eine Untersuchung einer Regierung der Menschen durch die Wahrheit, die anhand von zwei Momenten geführt wird, Sophokles’ König Ödipus als Wahrheits-Tragödie und den Wahrheitsakten und -regimen der Kirchenväter. Anhand einer Genealogie der Beichte zeigt Foucault, inwiefern gerade das Wahrheitsregime des Klosterlebens im 7. und 8. Jahrhundert und dessen Praktiken des Prüfungs-Geständnisses die Geburtsstunde abendländischer Subjektivität darstellt. Diese gibt jedoch – und hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die These von der ethischen Wende zurückzuweisen – keinem autonomen, freien, aufgeklärten Subjekt statt, sondern denkt dieses vielmehr über heteronome Praktiken der Selbstaufgabe und konzipiert seine Wahrheit als ein System von Zwängen und Pflichten.

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Notes

  1. 1.

    In seiner „Zeittafel“ führt Daniel Defert dieses Schweigen auf eine Auseinandersetzung mit Gallimard zurück: „1975 hatte Foucault Gallimard gebeten, eine Vorauszahlung von zweihunderttausend Francs an René Allio für die Dreharbeiten an Pierre Rivière zu leisten. Als Gegenleistung verlangte der Verlag von Foucault eine Exklusivoption auf die Bücher der nächsten fünf Jahre, die Foucault auch gewährte. Aber er beschloss, sein nächstes Buch sehr schmal zu halten [das war La Volonté de savoir, dt. Der Wille zum Wissen] und innerhalb der fünf Jahre kein weiteres Buch zu schreiben (was viele als eine Krise in seinem Denken deuteten).“ (Defert 2005, 78)

  2. 2.

    Geplant war dieses Buch zunächst als zweiter Band einer Geschichte der Sexualität, Foucault fertigte in den Jahren 1979–1980 mehrere Versionen an, von denen er die letzte an Gallimard schickte, dann aber vor der Veröffentlichung zurückhielt. Es folgte die Abfassung der Bände 2 und 3 der Geschichte der Sexualität, die ursprünglich als ein Buch geplant waren.

  3. 3.

    Für eine vehemente Kritik dieser epochalen Einteilung sowie der Reduktion des „späten“ Foucaults „à un simple historien de l’éthique ancienne“, siehe Lorenzini et al. (2015, 8 f.).

  4. 4.

    Dazu Senellart: „Mit der Abfassung dieses Buches ist […] die Vorlesung von 1980 eng verbunden. Die Regierung der Lebenden erscheint so als die seit langem erste Vorlesung, deren Stoff mit einem sich in Vorbereitung befindenden Werk in Zusammenhang steht […].“ (Senellart 2014, 449)

  5. 5.

    Foucault weist darauf hin, dass er in den vorausgegangenen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität bereits mehrfach über diesen Begriff gesprochen hat (RL 40, Fußnote 20). Senellart erinnert daran, dass der Titel der Vorlesungen bereits im Frühjahr 1979 bekannt gegeben wurde und sich diese inhaltliche Verschiebung also auch aus einer zeitlichen Verschiebung ergeben habe. Ähnlich sieht es im Falle der Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik aus, in denen der Begriff der Biopolitik explizit kaum mehr eine Rolle spielt.

  6. 6.

    Vgl. zum erweiterten biopolitisch-gouvernementalen Lebensbegriff Muhle (2013).

  7. 7.

    Foucault hat sich bereits verschiedentlich mit diesem Stück beschäftigt, so in der letzten Vorlesung von Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971 (ÜWW) sowie in verschiedenen Konferenzbeiträgen, vor allem im zweiten Vortrag des im Mai 1973 in Rio de Janeiro gehaltenen Vortragszyklus „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (DE II/139, 686–706).

  8. 8.

    Diese „juridischen Wahrheitsprozeduren“, die folglich das Gegenstück zur rituellen Alethurgie darstellen und sich auf einer Zeitachse nicht vor, sondern nach den Ereignissen situieren, haben damit einen quasi-dokumentarischen Charakter, sie funktionieren indexikalisch und rufen mit der Zufälligkeit ihres Da-gewesen-Seins photographische Diskurse von Walther Benjamin (das Optisch-Unbewusste) bis Roland Barthes (punctum) auf. Vgl. auch den Verweis auf die zweite Konferenz aus „Die Wahrheit und die juristischen Formen“ (RL 72, Fußnote 52).

  9. 9.

    Vgl. hierzu den aristotelischen Gegensatz zwischen der „freien“ Fiktion des Tragödiendichters und der Unfreiheit des Historikers, der dem Ablauf der Ereignisse unterworfen ist (Aristoteles 1994).

  10. 10.

    Zur Frage der plebejischen Wortergreifung, die auch non-verbal sein kann, ähnlich wie Foucault es auch hier in seinen Vorlesungen suggeriert, siehe Brossat (2012).

  11. 11.

    Senellart verweist auch auf die politischen Ereignisse dieser Jahre, zu denen Foucault sich explizit geäußert hat, besonders die Iranische Revolution 1978–1979 und die Solidarnosc-Bewegung Anfang der 1980er Jahre.

  12. 12.

    Vgl. hierzu die Analyse von Roberto Nigro, der in der Nicht-Notwendigkeit der Macht die zentrale These dessen sieht, was gemeinhin als die Schriften des späten Foucault bezeichnet wird: Es geht hier folglich nicht um die Abwesenheit von Macht, sondern um die Tatsache, dass Macht in einer konkreten Form nicht-notwendig und somit hinterfragbar, verschiebbar, kritisierbar ist (vgl. Nigro 2015, bes. 82–86).

  13. 13.

    „Man öffnet die Tore noch ein zweites Mal, doch wird man sie kein drittes Mal mehr öffnen. […] Die Buße ist somit im Prinzip die nicht wiederholbare Wiederholung von etwas, was ohnehin nicht wiederholt werden kann. […] Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Verdoppelung der Einmaligkeit.“ (RL 262)

  14. 14.

    Siehe zu den Unterschieden der Prüfungsformen auch den Beitrag von Andreas Gelhard in diesem Band.

  15. 15.

    Für Lorenzini, Revel und Sforzini stellt diese Resituierung des Foucaults der 1980er Jahre unter dem „Banner der Ethik“ eine Banalisierung des späten Foucault dar: „Il est dès lors capital, pour nous, de réproblématiser la généalogie foucaldienne des formes de sujectivité à l’intérieur de cette perspective technico-politique. Sans aucun doute, parler d’une dimension éthique chez Foucault en la dissociant de la sphère politique est un non-sens […].“ (Lorenzini et al. 2015, 10, 16)

  16. 16.

    Damit unterstreicht Foucault hier die politische Dimension der Wahrheit, die auch in seinen berühmten Untersuchungen der Parrhesia in den 1980er Jahren bis zu seinem Tod zentral bleibt. Vgl. besonders die letzten von Foucault am Collège gehaltenen Vorlesungen (MW). Für eine kritische Situierung vgl. hierzu auch Vogelmann (2012).

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Muhle, M. (2020). Subjektivierung als Selbstaufgabe. Von der Geburt abendländischer Subjektivität im Kloster. In: Vogelmann, F. (eds) ,,Fragmente eines Willens zum Wissen". Philosophie & Kritik. Neue Beiträge zur politischen Philosophie und Kritischen Theorie. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61821-9_10

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