1 Überblick über die Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen

Einführung

Die Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen hat einen Schwerpunkt in der Therapie der chronischen ventilatorischen Insuffizienz, findet jedoch auch Einsatz in der Intensivtherapie der akuten ventilatorischen Insuffizienz und der durch bulbäre Symptome mit Dysphagie, Schluck- und Hustenstörung und Pneumonie bedingten respiratorischen Insuffizienz.

Neuromuskuläre Erkrankungen sind Erkrankungen des ersten und zweiten Motoneurons, der peripheren Nerven, der neuromuskulären Übertragung und der Muskelzelle. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von erblichen, degenerativen und autoimmunen Erkrankungen. Eine korrekte diagnostische Einordnung neuromuskulärer Erkrankungen ist aus folgenden Gründen erforderlich:

  1. 1.

    Neuromuskuläre Erkrankungen können über das neuromuskuläre System hinausgehende, erkrankungsspezifische neurologische, vegetative, endokrine und weitere Störungen aufweisen, deren Diagnose und Behandlung von entscheidender prognostischer Bedeutung ist (Hsu 2010; Bird 2018). Bei Myopathien , insbesondere Muskeldystrophien , ist beispielsweise mit einer kardialen Mitbeteiligung im Sinne von Reizleitungsstörungen , Herzrhythmusstörungen und Kardiomyopathien zu rechnen, sodass EKG, Langzeit-EKG und Echokardiographie oder Kardio-MRT wichtige Bestandteile der Diagnostik sind (Deschauer et al. 2016; Hermans et al. 2010).

  2. 2.

    Nicht für autoimmun bedingte, sondern auch für einige genetische neuromuskuläre Erkrankungen stehen medikamentöse Therapien zur Verfügung. Hierzu gehören das Antisense-Oligonukleotid Nusinersen bei der spinalen Muskelatrophie (Finkel et al. 2017; Mercuri et al. 2018), die Enzymersatztherapie mit Alglucosidase alfa beim Morbus Pompe (Chen et al. 2017; Kuperus et al. 2017) sowie die Steroidtherapie (Matthews et al. 2016; Shieh et al. 2018) und die Stop-Codon-Readthrough-Therapie mit Ataluren mittlerweile veraltet bei der Duchenne-Muskeldystrophie (McDonald et al. 2017).

  3. 3.

    Eine exakte Diagnosestellung ermöglicht eine fundierte Beratung zu Verlauf und ggf. genetischen Aspekten der Erkrankung.

Obwohl es sich bei den neuromuskulären Erkrankungen um seltene Krankheitsbilder handelt, kommt ihnen aufgrund der häufig assoziierten respiratorischen Symptomatik eine große Bedeutung in der neuromuskulären Beatmungsmedizin zu. Die respiratorische Symptomatik resultiert in der Regel aus Paresen der am Atmen, Schlucken oder Husten beteiligten Muskulatur mit konsekutiver ventilatorischer Insuffienz, Dysphagie bis hin zur Speichelaspiration und Husteninsuffizienz. Vor allem bei einer Kombination aus Speichelaspiration und Husteninsuffizienz kann eine lebensbedrohliche Sekretretention mit erhöhtem Pneumonierisiko resultieren. Neuromuskulären Erkrankungen mit frühem Beginn können außerdem mit Kyphoskoliosen einhergehen, welche – aufgrund einer mit ihnen assoziierten Verschlechterung der Atemmechanik – zur Manifestation oder zur Verschlechterung einer ventilatorischen Insuffizienz führen und ein operatives Vorgehen notwendig machen können (Sponseller et al. 2012). Bei gutem Management des respiratorischen Symptomkomplexes, nicht sehr weit fortgeschrittenem Lebensalter, fehlender schwerwiegender Komorbiditäten, Anbindung an spezialisierte Behandlungszentren und guter psychosozialer Einbindung können allerdings selbst invasiv dauerbeatmete Patienten viele Jahre mit guter Lebensqualität überleben (Abschn. 24.1).

1.1 Klassifikation beatmungsmedizinisch relevanter neuromuskulärer Erkrankungen

Aufgrund der großen Vielfalt neuromuskulärer Erkrankung wird in der folgenden Klassifikation der Schwerpunkt auf beatmungsmedizinisch relevante Erkrankungsbilder gelegt.

1.1.1 Motoneuronerkrankungen

Der Begriff der Motoneuronerkrankungen umfasst alle Erkrankungen der ersten Motoneurone im Gyrus präzentralis sowie der zweiten Motoneurone in den motorischen Hirnnervenkernen, welche die bulbäre Muskulatur versorgen, und im Vorderhorn des Rückenmarks, welche die spinale Muskulatur versorgen. Zu den beatmungsmedizinisch relevanten Motoneuronerkrankungen gehören die zu 10 % hereditäre und zu 90 % sporadisch auftretende amyotrophe Lateralsklerose (ALS ), die x-chromosomal rezessiv vererbte spinobulbäre Muskelatrophie, die autosomal-rezessiv vererbte spinale Muskelatropie. Das klinische Verteilungsmuster ist der Tab. 13.1 zu entnehmen.

Tab. 13.1 Klinik der Motoneuronerkrankungen

Wichtig zur Diagnosefindung bei Motoneuronerkrankung ist die konsequente Suche nach Zeichen des ersten (Spastik, gesteigerte Muskeleigenreflexe, unerschöpfliche Kloni, Pyramidenbahnzeichen) und des zweiten Motoneurons (Muskelatrophien, abgeschwächte Muskeleigenreflexe, Faszikulationen, Fibrillationen der Zunge) (Ludolph et al. 2014; Finsterer und Soraru 2016). Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die neurologische Beatmungsmedizin und der Komplexität der Symptome wird die amyotrophe Lateralsklerose im folgenden Kapitel ausführlich behandelt.

1.1.2 Endplattenerkrankungen

Erkrankungen der neuromuskulären Endplatte können durch vielfältige Ursachen wie Autoantikörper, genetische Mutationen, Medikamente oder Drogen bedingt sein. Klinisches Charakteristikum dieser Erkrankungen ist die pathologische Schwäche und Ermüdbarkeit des Muskels (Myasthenie). Am häufigsten ist die Myasthenia gravis, die durch Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren (80–90 %), muskelspezifische Kinase (bis 5 %), LRP4 und Agrin bedingt sein kann, und bei der es sich um eine postsynaptische Erkrankung handelt. Die Symptomatik beginnt meist an der Augenmuskulatur und generalisiert häufig im Verlauf. Die Behandlung der Myasthenia gravis ist ein wichtiger Aspekt der neurologischen Intensiv- und Beatmungsmedizin (Abschn. 13.3).

Das Lambert-Eaton-Syndrom ist eine präsynaptische Erkrankung mit Nachweis von Antikörpern gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle (VGCC) in bis zu 90 % (Farrugia 2011; Verschuuren et al. 2016; Wiendl et al. 2017; Yan et al. 2018).

1.1.3 Polyneuropathien

„Polyneuropathien (PNP)… sind generalisierte Erkrankungen des peripheren Nervensystems (PNS)“, also aller „außerhalb des Zentralnervensystems liegender Teile der motorischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren Schwann-Zellen und ganglionären Satellitenzellen, ihren bindegewebigen Hüllstrukturen (Peri- und Epineurium) sowie den sie versorgenden Blut- und Lymphgefäßen.“ (Heuß et al. 2012).

Ein auf neurologischen Intensiv- und Beatmungsstationen häufig anzutreffende Krankheitsbilder sind die Critical Illness Polyneuropathie (CIP), welche häufig mit einer Critical Illness Myopathie (CIM) vergesellschaftet ist, sodass das Krankheitsbild meist zur sog. CIP/CIM zusammengefasst wird (Pattanshetty und Gaude 2011). Die CIP ist bei >90 % aller Patienten mit einer Dauer der Aufnahme auf einer Intensivstation >4 Wochen anzutreffen (Fletcher et al. 2003), wobei Sepsis/SIRS und Multiorganversagen wichtige Risikofaktoren sind und der Schweregrad bis hin zur vollständigen Plegie reichen kann (Hermans et al. 2008). Es sind Faktoren identifiziert worden, welche das Risiko einer CIP/CIM senken und die Folgen der Krankheit mildern könnten: intensivierte Insulintherapie und Frührehabilitation (Hermans et al. 2014) Dieses besonders wichtigen Krankheitsbild wird Abschn. 13.3.3 ausführlich beschrieben.

Das zweite wichtige Krankheitsbild aus der Gruppe der Polyneuropathien ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), „eine akut oder subakut verlaufende, häufig postinfektiös auftretende Polyneuritis mit multifokaler Demyelinisierung und/oder axonaler Schädigung im Bereich der Rückenmarkswurzeln und der peripheren Nerven“ (Korinthenberg et al. 2012). Gangliosidantikörper spielen bei der Entstehung eine wichtige Rolle. Als auslösende Erreger wurden Campylobacter jejuni, Mycoplasma pneumoniae, Zytomegalieviren und das Epstein-Barr-Virus identifiziert. Am häufigsten ist die demyelinisierende Variante, die akute inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (AIDP), weniger häufig, aber in der neurologischen Intensiv- und Beatmungsmedizin bedeutsam sind die axonale Variante, die akute motorische axonale Neuropathie, sowie das mit Ataxie, Hirnnervenparesen, insbesondere Ophthalmoplegie, und Areflexie einhergehende Miller-Fisher-Syndrom (MFS) (Rosenecker 2014; Korinthenberg et al. 2012). Das GBS wird ebenfalls Abschn. 13.3.1 ausführlich beschrieben.

1.1.4 Myopathien

Zu den primär die Muskulatur betreffenden Myopathien gehören die hereditären und die erworbenen Myopathien. Hereditäre Myopathien wiederum lassen sich in progressiven Muskeldystrophien, kongenitalen Myopathien mit Strukturbesonderheiten, metabolischen Myopathien und Ionenkanalmyopathien aufteilen. Zu den erworbenen Myopathien gehören wiederum immunogene, erregerbedingte und endokrine Myopathien sowie die Critical Illness Myopathie (CIM) (Deschauer et al. 2016).

Von besonderer Wichtigkeit für die neurologische Beatmungsmedizin sind die progressiven Muskeldystrophien . Es handelt sich um eine heterogene Gruppe hereditärer mit progressiver Muskelschwäche einhergehender Erkrankungen des Muskels (Flennigan 2012). Typische Befunde der Muskelbiopsie sind vermehrte Faserkalibervariationen, Fasernekrosen und -regenerationen, entzündliche Reaktionen sowie eine endo- und perimysiale Fibrose (Costanza und Moggio 2010). Am häufigsten kommen die folgenden – auch beatmungsmedizinisch relevanten – Krankheitsbilder vor: die autosomal dominant vererbten myotonen Dystrophien (Typ 1 und 2), die x-chromosomal rezessiv vererbte Duchenne-Becker-Muskeldystrophie und die autosomal dominant vererbte fazioskapulohumerale Muskeldystrophie (FSHD 1 und 2) (Deenen et al. 2014; Do et al. 2018).

Die myotonen Dystrophien sind genetisch unterschiedliche Multisystemerkrankungen, werden aber aufgrund der Klinik mit durch Dekontraktionshemmung verlängerter Muskelkontraktion (Myotonie) zu einer Gruppe zusammengefasst:

  • Bei der myotonen Dystrophie Typ 1 treten extramuskuläre Symptome wie ein Katarakt, eine Diabetes mellitus, Tagesschäfrigkeit, kognitive und psychiatrische Störungen auf (Smith und Gutmann 2016).

  • Bei der myotonen Dystrophie Typ 2 ist außerdem eine Antizipation mit von Generation zu Generation früherem Beginn und schwererem Verlauf bekannt (Pratte et al. 2015).

Die Muskeldystrophie Duchenne und die Muskeldystrophie Becker-Kiener werden beide durch Mutationen im DMD-Gen verursacht, welches das Protein Dystrophin kodiert. Dystrophin ist Teil des Dystrophinkomplexes, der die Membranen der Muskelzellen der quergestreiften Muskulatur stabilisiert (Gao und McNally 2015). Da bei der Muskeldystrophie kein Dystrophin, bei der Muskeldystrophie Becker-Kiener hingegen ein vermindert funktionsfähiges Dystrophin gebildet wird, verläuft die Muskeldystrophie Duchenne deutlich schwerwiegender (Anthony et al. 2014). Im Alter von 2–5 Jahren beginnt die Muskelschwäche, welche im Alter von ca. 12 Jahren zum Verlust der Gehfähigkeit führt. Es treten respiratorische, kardiale, orthopädische und gastrointestinale Komplikationen auf (Liang et al. 2018). Die Lebenserwartung beträgt 30–40 Jahre (Walter und Reilich 2017).

Bei der fazioskapulohumeralen Muskeldystrophie, welche in FSHD 1 (95 %) und FSHD 2 (5 %) unterteit wird, führen unterschiedlichegenetische Mechanismen zu einer vermehrten Expression des Transkriptionsfaktors DUX4. Bei der FSHD sind zunächst faziale, skapuläre und humerale Muskel, später auch Rumpf und untere Extremitäten befallen (Daxinger et al. 2015; De Simone 2017). Für die FSHD 1 wurde – wie für die Myotone Dystrophie Typ I – eine Antizipation beschrieben (Alawi et al. 2018).

Bei der myotonen Dystrophie Typ I, der Muskeldystrophie Duchenne und der FSHD können eine ventilatorische Insuffizienz, eine Husteninsuffizienz, eine Dysphagie, ein obstruktives Schlafapnoesyndrom, kardiale Arrythmien und – bei der Duchenne-Becker-Muskeldystrophie – auch eine Kardiomyopathie auftreten (Della Marca et al. 2009; Meola 2013; Toussaint et al. 2016; Bianchi et al. 2014; Hoque 2016; Goselink et al. 2016; Birnkrant et al. 2018). Während der Schweregrad des klinischen Verlaufs bei der FSHD und der myotonen Dystrophie Typ I variabel ist, beginnt bei der Muskeldystrophie Duchenne im Alter von 9–16 Jahren eine jährliche Verschlechterung der Vitalkapazität um 5–10 %, sodass ungefähr 90 % der nicht beatmeten Patienten im Alter von 16–19 Jahren an respiratorischen Komplikationen versterben (Bach und Martinez 2011; De Antonio et al. 2016; Mah et al. 2018; Wohlgemuth et al. 2018). Die bei Patienten mit myotoner Dystrophie Typ I unabhängig vom Ausmaß reduzierte CO2-Atemantwort spricht dafür, dass bei der myotonen Dystrophie Typ I eine sekundäre zentrale Hypoventilation vorkommen kann (Kap. 15) (Poussel et al. 2015).

Aus der Gruppe der lysosomalen Speicherkrankheiten ist der autosomal-rezessiv vererbten Morbus Pompe (Glykogenose Typ V) aus beatmungsmedizinischer Sicht bedeutsam. Aufgrund eines autosomal rezessiv vererbeten Defekts im Gen der sauren α-Glucosidase (GAA) kommt es zur Akkumulation von Glykogen in den Lysosomen. Abhängig von der verbleibenden GAA-Aktivität kann der klinische Verlauf eine sehr unterschiedliche Ausprägung vom schweren Verlauf mit frühem Beginn bis hin zum milden Verlauf mit spätem Beginn haben. Charakteristisch ist eine frühe Beteiligung des Diaphragmas, die sogar vor der typischen Schwäche der stammnahen Muskulatur auffallen kann. Die Messung der Vitalkapazität in aufrechter und liegender Position ist zur frühen Diagnose einer Diaphragmaparese bei Morbus Pompe essenziell (Manganelli und Ruggiero 2013).

1.2 Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen

1.2.1 Der Circulus vitiosus der Hyperkapnie und Grundlagen der Beatmungsindikation

Bei neuromuskulären Erkrankungen mit Beteiligung der muskulären Atempumpe kann eine ventilatorische Insuffizienz mit einer Hyperkapnie auftreten, deren Folgeerscheinungen die Hyperkapnie weiter verstärken können (Abb. 13.1).

Abb. 13.1
figure 1

Pathophysiologie der Hyperkapnie bei neuromuskulären Erkrankungen

Chronische Hyperkapnie führt – im Gegensatz zur akuten Hyperkapnie – zu einer Reduktion des hyperkapnischen Atemantriebs (Borel et al. 1993; Tankersley et al. 2007; Rialp et al. 2013. Zusätzlich führt die Hyperkapnie zu einem gestörten Schlaf und einer durch Schlafentzug bedingten zusätzlichen Abnahme des hyperkapnischen Atemantriebs (Schiffmann et al. 1983; White et al. 1983; Perrin et al. 2003; Zhou et al. 2018).

Häufig sind bei neuromuskulären Erkrankungen mit bulbärer Erkrankung zudem Paresen der pharyngealen Muskulatur, welche zu einem obstruktiven Schlafapnoesyndrom führen können (Aboussouan 2015; Aboussouan und Mireles-Cabodvila 2017; Zhou et al. 2018; Albdewi et al. 2018), das sich wiederum bei der amyotrophen Lateralsklerose als negativer Prädiktor für die Überlebenszeit erwiesen hat (Quarante et al. 2017).

Bei gleichzeitig bestehende Paresen im Bereich der pharyngealen Muskulatur und der muskulären Atempumpe könnte deren Interaktion die Symptomatik verstärken: Dass die ohnehin paretische Atemmuskulatur aufgrund des erhöhten Atemwegswiderstands eine erhöhte Atemarbeit verrichten muss, könnte sowohl eine ventilatorische Insuffzienz und damit eine Hyperkapnie als auch ein obstruktives Schlafapnoesyndrom auslösen bzw. verstärken (Springer et al. 2012; Albdewi 2018).

Eine Beatmungstherapie kann die geschilderte Pathophysiologie beeinflussen durch (Annane et al. 1999):

  • Entlastung und Regeneration der Atempumpe,

  • Verbesserung der Schafqualität,

  • „Reset“ des Atemzentrums.

Möglicherweise werden durch die Beatmung auch weitere Faktoren beeinflusst, die die ventilatorische Insuffizienzverstärken können, wie der Verlust der Compliance von Lunge und Thorax, die Bildung von Mikroatelektasen und die Sekretretention (Zhou et al. 2018).

1.2.2 Diagnose der ventilatorischen Insuffizienz

Symptome der ventilatorischen Insuffizienz bei neuromuskulären Erkrankungen sind Dyspnoe in Ruhe, bei körperlicher Belastung oder beim Sprechen, Orthopnoe, unerholsamer Schlaf, morgendliche Kopfschmerzen, Tagesschläfrigkeit, Erschöpfung, Tachykardie, Polyglobulie, psychische Symptome (Angst, Depression) und vegetative Störungen (Simonds 2013; Windisch et al. 2017). Klinische Zeichen sind schnelle und flache Atmung, paradoxe Atmung, Einsatz der Atemhilfsmuskulatur, gehäuftes Zwischenatmen beim Sprechen (Simonds 2013).

Zur apparativen Diagnostik Kap. 4.

1.2.3 Beatmungsindikationen

Bei Vorliegen einer fortschreitenden neuromuskulären Erkrankung mit Risiko einer ventilatorischen Insuffizienz sollte alle 3–12 Monate eine Erhebung der Anamnese und des klinischen Befunds, eine Messung der FVC in aufrechter Position und im Liegen sowie eine Messung des Hustenspitzenflusses erfolgen. Bei FVC < 70 % der Norm sollten ergänzend durchgeführt werden:

  • Blutgasanalyse (tagsüber und nachts),

  • transkutane Kapnometrie ,

  • Polygraphie (oder Polysomnographie ) (Windisch et al. 2017; Bach 2017).

Eine Polygraphie oder Polysomnographie sollte auch erfolgen, wenn anamnestisch der Verdacht auf eine schlafbezogene Atmungsstörung besteht (Kap. 16).

Eine Indikation zur Beatmung besteht nach Leitlinie „Nichtinvasive und invasive Beatmung als Therapie der chronischen respiratorischen Insuffizienz“ bei:

  • symptomatischer ventilatorischen Insuffizienz und

  • Erfüllung eines der folgenden Kriterien:

    • paCO2 ≥ 45 mmHg (tagsüber oder nachts),

    • nächtliches tcCO2 ≥ 50 mmHg über 30 min,

    • nächtlicher Anstieg des tcCO2 um ≥ 10 mmHg,

    • rasche Abnahme der FVC > 10 % innerhalb von 3 Monaten (Windisch et al. 2017).

Nach Bach (2017) besteht außerdem eine Indikation zur Beatmung, bei symptomatischer ventilatorischen Insuffizienz und erniedrigter Vitalkapazität im Liegen. Vitacca et al. konnten 2017 zeigen, dass speziell bei Patienten mit nichtbulbärer ALS eine sehr frühe Initiierung der NIV bei einer FVC ≥ 80 % der Norm die Zeit zwischen Diagnose und Tod verlängert.

Bei bestehender bulbärere Beteiligung, anamnestischem oder klinischem Verdacht auf eine Dysphagie sollte zudem ergänzend eine klinische Schluckuntersuchung und fiberendoskopische Schluckdiagnostik (FEES ) durchgeführt werden (Kap. 6).

Die Einleitung der Beatmung erfolgt in der Regel stationär, jedoch ist die frühe Einleitung einer NIV auch ambulant machbar (Bertella et al. 2017).

1.2.4 Beatmungszugang

Es existieren keine Studien, welche invasive mit nichtinvasiver Beatmung bei akuter respiratorischer Insuffizienz aufgrund neuromuskulärer Erkrankung vergleichen, sodass im Folgenden die Wahl des Beatmungszugang für die chronische ventilatorische Insuffizienz diskutiert wird (Luo et al. 2017).

Bei den meisten Myopathien und Erkrankungen des 2. Motoneurons ist eine nichtivasive Beatmung (NIV) ausreichend, welche auf bis zu 24 h ausgedehnt werden kann, auch wenn die Vitalkapazität nicht mehr messbar ist. Mit Hilfe von NIV können auch bereits von invasiver Beatmung abhängige Patienten dekanüliert werden (Bach 2017). Essenziell für das Gelingen der NIV ist allerdings das optimale Sekretmanagement , welche insbesondere Techniken des assistierten Hustens, die thorakale Range-of-Movement-Therapie und den Einsatz atmungstherapeutischer Methoden beinhaltet (Abschn. 7.1).

Patienten, die von invasiver Langzeitbeatmung auf nichtinvasive Beatmung umgesetzt wurden, gaben in einer Studie von Bach (1993) eine Verbesserung in den Bereichen Sprache, Schlaf, Schlucken und Wohlbefinden an. Für die amyotrophe Lateralsklerose ermittelten Kaub-Wittemer et al. (2003) sowohl für invasiv als auch für nichtinvasiv beatmete Patienten eine gute Lebensqualität, obwohl 81 % der Teilnehmer der Studie ohne vorherige Aufklärung tracheotomiert worden waren. Auch Vianello et al. (2011) erhoben bei aufgrund einer akuten respiratorischen Dekompensation ohne vorherige Aufklärung tracheotomierten Patienten mit amyotropher Lateralsklerose eine gute Akzeptanz und eine akzeptable Lebensqualität (Abschn. 24.1).

In einer Studie mit historischer Kontrollgruppe bei Patienten mit Muskeldystrophie Duchenne lebten Patienten mit nichtinvasiver Beatmung im Vergleich zu invasiv beatmeten Patienten 10 Jahre länger, wobei allerdings die historischen Kontrolle aufgrund der im Verlauf stattgehabten Verbesserung der kardiologischen und atmungstherapeutischen Methoden die Aussagekraft einschränkt (Ishikawa et al. 2011). Eine randomisiert-kontrollierte Studie, die ALS-Patienten mit und ohne NIV verglich, zeigte nur bei Patienten ohne schwere bulbäre Symptomatik eine Verbesserung des Überleben und ein Aufrechterhalten der Lebensqualität , während bei Patienten mit schwerer bulbärer Symptomatik sich das Überleben nicht verbesserte und die Lebensqualität nicht aufrechterhalten werden konnte, sich allerdings schlafbezogene Symptome verbesserten (Bourke et al. 2006; Radunovic et al. 2017). Grundsätzlich rechtfertigten die Ergebnisse der Studie nicht den Schluss, bulbär schwer betroffenen ALS-Patienten eine NIV grundsätzlich vorzuenthalten. Boentert et al. (2015) beobachteten in einer nichtkontrollierten Studie sowohl bei bulbär und als auch bei nichtbulbär betroffenen Patienten mit ALS eine Verbesserung der Schlafqualität. Allerdings sind die Schwere der bulbären Symptomatik sowie die Dauer der nächtlichen Zeit mit SpO2 < 90 % die wesentlichen prognostischen Faktoren für ein NIV-Versagen bei ALS (Sancho et al. 2014, 2018; Suh et al. 2018).

Zusammenfassend ist NIV die Therapie erster Wahl bei neuromuskulären Erkrankungen mit chronischer ventilatorischer Insuffizienz, wobei für das Gelingen der NIV ein effektives Sekretmanagement unerlässlich ist (Abschn. 7.1). Bei schwerer bulbärer Beteiligung ist NIV weniger effektiv. Folgende Kriterien stellen eine Indikation für die Tracheotomie dar (Windisch et al. 2017):

  • Schwere, therapieresistente Speichelaspiration ,

  • schwere, therapieresistente Sekretretention ,

  • fehlende Toleranz der NIV durch den Patienten,

  • Unmöglichkeit der Adaptation eines Beatmungszugangs,

  • primär ineffektive NIV,

  • Scheitern der Umstellung von invasiver Beatmung auf NIV.

Für die ALS konnte gezeigt werden, dass eine Desaturation <95 % für >24 h trotz NIV und Anwendung des mechanischen Insufflator-Exsufflators eine Indikation für die Tracheotomie zur Verlängerung des Überlebens darstellt (Bach et al. 2004).

1.2.5 Beatmungsmodi und -parameter

In mehreren Studien wurden verschiedene Beatmungsmodi für die NIV bei neuromuskulären Patienten miteinander verglichen: Crescimanno et al. (2011) verglichen druckassistierte Beatmung mit Volumengarantie (PSV-VTG), druckassistierte Beatmung (PSV) und druckassistiert-kontrollierte Beatmung (APCV) und fanden für alle Beatmungsmodi ähnliche Effekte auf die Blutgase und den Patientenkomfort, aber eine höhere Rate von Desynchronisationen zwischen Patient und Respirator bei PSV-VTG. In einer Studie von Chadda et al. (2004) wurden die volumenkontrolliert-assistierte Beatmung (ACV) mit PSV und APCV verglichen und ähnliche Effekte auf die subjektive Einschätzung der Patienten, die alveoläre Ventilation und die Entlastung der Atemmuskulatur beobachtet. Sancho et al. (2014) fanden zwar eine besser Ventilation mit volumenassistiert-kontrollierter gegenüber druckassistiert-kontrollierter Beatmung, aber keinen Unterschied bezüglich des Überlebens bei ALS.

Es gibt keinen Beatmungsmodus, für den eine Überlegenheit bei neuromuskulären Erkrankungen demonstriert werden konnte. Druckassistierte oder druckassistiert-kontrollierte Beatmung sind für die Beatmungstherapie bei neuromuskulären Erkrankungen geeignete Modi mit geringer Anfälligkeit für Anwenderfehler.

Die Beatmung bei neuromuskulären Erkrankungen muss die Atemmuskulatur entlasten. Daher sollte der effektive Beatmungsdruck (Δp = IPAP − EPAP) mindestens 10 cmH2O betragen (Bach 2017). Bei Verwendung eines Modus mit flexiblem Inspirationsdruck und Volumenziel sollte die untere Grenze für den Inspirationsdruck ebenfalls so eingestellt werden, dass Δp mindestens 10 cmH2O beträgt. Des Weiteren sollte bei hochgradiger Parese der Atemmuskulatur ein sensibler Trigger gewählt werden. Die Back-up-Atemfrequenz, das Verhältnis von Inspirationszeit zu Exspirationszeit (I:E-Verhältnis) und das Atemzugvolumen (AZV) sollten sich an physiologischen Werten orientieren. Die Einstellung erhöhter Atemfrequenzen sollte bei Patienten ohne begleitende pulmonale oder thorakal-restriktive Erkrankungen aus Gründen des Patientenkomforts vermieden werden.

Eine pragmatische Einstellung sowohl der nichtinvasiven als auch der invasiven Beatmung kann unter kontinuierlicher Bobachtung des Patientenkomforts wie folgt vorgenommen werden:

(Back-up-)Atemfrequenz

12/min

Unterer Druck (PEEP)

6 cmH2O, bei polygraphisch (oder polysomnographisch) nachgewiesenen obstruktiven Apnoen und AHI > 5: 8 cmH2O

Effektiver Beatmungsdruck (Δp)

16 cmH2O, ggf. steigern, bis physiologisches AZV erreicht (Normwert: AZV 7 ml/kgKG Normalgewicht)

Trigger

So sensibel wie möglich, ohne dass Fehltriggerungen ausgelöst werden

Inspirationszeit

Beginn mit 1,6–1,8 s, ggf. reduzieren, wenn der Patient tachypnoeisch ist, bis I:E-Verhältnis normalisiert ist (Normwert: I:E-Verhältnist 1:1,5 bis 1:2)

Die Alarmgrenzen sollten nicht zu eng eingestellt werden, damit außerklinisch keine erhöhte Geräuschbelästigung entsteht.

Oft macht ein Fortschreiten der Erkrankung die kontinuierliche Ausweitung der Beatmungszeiten erforderlich. Wenn zunächst nur nächtlich beatmet wurde, werden im Verlauf zunehmend Beatmungsphasen tagsüber erforderlich. Sowohl während des Nachtschlafs als auch während des Tagschlafs sollte die Beatmungstherapie grundsätzlich eingesetzt werden.

Beatmungskontrollen sollten 1–2 Monate nach Ersteinstellung der außerklinischen Beatmung, anschließend dann alle 6–12 Monate, bei ALS alle 3 Monate erfolgen (Windisch et al. 2017). Die Kontrolle umfasst bei stationärer Aufnahme des Patienten:

  • Auslesen der Heimbeatmungsgeräte,

  • Auslesen der Hustenassistenten,

  • spirometrische Messung der FVC in aufrechter Position und im Liegen,

  • Messung des Hustenspitzenflusses,

  • Blutgasanalyse (tagsüber und nachts),

  • transkutane Kapnometrie,

  • Polygraphie (oder Polysomnographie), Flow-Messung direkt aus dem Beatmungssystem mit einem speziellen Adapter (entbehrlich bei invasiver Beatmung außer, wenn V. a. eine zentrale Atemregulationsstörung besteht),

  • fiberendoskopische Schluckdiagnostik.

Eine Beatmungskontrolle kann mit reduziertem Umfang der Diagnostik auch ambulant durchgeführt werden (Abschn. 29.3).

1.2.6 Optimierung der Beatmung

Das Beatmungsziel ist die Normalisierung des paCO2. Wenn blutgasanalytisch, in der transkutanen oder endexpiratorischen Kapnometrie erhöhte CO2-Werte nachgewiesen werden, ist ein Anheben des Δp indiziert. Erniedrigte CO2-Werte können bis zu einem Wert von 25 mmHg toleriert werden, wenn der Patient keine klinischen Zeichen der Hyperventilation zeigt und eine gute subjektive Toleranz der Beatmung zeit.

Die Polygraphie ermöglicht die Diagnose von Obstruktionen der oberen Atemwege unter NIV, welche sogar durch NIV induziert werden können (Schellhas et al. 2018). Obstruktionen unter NIV stellen sich polygraphisch als Abfälle der thorakalen und abdominellen Atemexkursion bei erhaltenem Flow-Signal dar. Es sollte allerdings auf zeitgleich zu den Obstruktionen auftretende Maskenleckagen geachtet werden. Wenn >5 Obstruktionen pro Stunde auftreten, sollte der untere Druck (PEEP) möglichst angehoben und eine erneute polygraphische Kontrolle durchgeführt werden. Auch können, wenn die (Back-up-)Atemfrequenz zu niedrig eingestellt ist, zentrale Apnoen auftreten. In diesen Fällen sind dann weder ein Flow-Signal noch thorakale oder abdominelle Atemexkursionen zu erkennen.

1.3 Auswirkung von Beatmung

Wie in Abschn. 13.1.2 beschrieben, führt Beatmung zu einer Verbesserung von Überleben, Lebensqualität und Schlafqualität , insbesondere bei schweren, fortschreitenden neuromuskulären Erkrankungen wie der ALS oder Muskeldystrophie Duchenne.

Beatmung reduziert die Atemarbeit und entlastet die Atemmuskulatur, jedoch nur, wenn die Beatmungsparameter korrekt eingestellt sind. Andernfalls kann die Atemarbeit sogar erhöht sein (Marini et al. 1985; Campoccia Jaled et al. 2018). Dauerhafte, kontrollierte Beatmung führt schnell zu einer Schädigung der Atemmuskulatur mit Atrophie des Diaphragmas (Tobin et al. 2010). Mellies et al. (2003) erreichten bei Kindern und Heranwachsenden mit neuromuskulären Erkrankungen und ventilatorischer Insuffizienz durch nächtliche Beatmung eine über 2 Jahre persistierende Normalisierung des Gasaustauschs nachts und tagsüber. Nach 6 Monaten erfolgreicher NIV hatte eine NIV-Pause über 3 Tage eine Verschlechterung des Gasaustauschs beinahe bis zur Baseline zur Folge (Mellies et al. 2003). Dies spricht dafür, dass es unter nächtlicher NIV nicht zu einer Schädigung der Atemmuskulatur kommt.

Bei neuromuskulären erkrankten Patienten, die auf einer Intensivstation aufgenommen wurde, konnte eine verminderte hyperkapnische Atemantwort und damit ein verminderter zentraler Atemantrieb demonstriert werden (Rialp et al. 2013). Nächtliche Beatmung wiederum führt zu einer Zunahme der hyperkapnischen Atemantwort und damit Steigerung des zentralen Atemantriebs (Annane et al. 1999).

Außerdem können durch NIV bei neuromuskulären Erkrankungen eine Rückbildung von Hypoventilationssymptomen (Burt et al. 2003; Young et al. 2007), eine Senkung der Hospitalisierungsrate insbesondere bei Verwendung eines strukturierten Sekretmanagements (Tzeng und Bach 2000; Young et al. 2007), eine Verbesserung der Kognition (Newsom-Davis et al. 2001) und einer Depression (Butz et al. 2003) erreicht werden.

2 Beatmung bei amyotropher Lateralsklerose

Definition, Epidemiologie und Ätiologie

Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist die am häufigsten zur Beatmung führende neuromuskuläre Erkrankung und eine der am häufigsten zur Beatmung führenden Erkrankungen überhaupt. Sie gehört zur Gruppe der Motoneuronerkrankungen, bei denen eine Degeneration des motorischen Nervensystems im Vordergrund der Symptomatik steht. Die Inzidenz beträgt etwa 1,5–3/100.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Damit tritt die Erkrankung etwa so häufig auf wie die multiple Sklerose, allerdings ist die Prävalenz aufgrund der massiv eingeschränkten Lebenserwartung der Patienten deutlich niedriger. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen, wobei in der Literatur Verhältnisse zwischen 1,1:1 bis 1,5:1 zu finden sind. Der Erkrankungsgipfel liegt zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr, wobei gerade bei den hereditären Formen auch jüngere Patienten betroffen sein können – bei Kindern und Jugendlichen ist die Erkrankung äußerst selten. Etwa 10 % der Erkrankungen sind erblich (familiäre Form), der überwiegende Teil tritt sporadisch auf. In den letzten Jahren wurden verschiedene genetische Mutationen entdeckt, welche die Erkrankung verursachen können, die am häufigsten betroffenen Gene sind C9ORF, SOD1, TDP-43 und FUS.

Der Tod tritt überwiegend infolge der zunehmenden respiratorischen Insuffizienz nach durchschnittlich 2–5 Jahren ein, wobei es erhebliche Unterschiede hinsichtlich der natürlichen Geschwindigkeit der Krankheitsprogredienz und der Lebenserwartung gibt. Allerdings wirken sich auch die Güte der nichtinvasiven Heimbeatmungstherapie (non invasive ventilation, NIV) und die Compliance des Patienten hinsichtlich der Beatmung auf die Lebenserwartung aus. Weiterhin spielt die Entscheidung des Patienten für oder gegen eine invasive Beatmung (invasive ventilation, IV) über Tracheostoma eine erhebliche Rolle, da durch eine IV das Überleben der Patienten erheblich – um bis zu mehrere Jahre – verlängert werden kann.

Lange Zeit dachte man, wie die Bezeichnung „Motoneuronerkrankung “ nahelegt, dass es sich bei der ALS um eine Erkrankung handelt, die ausschließlich das motorische Nervensystem betrifft, und tatsächlich stehen motorische Symptome, insbesondere fortschreitende Paresen der gesamten willkürlich innervierten Muskulatur, im Vordergrund der Symptomatik. Allerdings wurden bereits im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe von Fallserien mit unterschiedlichsten nichtmotorischen Symptomen publiziert. Diese reichen von neuropsychologischen und psychiatrischen Auffälligkeiten über manifeste Demenzen bis hin zu extrapyramidalen, sensiblen und autonomen Symptomen. Ein Durchbruch für das Verständnis der Erkrankung gelang 2006 mit der Entdeckung von pTDP-43 (Neumann et al. 2006), einem pathologisch veränderten Protein, das sich nicht nur in den motorischen Gehirnstrukturen von ALS-Patienten findet, sondern sich im Verlauf der Erkrankung regelhaft über das gesamte zentrale Nervensystem ausbreitet, worauf die Stadieneinteilung von Braak aus dem Jahr 2013 basiert. Mit den Braak-Stadien wiederum wurde die Grundlage für das Verständnis der ALS im Sinne einer Multisystemerkrankung gelegt, und die nichtmotorischen Symptome wurden vor diesem Hintergrund verständlich. Im Kontext der Beatmung sind diese Begleitsymptome von großer Bedeutung, da sie die Durchführbarkeit einer NIV erschweren und teilweise sogar gänzlich verhindern können. Der optimalen symptomatischen Therapie dieser Begleitfaktoren kommt somit eine wichtige Rolle zu.

Auch wenn mit der Entdeckung von pTDP-43 ein Meilenstein zur Erforschung der pathogenetischen Zusammenhänge der Krankheit gelang, konnten die genauen Mechanismen der Neurodegeneration bisher nur unzureichend aufgeklärt werden, was den Mangel an kausalen Therapieoptionen erklärt. Umso wichtiger sind vor diesem Hintergrund die symptomatischen Therapiemaßnahmen, wobei die Beatmung einen der wichtigsten Bausteine darstellt.

Klinik

Das klinische Bild der ALS ist äußerst vielgestaltig und erfordert die Behandlung durch ein multiprofessionelles Team . Die Rolle der Beatmung kann nur im Kontext der individuellen Begleitfaktoren jedes Patienten verstanden und optimal angepasst werden.

Im Zuge der motorischen Systemdegeneration kommt es zu einer Schädigung sowohl der oberen als auch der unteren Nervenzelle (erstes und zweites Motoneuron) der motorischen Bahn. Der Untergang der unteren Nervenzellen im Bereich des Hirnstamms und der Vorderhörner des Rückenmarks führt zu schlaffen Paresen, Atrophien und Muskelfaszikulationen. Die Zerstörung oberer Motoneurone, deren Zellkörper im motorischen Kortex liegen und deren Fortsätze die Pyramidenbahn bilden, bewirkt hingegen Enthemmungsphänomene mit der Folge eines spastisch erhöhten Muskeltonus, gesteigerter Muskeleigenreflexe und Pyramidenbahnzeichen. Die kombinierte Schädigung der oberen und unteren Motoneurone kann somit scheinbar paradoxe Phänomene wie atrophe Paresen bei gleichzeitig gesteigerten Muskeleigenreflexen bewirken. Ein solches Schädigungsmuster ist typisch für die ALS und der entscheidende klinische Wegweiser zur Diagnosestellung.

Darüber hinaus zeigt sich ein charakteristisches Ausbreitungsmuster („Spreading“) der Paresen, das die sukzessive Ausbreitung von pTDP-43 im Nervensystem widerspiegelt. Das Ausbreitungsmuster der Paresen ist nicht zufällig, sondern regelhaft (Ravits 2014). Zumeist manifestieren sich kombinierte Symptome des oberen und unteren Motoneurons zunächst fokal im Bereich der distalen Extremitäten und breiten sich in der Folge nach proximal aus. Anschließend werden benachbarte Extremitäten erfasst, welche dann wiederum ein gleichartiges Ausbreitungsmuster zeigen. Allerdings sind nicht alle Muskeln gleichermaßen betroffen, sondern es finden sich typische Prädilektionsstellen, wie z. B. die Thenar-Muskulatur, die Fingerstrecker, die peroneale Muskulatur sowie die Ellenbogen-, Knie- und Hüftbeugemuskulatur. Auf der anderen Seite sind Hypothenar-Muskulatur, Fingerbeuger sowie Ellenbogen-, Knie- und Hüftstrecker vergleichsweise weniger betroffen. Wenn sich die Erkrankung über Oberarme und Schultergürtelmuskulatur auf den Rumpf ausdehnt, kommt es zu einer Beteiligung des Zwerchfells und der Atemhilfsmuskulatur von Thorax und Abdomen. In seltenen Fällen (ca. 2 %) kann die Erkrankung auch im Bereich der Thorax und somit mit respiratorischen Symptomen beginnen. In solchen Fällen kann es vorkommen, dass der Beginn einer NIV oder sogar IV einer Diagnosestellung vorausgeht.

Dieser Verlaufstyp einer ALS sollte im Falle einer pulmologisch nicht erklärbaren Atemstörung bedacht werden.

Auch eine bulbäre Symptomatik mit progredienter Schluck - und Sprechstörung bis hin zur Aphagie und Anarthrie ist im Verlauf der ALS regelhaft zu beobachten. In ca. 1/3 der Fälle manifestiert sich die Erkrankung in diesem Bereich (sog. bulbäre Verlaufsform), was mit einer schlechteren Prognose im Vergleich zur häufigeren spinalen Verlaufsform (Beginn der Symptome im Bereich der Extremitäten) verknüpft ist. Das Ausmaß der bulbären Beteiligung hat im Kontext der Beatmung in vielerlei Hinsicht eine große Bedeutung: Zum einen beeinflussen bulbäre Muskeln direkt die Beatmung, etwa durch das Freihalten der oberen Luftwege, zum anderen führt eine Insuffizienz der Schluck- und Sprechmuskulatur zu einer oft erheblichen und schwer therapierbaren Sekretproblematik, welche die Durchführung einer NIV massiv erschweren und darüber hinaus zu Aspirationspneumonien führen kann. Zu unterscheiden sind hierbei einerseits dünnflüssiger Speichel, welcher im Rahmen der Erkrankung zwar nicht vermehrt produziert wird, aber nicht mehr in ausreichendem Maße heruntergeschluckt werden kann, zum anderen zähes Sekret der oberen Luftwege, welche durch den abgeschwächten Hustenstoß nicht mehr ausreichend abgehustet werden können. Durch Aspiration von Speichel und Verlegung von Lungenabschnitten durch zähes Sekret ist das Risiko von Atelektasen und Pneumonien erheblich erhöht, weshalb der adäquaten Behandlung dieser Faktoren eine sehr wichtige Bedeutung zukommt. Problematisch kann sich in diesem Kontext darstellen, dass die Behandlung des Speichelflusses, z. B. durch Anticholinergika, die Problematik des zähen Sekrets verstärken kann und umgekehrt. Die progrediente Dysphagie macht häufig die Anlage einer perkutanen endoskopischen Gastrostomie (PEG) erforderlich. Der Schweregrad der Ateminsuffizienz und der Beatmungsstatus des Patienten sind bei der Planung einer PEG-Anlage zu berücksichtigen.

Durch die moderne Auffassung, dass es sich bei der ALS um eine Multisystemerkrankung handelt, werden nichtmotorische Symptome heute früher wahrgenommen und therapiert. Insbesondere wurde durch den Nachweis von pTDP-43 sowohl in Gehirnen von ALS-Patienten als auch in Gehirnen von Patienten mit frontotemporaler Demenz (FTD) das gemeinsame Spektrum dieser beiden Erkrankungen erkannt und ihr überzufällig häufiges Auftreten erklärt. Mittlerweile ist bekannt, dass eine manifeste FTD bei etwa 5–10 % aller ALS-Patienten auftritt (Feneberg et al. 2014). Es wurden standardisierte neuropsychologische Tests wie der ECAS (Lule et al. 2015) entwickelt, um neuropsychologische Defizite bei ALS-Patienten zu erfassen. Manifeste Demenzen treten bei ALS-Patienten zwar nur selten auf; dagegen sind neuropsychologische Auffälligkeiten, welche die Kriterien einer Demenz nicht erfüllen, recht häufig anzutreffen (Goldstein und Abrahams 2013), wobei diese insbesondere Wortflüssigkeit, Arbeitsgedächtnis und emotionale Verarbeitung betreffen. Neuropsychologische Veränderungen treten in milder Form meist schon früh im Krankheitsverlauf auf, verschlechtern sich in der Folge jedoch weniger rasch als die motorischen Symptome (Schreiber et al. 2005). Diese subtilen, meist subklinischen Veränderungen spiegeln qualitativ die Symptome des FTD-Komplexes wider.

Auch psychiatrische Symptome wie manische und depressive Syndrome (Dornblüth 1889) bis hin zu Psychosen mit Wahn und Halluzinationen (Braumühl 1932) treten bei ALS-Patienten gehäuft auf. Das Wissen um diese neuropsychologischen und psychiatrischen Veränderungen bei ALS impliziert, dass diese Faktoren bei der Bewertung des Krankheitsbilds und der Therapieplanung berücksichtigt werden müssen. Implikationen ergeben sich inbesondere hinsichtlich der Entscheidungsfähigkeit bezüglich invasiver therapeutischer Maßnahmen (z. B. Tracheotomie) und der Compliance bezüglich der NIV.

Ein weiterer nichtmotorischer Aspekt der ALS, der sich auf die Beatmung auswirkt, stellt der veränderte Metabolismus dar. Während des Krankheitsverlaufs kann bei fast allen Patienten ein progredienter Gewichtsverlust unterschiedlichen Ausmaßes beobachtet werden (Kasarskis et al. 1996), welcher einen unabhängigen, negativen prognostischen Faktor darstellt (Desport et al. 1999). Der Ätiologie der Gewichtsabnahme und der Frage, wie man das Gewicht der Patienten stabilisieren kann, kommt daher eine große Bedeutung zu. Neben einem Verlust an Muskelmasse und verminderter Nahrungsaufnahme durch Dysphagie wurde als wesentlicher Faktor ein um ca. 10 % erhöhter Ruheenergieumsatz bei ALS-Patienten identifiziert (Desport et al. 2001). Der erhöhte Ruheenergieumsatz bleibt über den gesamten Krankheitsverlauf hinweg stabil und kann somit nicht mit erhöhter Atemarbeit bei zunehmender respiratorischer Insuffizienz oder vermehrten Muskelfaszikulationen erklärt werden. Es konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass ALS-Patienten nicht erst zum Zeitpunkt der Diagnose, sondern häufig schon mehrere Jahre zuvor einen geringeren BMI als gesunde Kontrollen aufweisen (Mariosa et al. 2017). Die Ursache des Hypermetabolismus bei ALS -Patienten ist aktuell noch nicht abschließend geklärt; eine mögliche Ursache besteht in einer Affektion des Hypothalamus im Rahmen der fortschreitenden Neurodegeneration (Dupuis et al. 2012). Ob der fortschreitenden Gewichtsabnahme und Kachexie durch eine vermehrte Kalorienzufuhr, etwa durch Einnahme hochkalorischer Trink- oder PEG-Nahrung, entgegengewirkt werden kann, ist derzeit Gegenstand großer multizentrischer Studien.

Neben dem Energiemetabolismus sind auch der Fett- und Kohlenhydratstoffwechsel von Veränderungen betroffen. ALS-Patienten leiden häufiger an einer Hyperlipidämie , und diese wurde zudem als möglicher positiver prognostischer Faktor identifiziert (Dupuis et al. 2008). Auch ein Diabetes mellitus tritt bei ALS gehäuft auf (Pradat et al. 2010), andererseits erkranken Patienten mit einem vorbestehenden Diabetes im Durchschnitt später als Patienten ohne Diabetes (Kioumourtzoglou et al. 2015). Insgesamt sind die beschriebenen metabolischen Veränderungen pathogenetisch noch unzureichend verstanden. Es lässt sich aber konstatieren, dass verschieden Faktoren, die mit einem kardiovaskulären Risikoprofil assoziiert sind, offenbar protektiv für die ALS sind (Korner et al. 2013).

Im Kontext der Beatmung ergeben sich hierdurch mehrere Implikationen:

  1. 4.

    sind die meisten ALS-Patienten, obwohl die Erkrankung zumeist im höheren Lebensalter auftritt, kardiovaskulär und pulmologisch gesund.

  2. 5.

    muss dem progredienten Gewichtsverlust und der damit einhergehenden Kachexie therapeutisch entgegengewirkt werden, da diese Patienten anfälliger für respiratorische Komplikationen sind und eine deutlich schlechtere Prognose aufweisen.

Diagnostische Kriterien und Subtypen

Die Diagnose der ALS wird im Wesentlichen aufgrund der typischen Klinik mit Affektion des oberen und unteren Motoneurons, rasch progredientem Verlauf mit typischem Spreading und typischen Prädilektionsmuskelgruppen gestellt. Unterstützend können durch Elektroneurographie und -myographie Läsionen der unteren Motoneurone (typischerweise auf mehreren Ebenen) und durch motorisch evozierte Potenziale eine Schädigung der oberen Motoneurone nachgewiesen werden.

Weitere Untersuchungen dienen vornehmlich der Ausschlussdiagnostik. In der zerebralen Bildgebung mittels MRT sind bei einigen Patienten eine Verschmächtigung des Motorsegments des Corpus callosum und eine T2-Hyperintensität der Pyramidenbahn zu sehen, diese Zeichen gelten jedoch als relativ unspezifisch. Neuere Methoden wie Diffusion Tensor Imaging (DTI) ermöglichen die Darstellung geschädigter Fasertrakte entsprechend der Braak-Stadien (Kassubek et al. 2014). Ein MRT der spinalen Achse kann bei Patienten ohne bulbäre Symptome zum Ausschluss einer Spinalkanalstenose sinnvoll sein. Liquordiagnostisch ergeben sich zumeist keine wegweisenden Befunde; allerdings wurde kürzlich mit den Neurofilamenten (Steinacker et al. 2016) ein hochsensitiver und hochspezifischer Biomarker beschrieben, der zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung nützlich sein kann.

In der klinischen Praxis werden zumeist die revidierten El-Escorial-Kriterien (Brooks et al. 2000) zur Diagnosestellung herangezogen, welche anhand von klinischen und elektrophysiologischen Zeichen einer Schädigung des oberen und unteren Motoneurons auf bulbärer, zervikaler, thorakaler und lumbaler Ebene eine Einteilung in vermutete, mögliche, wahrscheinliche und sichere ALS vornimmt. Kürzlich wurde eine vereinfachte Form dieser Kriterien publiziert (Ludolph et al. 2015), in welcher diese abstrakten und für den Patienten wenig verständlichen Sicherheitskategorien wegfallen. Zudem werden vier seltene Subtypen der ALS aufgeführt, welche zuvor teilweise als eigenständige Krankheitsentitäten aufgefasst wurden. All diesen Subtypen ist gemeinsam, dass sie eine bessere Prognose als die klassische ALS haben und ebenfalls zur Beatmungspflichtigkeit führen können, jedoch meist erst deutlich später im Krankheitsverlauf.

  • Bei der primären Lateralsklerose (PLS) handelt es sich um eine klinische Variante mit fast ausschließlicher Affektion des oberen Motoneurons; im Vordergrund der Symptomatik steht zumeist eine ausgeprägte Spastik.

  • Das klinische Pendant mit ausschließlicher Affektion des unteren Motoneurons wird progressive Muskelatrophie (PMA) genannt.

  • Ein weiterer Subtyp, das sog. Flail-Arm-Syndrom (FAS) ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die klinische Symptomatik über einen relativ langen Zeitraum auf die Arme beschränkt, bevor sie auf andere Körperregionen übergreift. Das typische klinische Bild ist durch flegelartig (daher der Name) schlaff herunterhängende Arme bei häufig noch erhaltener Gehfähigkeit gekennzeichnet. Durch eine relativ frühe Beteiligung der Atemhilfsmuskulatur und weil bulbäre Symptome und die damit assoziierten Beatmungsprobleme zunächst fehlen, lassen sich Patienten dieses Subtyps erfahrungsgemäß exzellent beatmen und profitieren erheblich.

  • Das analoge Krankheitsbild der unteren Extremitäten wird als Flail-Leg-Syndrom (FLS) bezeichnet.

Die Beatmungsprinzipien bei den aufgeführten Subtypen entsprechen im Wesentlichen denen der ALS, häufig gestaltet sich die Beatmung jedoch weniger kompliziert, denn auch wenn alle o. g. erschwerenden Symptome einer Multisystemerkrankung auch bei den Subtypen vorkommen können, so sind sie generell doch weniger häufig anzutreffen.

Differenzialdiagnosen

Wenn eine typische Konstellation mit klinischer Affektion des oberen und unteren Motoneurons vorliegt, gibt es kaum relevante Differenzialdiagnosen zur ALS. Jedoch sind in frühen Krankheitsstadien nicht selten nur Symptome des zweiten Motoneurons vorhanden, was eine sichere Diagnosestellung erschweren kann.

Multifokale motorische Neuropathie

Eine relevante Differenzialdiagnose ist in diesem Fall die multifokale motorische Neuropathie (MMN), eine autoimmunentzündliche Erkrankung des peripheren Nervensystems mit ausschließlich motorischen Symptomen, welche typischerweise durch Leitungsblöcke in der Neurographie und in ca. 50 % der Fälle durch den Nachweis von anti-GM1-Antikörpern gekennzeichnet ist. Diese Differenzialdiagnose ist v. a. deshalb von großer Bedeutung, da die Patienten typischerweise gut auf intravenöse Immunglobuline (IVIg) ansprechen. Trotz dieser Therapiemöglichkeit muss ein Teil der Patienten im weiteren Krankheitsverlauf beatmet werden, wobei grundsätzlich die gleichen Prinzipien wie bei der ALS gelten.

Einschlusskörperchenmyositis

Eine weitere Differenzialdiagnose, welche gelegentlich mit der ALS verwechselt werden kann, ist die Einschlusskörperchenmyositis (Inclusion Body Myositis, IBM). Klinisch wegweisend ist das unterschiedliche Verteilungsmuster der Paresen, da bei der IBM zumeist betont die Quadricepsmuskulatur und die Fingerflexoren betroffen sind. Falls auch das EMG keine sichere Diagnosestellung erlaubt, kann in Zweifelsfällen eine Muskelbiopsie indiziert sein. Therapeutisch werden Steroide und IVIg mit wechselndem Erfolg eingesetzt, zur Beatmungspflichtigkeit kommt es vergleichsweise selten.

Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy

Darüber hinaus existieren erbliche Motoneuronerkrankungen, die im Falle eines Fehlens von Symptomen des ersten Motoneurons mit der ALS verwechselt werden können. Bei der spinobulbären Muskelatrophie Typ Kennedy (SBMA, Kennedy-Krankheit) handelt es sich um eine X-chromosomal-rezessiv vererbte und daher ausschließlich Männer betreffende Erkrankung, welche durch eine Trinukleotidrepeat-Expansion im Androgenrezeptor-Gen verursacht wird. Neben dem früheren Manifestationsalter (20.–40. Lebensjahr) zeigen die betroffenen Patienten häufig charakteristische klinische Zusatzmerkmale wie Gynäkomastie und Hodenatrophie sowie endokrinologische Störungen wie Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus Typ II. Weiterhin sind manchmal ein posturaler Tremor, Myokymien des Gesichts und eine starke Zungenatrophie bei vergleichsweise guter Zungenbeweglichkeit zu beobachten. Im Falle eines klinischen Verdachts kann die Diagnose molekulargenetisch gesichert werden, eine kausale Therapie existiert jedoch nicht. Die Erkrankung ist deutlich gutartiger als die ALS und führt deutlich seltener und später zur Beatmungspflichtigkeit.

Spinale Muskelatrophie

Bei der spinalen Muskelatrophie (SMA) handelt es sich um eine zumeist autosomal-rezessiv erbliche Erkrankung, der eine Mutation im SMN1-Gen zugrunde liegt. Die Erkrankung kommt in verschiedenen klinischen Schweregraden vor, welche mit unterschiedlichen Erkrankungsaltern korreliert.

  • Die Subvarianten SMA-Typ 0–3a bezeichnen einen Beginn im Neugeborenen- bis Kindesalter und sind somit aufgrund des unterschiedlichen Erkrankungsalters leicht von der ALS zu differenzieren.

  • Der SMA-Typ 3b (Kugelberg-Welander ) beginnt in einem Lebensalter >3 Jahren, und die Patienten erlernen meist das eigenständige Gehen; im weiteren Verlauf kommt es zu progredienten, proximal betonten atrophen Paresen und häufig zur Rollstuhlpflichtigkeit.

  • Der SMA-Typ 4 bezeichnet den leichtesten Schweregrad, bei der sich die zumeist proximal betonten Paresen der unteren Extremitäten erst im Erwachsenenalter entwickeln.

Die juvenilen SMA-Typen haben eine schlechte Prognose und führen regelmäßig zur Beatmungspflichtigkeit, hierbei gelten dieselben Prinzipien wie bei der ALS. Viele dieser Patienten versterben im Kinder- und Jugendalter.

Die adulten Formen, insbesondere der SMA-Typ 4, führen nur selten zur Beatmungspflichtigkeit, dementsprechend liegt eine fast normale Lebenserwartung vor. Bei klinischem Verdacht kann die Diagnose molekulargenetisch gesichert werden.

Im November 2016 wurde die Wirksamkeit des intrathekal zu applizierenden Antisense-Oligonukleotids Nusinersen bei juvenilen SMA-Formen nachgewiesen und wenig später für alle SMA-Formen zugelassen. Die Ergebnisse bei Neugeborenen und Kindern waren äußerst vielversprechend mit teilweise erheblichen klinischen Verbesserungen. Wie stark die Prognose durch diese Therapie verbessert wird und ob die Beatmungspflichtigkeit bei einem Teil der Patienten verzögert oder gar vermieden werden kann, ist aktuell noch nicht sicher abzuschätzen. Der therapeutische Nutzen bei den langsamer progredienten adulten Formen ist trotz der Zulassung auch für diese Formen noch unklar.

Therapie

Krankheitsmodifizierende Therapieansätze

Trotz intensiver Forschungsbemühungen steht nach wie vor keine kurative bzw. kausale Therapie für die ALS zur Verfügung. Der Glutamat-Antagonist Riluzol verlängert das Überleben um ca. 3–6 Monate (Bensimon et al. 1994) und stellt bei zumeist guter Verträglichkeit die Standardtherapie dar. Kürzlich wurde die Wirksamkeit des Antioxidans Edaravone für eine Subgruppe von ALS-Patienten mit rasch progredientem Verlauf und einem frühen Krankheitsstadium nachgewiesen (EdavaroneStudyGroup 2017). Die zugrundeliegende Phase-III-Studie belegt eine moderate Verzögerung der klinischen Verschlechterung, allerdings ist das Medikament nur intravenös applizierbar und aktuell noch nicht in Europa zugelassen. Eine aktuelle Publikation (Ludolph et al. 2018) weist auf einen möglichen lebensverlängernden Effekt des MAO B-Hemmers Rasagilin in einer Subgruppe mit ebenfalls rasch progredientem Verlauf hin; hierbei handelt es sich um eine Post-hoc-Analyse, sodass dieses Ergebnis durch eine weitere Phase-III-Studie zu bestätigen ist. Für bestimmte hereditäre Formen wie Patienten mit SOD1- und C9ORF72-Mutationen werden derzeit Antisense-Oligonukleotide in klinischen Studien erprobt oder befinden sich in der Entwicklung – der therapeutische Nutzen bleibt abzuwarten.

Multidisziplinäre Betreuung

Während des gesamten Krankheitsprozesses sollte der Patient durch einen in der ALS erfahrenen Facharzt betreut werden, der auf die sich ständig verändernden, individuell höchst unterschiedlichen und sehr komplexen Symptome vorausschauend eingeht und die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen ergreift. Eine adäquate Betreuung des Patienten kann jedoch nicht durch den Arzt allein gewährleistet werden, vielmehr erfordert die Therapie ein multiprofessionelles Team , das eng zusammenarbeitet. Der Nutzen eines solchen Teams hinsichtlich Überleben und Lebensqualität ist wissenschaftlich erwiesen (Miller et al. 2009). Der Stellenwert von Physiotherapie, Atmungstherapie und Ergotherapie zum Funktionstraining sowie zur Prophylaxe von Sekundärkomplikationen wie Arthrosen und Kontrakturen ist unbestritten, obwohl es an Studien mit hohem Evidenzgrad mangelt. Die logopädische Behandlung dient dem möglichst langen Erhalt einer verständlichen Sprache sowie dem Erlernen von Schlucktechniken zur Senkung des Aspirationsrisikos. Eine professionelle Beratung und die Ausstattung mit adäquaten Hilfsmitteln führen zu einer deutlichen Erleichterung des Alltags der Patienten. Viele Patienten profitieren zudem von einer Sozialberatung hinsichtlich Pflegestufe, Sicherstellung der pflegerischen Versorgung und Antragsstellungen bei Behörden. Aufgrund der Schwere des Krankheitsbilds und die massiv verkürzte Lebenserwartung profitieren viele Patienten von einer psychologischen Betreuung. Der Atmungstherapeut ist ein extrem wichtiger Baustein des multiprofessionellen Teams, denn der optimalen Beatmungseinstellung kommt eine besonders bedeutsame Rolle zu.

Ernährung

Um dem prognostisch ungünstigen progredienten Gewichtsverlust entgegenzuwirken, werden häufig hochkalorische Trinknahrungen eingesetzt. Ob vor dem Hintergrund eines möglichen positiven Effekts einer Hypercholesterinämie eine fettreiche Diät erfolgen sollte oder ob Statine abgesetzt werden sollten, ist umstritten. Bei Patienten mit PEG wurde der Effekt einer hyperkalorischen Ernährung auf das Überleben in einer randomisierten kontrollierten Therapiestudie mit allerdings sehr geringer Patientenzahl und kurzem Beobachtungszeitraum belegt (Wills et al. 2014). Es existieren keine allgemein anerkannten Kriterien, zu welchem Zeitpunkt eine PEG angelegt werden sollte. In der Regel erfolgt diese, wenn der Gewichtsverlust trotz Etablierung einer hochkalorischen Diät nicht gestoppt werden kann oder wenn eine Aspirationsgefahr besteht. Letztere kann durch eine klinische und ggf. eine fiberendoskopische Schluckuntersuchung objektiviert werden. Neuere Methoden wie die „radiologically inserted gastrostomy“ (RIG) oder „per-oral image-guided gastrostomy“ (PIG) bieten gegenüber der bewährten PEG bei der ALS keine Vorteile (ProGas 2015).

Symptomatische Therapie

Nicht zuletzt aufgrund des Mangels an direkt krankheitsmodifizierenden Therapieoptionen kommt der symptomatischen Therapie der ALS eine sehr hohe Bedeutung zu. Durch eine optimale symptomatische Therapie kommt es nicht nur zu einer Verlängerung des Überlebens, sondern auch zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität der Patienten. Darüber hinaus ist eine gute symptomatische Therapie der nachfolgenden Symptome eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Etablierung der Beatmung.

Patienten mit starker Affektion des oberen Motoneurons leiden häufig an einer ausgeprägten Spastik , welche in erster Linie physiotherapeutisch behandelt wird. Für die Anwendung medikamentöser Substanzen wie z. B. Baclofen existiert kaum Evidenz, und der therapeutische Erfolg ist individuell höchst unterschiedlich. Auch für die Therapie von Muskelkrämpfen existiert keine ausreichende Evidenz, sodass viele verschiedene Substanzen wie Magnesium, Chininsulfat, Cannabinoide und diverse Antikonvulsiva in der klinischen Praxis anzutreffen sind. Die formal beste Evidenz existiert für die Wirksamkeit von Mexiletin (Weiss et al. 2016).

Schmerzen sind bei der ALS häufig anzutreffen und beruhen häufig auf immobilisationsbedingten Sekundärkomplikationen wie Arthrosen, Kontrakturen und Liegedruck, seltener auf direkt ALS-assoziierten neuropathischen Schmerzen. Sofern die Schmerzursache nicht kausal behandelt werden kann, erfolgt die Schmerztherapie in Ermangelung ALS-spezifischer Evidenz auf der Basis der WHO-Stufentherapie (WHO 1990) mit nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) bei leichten bzw. in Kombination mit schwachen oder starken Opiaten bei starken Schmerzen. Teilweise werden auch Kombinationen mit trizyklischen Antidepressiva oder Antikonvulsiva gewählt, insbesondere bei neuropathischen Schmerzen oder um andere Aspekte dieser Substanzen im Kontext der symptomatischen ALS-Therapie zu nutzen. Die Gefahr eines möglichen atemdepressiven Effekts von Opiaten wird häufig überschätzt. Insbesondere in Kombination mit einer NIV ist der Einsatz von Opiaten in Dosierungen, wie sie bei der ALS benötigt werden, bei starken Schmerzen in der Regel vertretbar.

Die optimale Behandlung von Speichelfluss und zähen Bronchialsekreten, psychiatrischen Symptomen wie Angst und Depression sowie die adäquate Berücksichtigung neuropsychologischer Auffälligkeiten ist für die Etablierung der Beatmung besonders wichtig und wird in diesem Kontext weiter unten diskutiert.

1 Respiratorische Insuffizienz bei ALS

Klinik der respiratorischen Insuffizienz

Früher oder später entwickeln alle ALS-Patienten durch die Beteiligung des Zwerchfells, der thorakalen und abdominellen Atemhilfsmuskulatur sowie der bulbären Muskulatur eine progrediente respiratorische Insuffizienz. Durch den schleichend-fortschreitenden Charakter der Erkrankung und die damit einhergehenden Adaptionsprozesse sind neben direkten Zeichen der Hypoventilation wie Ruhe- und Belastungsdyspnoe sowie Orthopnoe häufig auch indirekte, hyperkapnieassoziierte Zeichen anzutreffen, welche aufgrund ihres zumeist unspezifischen Charakters leicht fehlinterpretiert werden können.

Am häufigsten berichten Patienten dabei über eine vermehrte Tagesschläfrigkeit, die teilweise so stark ausgeprägt ist, dass Patienten kaum noch an Aktivitäten des täglichen Lebens teilnehmen können, wodurch die Lebensqualität massiv reduziert wird. Die Schilderung, dass Patienten neuerdings ein bis zwei, teilweise sogar mehrere Stunden Mittagsschlaf halten, ist typisch. Die Tagesschläfrigkeit kann dabei sowohl direkt durch eine tagsüber auftretende Hyperkapnie verursacht werden, häufiger ist sie jedoch Folge eines durch erhöhte CO2-Werte fragmentierten Nachtschlafs. In frühen Stadien der respiratorischen Insuffizienz können tagsüber noch normale CO2-Werte gemessen werden, während es nachts bereits durch die veränderte Bewusstseinslage und die Erschlaffung der Muskulatur zu massiven Hyperkapnien kommen kann. Vermittelt über CO2-Rezeptoren kommt es zur Aufwachreaktion (Arousal). Entsprechend berichten die betroffenen Patienten typischerweise über Durchschlafstörungen, wobei sie in der Regel die respiratorische Genese selbst nicht erkennen und keinen plausiblen Grund für das häufige Aufwachen angeben können. Letzteres bewirkt, dass tiefere Schlafstadien kaum erreicht werden. Die Anzahl der REM-Schlafphasen ist reduziert und die Schlafarchitektur insgesamt massiv gestört (Boentert et al. 2015). Ein derart veränderter Schlaf ist im Gegensatz zum physiologischen Schlaf nicht erholsam; die Patienten fühlen sich morgens „wie gerädert“. Die häufig als typisch angesehenen morgendlichen Kopfschmerzen werden allerdings nur von einer Minderheit der Patienten mit beginnender respiratorischer Insuffizienz berichtet. Viele Patienten berichten über Konzentrationsstörungen und depressive Verstimmung; auch Panikattacken werden nicht selten berichtet.

Viele der genannten Hyperkapniesymptome sind unspezifisch und können andere Ursachen haben. Dennoch sollte bei Neuauftreten solcher Beschwerden bei ALS-Patienten immer an eine respiratorische Ursache gedacht werden. Im Rahmen der Anamneseerhebung sollte nach hyperkapnieassoziierten Symptomen gefragt werden, da die Patienten selbst diese in der Regel nicht als krankheits- bzw. atmungsbedingt einordnen und von sich aus selten berichten. Als relativ zuverlässiger Prädiktor nächtlicher Hyperkapnien hat sich v. a. die Frage nach einem (vor der Erkrankung nicht praktizierten) Mittagsschlaf erwiesen.

Diagnostik der respiratorischen Insuffizienz und Zeitpunkt der NIV-Initiierung

Hinsichtlich der Frage, zu welchem Zeitpunkt eine NIV initiiert werden sollte, gibt es keine allgemein anerkannten Kriterien. Die Einleitung einer NIV sollte spätestens dann erfolgen, wenn klinische Symptome feststellbar sind, jedoch kann durch verschiedene diagnostische Methoden versucht werden, eine respiratorische Insuffizienz schon früher zu detektieren. Generell ist es ratsam, eine NIV bei gegebener Toleranz durch den Patienten möglichst früh im Krankheitsverlauf zu etablieren, da damit der Entwicklung belastender Hypoventilationssymptome vorgebeugt werden kann. Zudem ergibt sich der Vorteil, dass zu früheren Zeitpunkten in der Regel weniger die NIV-Etablierung erschwerende Zusatzsymptome vorliegen, was dem Patienten die Gewöhnung an die NIV erleichtert und zu einer verbesserten Compliance führt.

Hinsichtlich der verschiedenen zur Verfügung stehenden Methoden der respiratorischen Diagnostik hat sich herausgestellt, dass die Spirometrie häufig nicht gut mit der klinischen Symptomatik und den Blutgaswerten korreliert, dennoch ist sie als leicht durchführbarer Screening- und Verlaufsparameter sinnvoll. Typischerweise stellt sich bei zunehmender Schwäche der Atempumpe eine Restriktion mit erniedrigter Vitalkapazität ein (Kap. 4). Zu beachten ist, dass bei Patienten mit bulbärer Beteiligung die Lungenfunktionsprüfung mit Maske erfolgen muss, da bei Verwendung eines Mundstücks wegen des schwachen und unvollständigen Mundschlusses Luft entweicht, was zu falschen Messergebnissen führt.

Veränderungen der arteriellen Blutgase sind in der Regel erst deutlich später als Einschränkungen der Vitalkapazität zu beobachten. Zu beachten ist, dass normale Werte im Rahmen einer einmaligen Messung am Tag eine therapierbedürftige respiratorische Insuffizienz nicht ausschließen, da erste Veränderungen wie dargestellt zunächst intermittierend in der Nacht auftreten. Wenn bereits die Blutgasanalyse (BGA) am Tag pathologische Veränderungen offenbart, liegt meist bereits eine fortgeschrittene respiratorische Insuffizienz vor. Während der O2-Partialdruck häufig normal oder nur geringfügig erniedrigt ist, zeigen sich mit zunehmender Beeinträchtigung teilweise deutlich erhöhte CO2-Partialdrücke. Patienten, bei welchen eine adäquate respiratorische Diagnostik und der rechtzeitige Beginn einer NIV versäumt wurden, weisen nicht selten pCO2-Werte von >50 mmHg oder sogar >60 mmHg auf, wobei die betroffenen Patienten durch die langsam-schleichende Entwicklung der respiratorischen Insuffizienz und die damit einhergehenden Adaptionsprozesse weniger klinische Symptome zeigen, als es aufgrund der z. T. massiv erhöhten Werte zu erwarten wärd. Nichts desto trotz verschafft der Beginn einer NIV in solchen Situationen den Patienten eine große Erleichterung.

Zur Detektion intermittierender nächtlicher Hyperkapnien hat sich die nächtliche Kapnographie bewährt, welche darüber hinaus gegenüber der invasiven einmaligen BGA am Tag den Vorteil der Nichtinvasivität bietet. Für die klinische Routinediagnostik bei neuromuskulären Erkrankungen ist diese Methode ausreichend genau. Wenn die nächtliche Kapnographie mit anderen diagnostischen Parametern im Sinne einer Polygraphie oder Polysomnographie kombiniert wird, ergeben sich weitere nützliche Zusatzinformationen. Während des Nachtschlafs zeigen sich typischerweise sukzessiv ansteigende CO2- und abfallende O2-Werte, eine erhöhte Atemfrequenz, häufige Aufwachreaktionen und eine Störung der Schlafarchitektur mit Verringerung und Verkürzung von tiefen und REM-Schlafphasen sowie einer Vermehrung von leichten Schlaf- und Wachphasen. Diese Veränderungen sind häufig bereits in den ersten Nächten nach Etablierung einer NIV reversibel (Boentert et al. 2015). Nicht selten zeigen sich aufgrund des im Rahmen der Erkrankung reduzierten Muskeltonus zudem die typischen Befunde eines obstruktiven Schlafapnoesyndroms.

Die aktuellen Leitlinien der European Federation of Neurological Societies (EFNS) empfiehlt den Beginn einer NIV, wenn wenigstens eines der folgenden Kriterien erfüllt ist:

  • forcierte Vitalkapazität (FVC) < 80 %,

  • Sniff Nasal Inspiratory Pressure (SNIP) < 40 cmH2O,

  • signifikante nächtliche Entsättigung oder pCO2 > 45 mmHg in der morgendlichen Blutgasanalyse.

Eine rezente placebokontrollierte Studie an 54 Patienten (Jacobs et al. 2016) erbrachte Hinweise darauf, dass auch Patienten mit leichterer respiratorischer Insuffizienz, die o. g. Kriterien noch nicht erfüllen, bereits von einer NIV profitieren können, da sich in der Verumgruppe ein langsamerer nachfolgender Abfall der FVC ergab; die Patienten der Placebogruppe erhielten in dieser Studie eine Beatmung mit einem sehr niedrigen Beatmungsdruck von 4 cmH2O (entsprechend etwa 3 mmHg). Eine retrospektive Studie an 194 Patienten ergab zudem Hinweise auf ein verbessertes Überleben von Patienten mit einer früheren (d. h. FVC > 80 %) NIV-Initiierung (Vitacca et al. 2018).

2 NIV bei ALS

2.1 Allgemeine Prinzipien

Die NIV-Therapie bietet ALS-Patienten mit respiratorischer Insuffizienz zahlreiche Vorteile, welche jedoch im Rahmen einer ausführlichen Aufklärung dargelegt werden müssen, da viele ALS-Patienten „lebensverlängernden Maßnahmen“ oder „künstlicher Beatmung“ grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Dies beruht jedoch nicht selten auf ungenauen oder gänzlich falschen Vorstellungen bezüglich Zweck und Durchführung der NIV.

Zunächst gilt es zu erklären, dass die NIV zwar zweifellos einen lebensverlängernden Effekt mit sich bringt, ihre Etablierung jedoch auch und v. a. einer Verbesserung der Lebensqualität durch Linderung der oben beschriebenen Hypoventilationssymptome dient. Durch das verbesserte Allgemeinbefinden und die reduzierte Tagesschläfrigkeit erhalten viele Patienten wieder die Möglichkeit, trotz ihrer körperlichen Einschränkungen aktiv am sozialen Leben teilzunehmen. Viele Patienten befürchten zudem durch die NIV eine Immobilisierung und Abhängigkeitssituation; diesbezüglich gilt es zu betonen, dass die Beatmung mit mobilen, transportablen Geräten durchgeführt wird und dass es sich um ein nichtinvasives Verfahren handelt, wobei Frequenz und Dauer der Anwendungen grundsätzlich vom Patienten selbst kontrolliert werden können. Durch die positiven Effekte auf hyperkapnieassoziierte respiratorische Symptome ist in der Mehrzahl der Fälle deshalb keine vermehrte Immobilisierung die Folge, sondern im Gegenteil eine Steigerung des Aktivitätsniveaus möglich.

Weiterhin sollte der Patient darüber informiert werden, dass die positiven Effekte der Therapie nur bei regelmäßiger und ausreichend langer Anwendung der Beatmung eintreten und dass die NIV-Therapie darüber hinaus einem prophylaktischem Zweck dient, sodass eine Anwendung auch dann sinnvoll ist, wenn der Patient gerade keine direkten respiratorischen Beschwerden verspürt. Das Wissen um den Sinn und die positiven Effekte der Beatmung fördert die Compliance des Patienten, diese wiederum ist maßgeblich für den therapeutischen Erfolg (Aboussouan et al. 1997).

2.2 Technische Voraussetzungen und Beatmungsparameter

Die Heimbeatmung bei ALS erfolgt über ein für die Langzeitbeatmung zugelassenes Heimbeatmungsgerät über eine Nasen- oder Mund-Nasen-Maske. CPAP-Geräte sind für die Beatmung von ALS-Patienten grundsätzlich nicht geeignet. Die Beatmung erfolgt mit normaler Raumluft. Während in Krisensituationen die Zuführung von Sauerstoff über das Heimbeatmungsgerät sinnvoll sein kann, ist die Applikation von reinem Sauerstoff bei ALS zur Langzeittherapie absolut kontraindiziert. Da sich die CO2-Rezeptoren durch den langsam-schleichenden CO2-Anstieg im Blut häufig an höhere Werte adaptiert haben und der pH-Wert durch metabolische Kompensationsmechanismen in der Regel nicht verändert ist, stellt die Verminderung des O2-Partialdrucks im Blut über O2-Rezeptoren den einzig relevanten Atemantrieb für ALS-Patienten dar. Wird dieser durch O2-Gabe reduziert, droht eine unter Umständen tödliche CO2-Narkose. Erschwerend kommt hinzu, dass die Empfindlichkeit des Atemzentrums gegenüber einem Anstieg des CO2-Partialdrucks (zentrale Rezeptoren im Hirnstamm) mit zunehmendem O2-Partialdruck sinkt.

Mund-Nasen-Masken bieten gegenüber Nasenmasken insbesondere bei Patienten mit ausgeprägter bulbärer Beteiligung den Vorteil, dass während der Beatmung keine Luft durch den Mund entweicht. ALS-Patienten sollten daher nach Möglichkeit mit einer Mund-Nasen-Maske versorgt werden. Auf der anderen Seite bieten Nasenmasken für die meisten Patienten einen größeren Komfort und ermöglichen eine bessere Kommunikation. Hier muss individuell ein Kompromiss zwischen Beatmungseffektivität und Lebensqualität gefunden werden. Es kann z. B. sinnvoll sein, tagsüber eine Nasen- und nachts eine Mund-Nasen-Maske zu benutzen. Wenn es trotz durchgehender Beatmung mit einer Nasenmaske zu einer Verschlechterung der Blutgaswerte und der respiratorischen Symptomatik kommt, sollte insbesondere bei bulbären Patienten daran gedacht werden, dass mit einer Mund-Nasen-Maske die respiratorische Situation möglicherweise noch stabilisiert werden kann.

Hinsichtlich der Frage, wie oft und wie lang eine NIV bei ALS angewandt werden sollte, gibt es kaum evidenzbasierte Daten, sodass sich die Beatmungszeiten in der klinischen Praxis hauptsächlich an den individuellen Bedürfnissen, klinischen Symptomen und den oben beschriebenen diagnostischen Parametern orientieren. Um den Patienten mit der ungewohnten Situation einer geräteunterstützten Beatmung vertraut zu machen, ist es sinnvoll, zunächst kürzere Beatmungsphasen tagsüber unter Aufsicht eines Arztes oder Atmungstherapeuten durchzuführen. Da frühe intermittierende Hyperkapnien in der Regel nachts auftreten, ist die Etablierung einer nächtlichen Beatmung in frühen Stadien einer respiratorischen Insuffizienz zunächst ein sinnvolles Ziel, das jedoch aufgrund verschiedener erschwerender Faktoren bei ALS-Patienten nicht immer sofort erreicht werden kann. Im weiteren Verlauf wird mit zunehmender respiratorischer Insuffizienz eine Ausdehnung der Beatmungszeiten erforderlich. Zunächst ist dabei meist eine Anwendung für wenige Stunden am Tag ausreichend, bevor in späteren Krankheitsstadien bis zu 24-stündige Beatmungszeiten erreicht werden. Durch regelmäßiges Monitoring der klinischen Beschwerden und der Blutgase kann kontrolliert werden, ob die aktuellen Beatmungszeiten ausreichend sind.

Auch hinsichtlich zu empfehlender Beatmungseinstellungen existieren kaum evidenzbasierte Daten. Generell richten sich die Beatmungsparameter nach den physiologischen Werten und den individuellen Bedürfnissen des Patienten, wobei die Rückmeldung des Patienten, ob die Beatmungseinstellungen als angenehm oder unangenehm empfunden werden, den wichtigsten Gradmesser darstellt. Durch fortlaufende Rückmeldungen und entsprechende Adjustierungen ist es auf diese Weise möglich, sich nach und nach an die individuell optimalen Beatmungsparameter heranzutasten, was gleichsam eine bestmögliche Compliance gewährleistet.

Eine Studie zeigte keinen Unterschied im Überleben im Vergleich von druck- zu volumenkontrollierter Beatmung (Sancho et al. 2014), allerdings hat sich die assistierte druckkontrollierte Beatmung („assisted pressure controlled ventilation“, aPCV) im klinischen Alltag bewährt. Diese kann um eine Zielvolumensteuerung ergänzt werden, bei der ein inspiratorischer Minimal- und ein Maximaldruck definiert werden. Der inspiratorische Minimaldruck definiert einen Grenzwert, der niemals unterschritten wird. Wird das frei definierbare, voreingestellte Zielvolumen nicht erreicht, kann der Druck bis zum Maximalbeatmungsdruck gesteigert werden. Durch regelmäßige Überprüfung des erreichten Zielvolumens und der hierfür erforderlichen Drücke erhält der behandelnde Arzt eine zuverlässige Rückmeldung über die Beatmungssituation des Patienten.

Im Gegensatz zu vielen primär pulmologischen Erkrankungen benötigen ALS-Patienten, falls keine zusätzlichen pulmologischen Komplikationen vorliegen, in der Regel nur geringe Beatmungsdrücke und einen geringen positiven endexpiratorischen Druck („positive endexpiratory pressure“, PEEP), wobei recht große interindividuelle Unterschiede zu verzeichnen sind. Beatmungsdrücke von <10 mbar und ein PEEP nahe 0 mbar sind jedoch keine Seltenheit.

Die Atemfrequenz befindet sich in der Regel im physiologischen Spektrum und wird entsprechend der Rückmeldungen des Patienten mit dem Ziel eines maximalen Komforts adjustiert. Das Beatmungsgerät ermöglicht weitere Einstellungsmöglichkeiten wie Steilheit des Druckanstiegs oder Dauer von Inspirations- und Exspirationsphasen, mit deren Hilfe der Beatmungskomfort für den Patienten entsprechend der individuellen Bedürfnisse weiter erhöht werden kann. Auch hier gilt das Prinzip, sich zunächst an physiologischen Werten zu orientieren und eine sukzessive individuelle Anpassung vorzunehmen. Die Einstellung einer Triggerfunktion für spontan getriggerte Beatmungshübe ist aufgrund der atemmuskulären Schwäche sinnvoll. Allerdings sollte eine Fehltriggerung von Beatmungshüben aufgrund zu sensibler Triggereinstellungen vermieden werden.

Im weiteren Verlauf der Erkrankung kommt es nicht selten vor, dass im Zuge der progredienten respiratorischen Verschlechterung die Beatmungseinstellungen sukzessive weiter angepasst werden müssen, z. B. durch Erhöhung des Beatmungsdrucks. Im Fall von respiratorischen Komplikationen wie beispielsweise einer Aspirationspneumonie kann dies auch akut erforderlich werden.

Der Erfolg oder Misserfolg der NIV-Therapie hängt ganz wesentlich davon ab, wie gut der Patient an die Beatmung adaptiert wurde. Eine gut etablierte NIV-Therapie darf deshalb nicht durch Umstellung auf ein anderes Beatmungsgerät gefährdet werden, wie teilweise von Kostenträgern aus wirtschaftlichen Gründen erwünscht.

2.3 Effekte auf Überleben und Lebensqualität

Aufgrund der Tatsache, dass es heute ethisch nicht mehr zulässig ist, eine randomisierte, kontrollierte klinische Studie beatmeter versus nichtbeatmeter Patienten durchzuführen, müssen zur Beantwortung der Frage, ob und in welchem Ausmaß eine NIV das Überleben von ALS-Patienten verlängert, ältere Publikationen zu Rate gezogen werden. In der wegweisenden Studie von Bourke et al. aus dem Jahr 2006 zeigte sich ein verlängertes Überleben von 7 Monaten. Als eine wesentliche Limitation der Studie muss die geringe Patientenzahl (n = 41) angeführt werden. Zudem ist davon auszugehen, dass durch die verbesserten technischen und diagnostischen Bedingungen sowie der verbesserten Versorgungsstrukturen für beatmete Patienten der Überlebensvorteil heute noch größer ist. Dementsprechend ergab eine neuere Studie an einer deutlich größeren Patientenzahl (n = 929) einen Überlebensvorteil von 13 Monaten für NIV-Patienten (Berlowitz et al. 2015), allerdings handelt es sich hierbei um eine retrospektive Erhebung. Darüber hinaus konnte auch gezeigt werden, dass eine NIV-Therapie die Verschlechterung der Lungenfunktion verzögert (Kleopa et al. 1999).

In der erstgenannten Studie (Bourke et al. 2006) konnte zudem auch eine verbesserte Lebensqualität nachgewiesen werden, gemessen anhand einer allgemeinen und einer schlafbezogenen Lebensqualitätsskala. Der äußerst positive Effekt der NIV-Therapie auf Blutgasparameter, Lebensqualität und Hypoventilationssymptome bei ALS-Patienten konnte in der Folge mehrfach überzeugend reproduziert werden. Polysomnographische Studien zeigen u. a. eine Verbesserung von O2-Sättigung, CO2-Partialdruck, Apnoe-Hypopnoe-Index (Boentert et al. 2015) und damit einhergehend von Schlafqualität, Tagesmüdigkeit, Depression (Butz et al. 2003) und Lebensqualität (Mustfa et al. 2006). Die beobachteten positiven Effekte sind dabei nicht nur vorübergehender Natur, sondern halten über mehrere Monate an (Butz et al. 2003), bis schließlich die respiratorische Situation durch die NIV nicht mehr kompensiert werden kann.

Während die Verbesserung der Lebensqualität bei allen Patienten nachweisbar war, konnten Bourke et al. den lebensverlängernden Effekt bei bulbären Patienten nicht nachweisen (Bourke et al. 2006). Während Einigkeit darüber herrscht, dass Patienten mit starker bulbärer Beteiligung aus verschiedenen Gründen schlechter mit einer NIV therapiert werden können, erscheint dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der Limitationen und neuerer, wenn auch retrospektiver Studien (Berlowitz et al. 2015) allerdings zweifelhaft. In diesem Zusammenhang ist die optimale Therapie NIV-limitierender Symptome bei bulbären Patienten entscheidend. Ein Therapieversuch mittels intensivierter symptomatischer Therapie in Kombination mit einer NIV erscheint in jedem Fall auch bei Patienten mit ausgeprägter bulbärer Beteiligung gerechtfertigt, bevor eine IV erwogen werden muss.

2.4 Erschwerende Faktoren und Compliance

Da es sich bei der ALS um eine komplexe Multisystemerkrankung mit einer Vielzahl möglicher komplizierender Faktoren handelt (Abschn. 13.2.1), gestaltet sich die Etablierung einer NIV zumeist deutlich schwieriger als bei Patienten mit pulmologischen Krankheitsbildern. Daher ist gerade in komplizierten Fällen zumeist die Anpassung im Rahmen eines mehrtägigen stationären Aufenthalts notwendig. Steht ein erfahrenes, multiprofessionelles ALS-Team zur Verfügung, kann die Anpassung möglicherweise auch im ambulanten Rahmen gelingen (Bertella et al. 2017), allerdings sind solche Strukturen aktuell in Deutschland kaum vorhanden.

Erfolgt die Anpassung im stationären Setting, muss die Zeit in erster Linie dazu genutzt werden, eine bestmögliche Compliance herzustellen. Wenn der Patient aufgrund von Störfaktoren die Beatmung als lästig und unangenehm empfindet, können zumeist keine ausreichende Beatmungszeiten erreicht werden, um die genannten positiven Effekte zu erzielen, was zu einer weiteren Verschlechterung der Compliance führt.

Neuropsychologische Defizite, frontotemporale Demenz und Panikattacken

Wegen der pathophysiologischen und genetischen Überlappung der Krankheitsbilder ALS und FTD ist es nicht verwunderlich, dass 5–10 % der ALS-Patienten eine FTD entwickeln. Darüber hinaus zeigt ein weitaus größerer Anteil Symptome einer FTD wie z. B. Verhaltensauffälligkeiten, welche jedoch noch nicht die Kriterien einer Demenz erfüllen. Eine vorliegende FTD beeinflusst die Durchführbarkeit einer NIV erheblich. So konnte gezeigt werden, dass Patienten mit neuropsychologischen Veränderungen eine reduzierte Compliance und Überleben unter NIV aufweisen (Chio et al. 2012). Insbesondere die Etablierung einer NIV ist häufig mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, weshalb diese Patienten in besonderem Maße von einem hochspezialisierten, multidisziplinären Setting profitieren (Volanti et al. 2011). Bei fortgeschrittener FTD ist die Anpassung einer NIV teilweise nicht möglich; allerdings erscheint die vereinzelt vertretene Auffassung, dass der Versuch einer NIV-Etablierung bei FTD-Patienten grundsätzlich keinen Sinn macht, nicht gerechtfertigt, da bei Konformität der Therapie mit dem Patientenwillen ethische Erwägungen gegen diese Auffassung sprechen und die klinische Praxis schon Gegenbeispiele aufgezeigt hat. Allerdings erfordern solche Patienten eine sehr intensive Zuwendung und eine erfolgreiche NIV-Anpassung ist in der Regel zeitaufwändig und schwierig.

Nicht verwechselt werden dürfen Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen einer FTD mit dem Phänomen des sog. pathologischen Lachens und Weinens , welches auch bei nichtdementen ALS-Patienten häufig vorkommt und nicht zwingend mit neuropsychologischen Defiziten assoziiert ist. Vielmehr handelt es sich um ein emotionales Enthemmungsphänomen, vergleichbar mit den motorischen Enthemmungsphänomenen bei einer Schädigung des oberen Motoneurons. Bei diesen Patienten reichen bereits kleinere Reize aus, um eine überschießende und lang anhaltende Reaktion des Lachens oder Weinens auszulösen. Diese Verhaltensweisen entsprechen in der Regel nicht dem tatsächlichen Befinden der Patienten, welche sich der Außenwirkung voll bewusst sind und dieses Phänomen daher häufig als sehr störend und unangenehm empfinden. Pathologisches Lachen und Weinen kann erfahrungsgemäß sehr zuverlässig und effektiv mit Serotoninwiederaufnahmehemmern wie z. B. Citalopram oder Sertralin behandelt werden.

Ein Teil der Patienten leidet im Rahmen der NIV-Therapie unter Panikattacken. Dies betrifft teilweise auch Patienten ohne kognitive Defizite. Das Spektrum reicht hierbei von generalisierten Angststörungen über Klaustrophobie bis hin zu Erstickungsängsten, die häufig damit assoziiert sind, dass Patienten mit vollständiger Lähmung der oberen Extremitäten nicht in der Lage sind, die Maske notfalls selbstständig abzulegen. Hier kann es zunächst hilfreich sein, kürzere Gewöhnungsphasen in Anwesenheit einer betreuenden Person, wie z. B. eines Angehörigen, einer Pflegekraft oder eines Atmungstherapeuten, durchzuführen. Zum Teil verschwinden die Angstzustände mit zunehmender Gewöhnung an die Therapie. Auch die Aufklärung des Patienten über die Funktionsweise des Beatmungsgerätes und der Alarmfunktionen kann in diesem Zusammenhang hilfreich sein. Sollten sich durch diese Maßnahmen die Panikattacken nicht beheben lassen, empfiehlt sich der Einsatz niedrig dosierter Benzodiazepine oder Opiate. Wegen der möglichen atemdepressiven Wirkung sollten diese Substanzen vorsichtig eingesetzt und ihr Einsatz von einem erfahrenen Arzt überwacht werden. Die EFNS-Leitlinien empfehlen für die beschriebenen Situationen die Applikation von sublingualem Lorazepam in einer Dosierung von 0,5 mg 2- bis 3-mal täglich zur Beatmung (Andersen et al. 2012).

Speichelfluss

Die NIV -Etablierung bei Patienten mit ausgeprägter bulbärer Beteiligung stellt eine große Herausforderung dar. Sowohl dünnflüssiger Speichels, der aufgrund der Bulbärparalyse nicht in ausreichenden Mengen heruntergeschluckt werden kann und in die Maske läuft, als auch zähes Bronchialsekret, das in Kombination mit der Beatmungsmaske zu Erstickungssensationen führen kann, vermindern die Compliance des Patienten und verschlechtern die Prognose (Peysson et al. 2008). Solche Patienten können daher in der Regel nur dann erfolgreich an eine NIV adaptiert werden, wenn diese Symptome ausreichend gut behandelt werden. Darüber hinaus führt ein optimales Sekretmanagement auch zu einer reduzierten Aspirationsgefahr von Speichel und zu einer besseren Belüftung der Lunge, wodurch das Risiko von Aspirationspneumonien erheblich reduziert wird. Die Bedeutung des Sekretmanagements bei ALS-Patienten kann daher nicht genug betont werden. Gerade in späteren Krankheitsstadien ist das Sekretmanagement äußerst pflegeintensiv. Beide Sekretarten, insbesondere das zähe Tracheobronchialsekret, zeigen sich in der Regel äußerst therapieresistent gegenüber einer medikamentösen Therapie.

Zur Behandlung des Speichelflusses werden, obwohl es keine randomisierten kontrollierten klinischen Studien gibt, in erster Linie Anticholinergika eingesetzt, welche zu einer Reduktion der Speichelproduktion in den Speicheldrüsen führen. Lokal applizierbare Substanzen wie z. B. Socopolamin-Pflaster bieten dabei den Vorteil geringer systemische Nebenwirkungen bis auf eine bei Auftreten oft therapielimitierende Eindickung des Bronchialsekrets sowie allergische Hautreaktionen. Socopolamin-Pflaster können ein- oder beidseitig über den Ohrspeicheldrüsen aufgeklebt werden; der Wechsel erfolgt in der Regel alle 3 Tage. Leider werden nicht selten allergische Hautreaktionen beobachtet.

Die Nutzung der anticholinergen Wirkung von Amitriptylin empfiehlt sich insbesondere dann, wenn gleichzeitig eine antidepressive Therapie erwünscht ist. Atropin-Tropfen bieten den Vorteil, dass die optimale Dosierung gut titriert werden kann, und auch Pirenzepin wird regelmäßig in der klinischen Praxis eingesetzt.

Die Anwendbarkeit anticholinerger Substanzen wird jedoch durch ihr erhebliches Nebenwirkungsspektrum limitiert. Nicht selten klagen Patienten über Müdigkeit, Konzentrationsstörungen und kognitive Defizite, sodass der Einsatz insbesondere bei Patienten mit vorbestehender FTD sorgfältig abgewogen werden muss. Bei solchen Patienten kann der Einsatz von Glycopyrroniumbromid, welches weniger zentralnervöse Nebenwirkungen verursacht, sinnvoll sein.

Ist durch eine orale oder transdermale anticholinerge Therapie kein ausreichender Therapieeffekt zu erzielen, können invasivere Maßnahmen erwogen werden. In erster Linie hat sich hierbei der Einsatz von Botulinumtoxin bewährt, dessen Wirksamkeit im Gegensatz zu den nichtinvasiven Optionen relativ gut belegt ist. In einer placebokontrollierten, doppelblinden Studie mit 20 Patienten zeigte sich eine Ansprechrate von 82 % (Placebo 38 %, p < 0,05; Jackson et al. 2009) nach bilateraler Injektion von Botulinumtoxin B in die Ohr- und Unterkieferspeicheldrüsen. Botulinumtoxin A und B haben sich als etwa gleich effektiv erwiesen (Guidubaldi et al. 2011), allerdings zeigte Botulinumtoxin B in der gleichen Studie eine kürzere Latenz bis zum Wirkungseintritt bei geringeren Kosten und gleicher Wirkdauer. Die Injektion von Botulinumtoxin in die Speicheldrüsen wird in der Regel gut vertragen; in der Literatur wird über eine Verschlechterung der Schluckfunktion bei einem Teil der Patienten berichtet (Winterholler et al. 2001), eine Affektion des N. facialis ist hingegen sehr selten. Bei Überdosierung kann es zu einer Mundtrockenheit kommen, die für Patienten häufig belastender ist als der zuvor bestehende Speichelfluss. Da die Schwelle zur (subjektiven) Mundtrockenheit individuell unterschiedlich ist, empfiehlt es sich, mit geringeren Dosierungen zu beginnen und im Rahmen späterer Injektionen die Dosis ggf. zu steigern. Neben der Invasivität ist ein Nachteil der Therapie, dass der Effekt nur einige Wochen bis wenige Monate anhält, sodass die Injektionen in regelmäßigen Abständen wiederholt werden müssen. Der genaue zeitliche Abstand ist individuell unterschiedlich und richtet sich nach der Symptomatik der Patienten; grundsätzlich sollte nach Möglichkeit aber ein Abstand von mindestens 2–3 Monaten eingehalten werden, da ein kürzerer Abstand möglicherweise die Bildung von Botulinumtoxinantikörpern induzieren kann; evidenzbasierte Daten fehlen hierzu allerdings.

Wegen der Invasivität, fehlenden Reversibilität und schwacher Evidenz ist die Radiotherapie schweren therapierefraktären Situationen vorbehalten. Hinweise auf die Wirksamkeit liefern bisher lediglich kleinere Fallserien (Guy et al. 2011), auch wenn diese überwiegend gute Ansprechraten zwischen 65 % und 100 % zeigen. Eine Metaanalyse mit 216 Patienten ergab eine Ansprechrate von 81 %, allerdings auch eine kurzfristige Toxizität in 40 % und eine langfristige Toxizität in 12 % der Patienten (Hawkey et al. 2016). Wenn es im Zuge der Radiotherapie zu einer Mundtrockenheit kommt, ist diese im Gegensatz zur Botulinumtoxintherapie irreversibel und praktisch nicht therapierbar.

Zähe Tracheobronchialsekrete

In der klinischen Praxis stellen zähe Tracheobronchialsekrete eines der schwierigsten und therapierefraktärsten Probleme bei beatmeten ALS-Patienten dar. Sie unterscheiden sich klinisch und pathophysiologisch von dünnflüssigem Speichel. Die Patienten berichten über einen quälenden Hustenreiz bis hin zu einem Erstickungsgefühl, wodurch das zähe Sekret eines der am meisten belastenden Symptome bei ALS darstellt. Anamnestisch und klinisch müssen beide Sekretformen voneinander unterschieden werden, da sie nicht auf die gleiche Weise therapiert werden können. Vielmehr führen die genannten Therapien zur Reduktion des Speichelflusses zu einer verstärkten Zähigkeit der Bronchialsekrete, sodass diese noch schwerer aus den Atemwegen entfernt werden können.

Wenn zähes Sekret im Vordergrund der Symptomatik steht, sollte den Patienten zu einer vermehrten Flüssigkeitsaufnahme geraten werden, um das Sekret dünnflüssiger und leichter abhustbar zu machen. Gleichermaßen sollte bei Patienten mit bestehender PEG die Flüssigkeitsgabe über die PEG erhöht werden. Auch die Anfeuchtung der Raumluft bzw. des Atemgases durch Befeuchtungssysteme im Beatmungssystem kann einen positiven Effekt zeigen. Patienten sollten zudem über die Wichtigkeit einer sorgfältigen Mundpflege informiert werden.

Medikamentöse Therapieversuche zeigen hingegen erfahrungsgemäß kaum Wirkung, und es existiert diesbezüglich zudem kaum nennenswerte Evidenz. In der klinischen Praxis werden Mukolytika wie N-Acetylcystein und Guaifenesin, β-Rezeptorantagonisten wie Metoprolol und Propranolol (Newall et al. 1996) und Bronchodilatatoren wie Ipratropium und Theophyllin mit wechselndem, aber zumeist unbefriedigendem Erfolg eingesetzt. Die Leitlinien der EFNS und NICE (National Institute for Health and Care Excellence) empfehlen zudem Inhalationen mit Salinen, anticholinergen Bronchodilatatoren oder Furosemid (Andersen et al. 2012).

Zumeist ist es daher erforderlich, die zähen Sekrete mechanisch durch den Einsatz von Hustenassistenten (Sancho et al. 2004) und Absauggeräten zu entfernen. Liegt eine massive Sekretproblematik vor, empfiehlt es sich, das Sekret vor einer Beatmungssitzung mittels mechanischer Hilfsmittel möglichst vollständig aus den oberen Luftwegen zu entfernen. Die Toleranz der Geräte ist in der Regel gut, und respiratorische Parameter werden durch ihre Anwendung verbessert (Winck et al. 2004).

Sind trotz Ausschöpfung der genannten Maßnahmen die Sekrete nicht ausreichend kontrollierbar, kann eine NIV-Therapie häufig nicht adäquat durchgeführt werden, sodass eine IV diskutiert werden muss.

PEG-Anlage und NIV

Nicht selten liegt in der klinischen Praxis die Situation vor, dass ein Patient gleichzeitig eine NIV als auch eine PEG benötigt. Nur selten treten bulbäre Symptome und die respiratorische Insuffizienz zeitgleich auf, allerdings werden manchmal die Entscheidungen zur Durchführung der beiden Maßnahmen vom Patienten verschleppt, insbesondere bei unzureichender oder verspäteter Aufklärung durch den betreuenden Arzt. Wie bereits dargestellt, sollte eine NIV frühzeitig im Krankheitsverlauf etabliert werden – spätestens dann, wenn klinische Zeichen der respiratorischen Insuffizienz vorliegen. Auch die Anlage einer PEG ist in früheren Krankheitsstadien sicherer und sollte erwogen werden, wenn eine progrediente Gewichtsabnahme oder eine Dysphagie mit Aspirationsgefahr vorliegt. Die EFNS-Leitlinien empfehlen generell eine frühe Gastrostomie und erwähnen bulbäre Symptome, Malnutrition mit einem Gewichtsverlust von >10 % der Körpergewichts, respiratorische Insuffizienz und den Allgemeinzustand des Patienten als Faktoren, welche hinsichtlich des Zeitpunkts der PEG-Anlage berücksichtigt werden sollten (Andersen et al. 2012).

Ist eine zeitnahe Abfolge beider Maßnahmen nicht zu vermeiden, empfiehlt es sich, zuerst eine stabile NIV zu etablieren, da dies das Risiko von Komplikationen während der PEG-Anlage reduziert. Früher wurde die teilweise immer noch in einigen Leitlinien zu findende Meinung vertreten, dass eine PEG-Anlage bei Patienten mit einer Vitalkapazität <50 % nicht mit ausreichender Sicherheit durchgeführt werden kann (Miller et al. 2009). Neuere Studien haben diese Ansicht widerlegt (Dorst et al. 2015) und gezeigt, dass eine PEG-Anlage auch bei Patienten mit fortgeschrittener respiratorischer Insuffizienz mit einer äußerst geringen Komplikationsrate möglich ist. Als äußerst vorteilhaft haben sich in diesem Zusammenhang spezielle Maskensysteme erwiesen, die es ermöglichen, die Gastrostomiegeräte durch Aussparungen in der Maske einzuführen und so die PEG-Anlage unter NIV durchzuführen (Czell et al. 2013). Eine Intubationsnarkose mit der Gefahr, dass eine postinterventionelle Umstellung vom Beatmungstubus auf eine NIV nicht mehr gelingt, kann somit vermieden werden.

Sonstige erschwerende Faktoren

Weitere Faktoren, welche die Etablierung einer NIV erschweren können, sind Beeinträchtigung des Schlafs durch die Geräuschentwicklung, unkomfortable Sensationen durch den Beatmungsdruck, Mundtrockenheit und v. a. Druckstellen durch die Beatmungsmasken (Baxter et al. 2013). Durch eingehende Aufklärung über die langfristigen positiven Effekte der NIV, Etablierung geeigneter Befeuchtungs- und Maskensysteme sowie kontinuierliche professionelle ärztliche und atmungstherapeutische Betreuung lassen sich die meisten dieser Probleme im Laufe der Zeit jedoch lösen.

3 Invasive Beatmung bei ALS

Nur relativ wenig ALS-Patienten (in Deutschland ca. 5–10 %) entscheiden sich im Verlauf des Krankheitsprozesses für eine Tracheotomie, obwohl diese Beatmungsform das Überleben massiv, teilweise um viele Jahre, verlängert (Spataro et al. 2012). Der Grund dafür ist, dass sich viele Patienten nicht vorstellen können, in den späten, durch die IV erreichten Krankheitsstadien, welche dem klinischen Bild eines Locked-In-Syndroms entsprechen, noch eine ausreichende Lebensqualität haben zu können. Allerdings sind diejenigen Patienten, welche sich für eine IV entscheiden, hinterher überwiegend mit dieser Entscheidung zufrieden, und nur selten wird eine frühe Beendigung der IV gewünscht. Zudem ist zu erwähnen, dass die Quoten sowohl für die Inanspruchnahme als auch eine evtl. Terminierung der IV im internationalen Vergleich von Land zu Land stark unterschiedlich ausfällt (Andersen et al. 2018), wobei kulturelle, religiöse, aber auch gesundheitspolitische Faktoren eine Rolle spielen.

Grundsätzlich sollten alle Patienten über die Möglichkeit einer IV aufgeklärt werden, spätestens wenn aufgrund der fortschreitenden respiratorischen Insuffizienz die Grenzen der NIV erreicht werden oder wenn aufgrund einer schweren Bulbär- und Sekretproblematik eine solche nicht etabliert werden kann. Der Patient sollte über den lebensverlängernden Effekt der Maßnahme informiert werden. Ebenso darüber, dass, wenn hierdurch die schwersten Krankheitsstadien der Erkrankung erreicht werden, sich die IV auch zu einem vom Patienten definierten Zeitpunkt beenden lässt. Der invasive Charakter, das Infektionsrisiko und die erheblichen Anforderungen an Pflege und soziale Unterstützung sollten angesprochen werden.

Patienten ohne schwere Bulbärsymptomatik können in der Regel auch mit einer invasiven Beatmung mittels Sprechkanülen verbal kommunizieren (Abschn. 8.3). Wenn es im weiteren Verlauf der Erkrankung zu einer Anarthrie kommt, ist in der Regel noch über einen längeren Zeitraum von Monaten bis einigen Jahren bei nicht dementen Patienten die Kommunikation über Kommunikatoren mit Augensteuerung möglich, da die Augenmuskeln meist erst sehr spät vom Krankheitsprozess erfasst werden (Kap. 23). Wenn auch die Augen nicht mehr bewegt werden können, ist eine Interaktion der Patienten mit ihrer Umwelt kaum noch möglich. Die meisten Patienten, welche sich für eine Tracheotomie entscheiden, definieren das Erreichen dieses Zustands als Zeitpunkt der Beendigung der IV, was unbedingt in Form einer schriftlichen Patientenverfügung fixiert werden sollte. Die Terminierung der IV führt fast immer innerhalb kurzer Zeit zum Tod und sollte hiermit vertrauten Ärzten und Kliniken vorbehalten bleiben.

Prinzipiell gelten für die IV die gleichen Prinzipien, welche in den entsprechenden Kapiteln zur NIV erläutert wurden. Es können dieselben Beatmungsgeräte verwendet werden, wenn eine Zulassung für die 24-stündige, lebenserhaltende Beatmung vorliegt. Nach Etablierung einer IV ist es im Falle einer vorbestehenden NIV häufig erforderlich, die Beatmungsparameter anzupassen. Daher sollten die Blutgasparameter insbesondere in den ersten Tagen engmaschig kontrolliert werden. Wenn eine NIV vorbestand, muss in der Regel der Beatmungsdruck reduziert werden, um eine Hyperventilation zu vermeiden. Zudem kommt es gerade in den ersten Tagen nach der Tracheotomie bei ALS-Patienten häufig zu einer massiven Sekretproduktion. Es empfiehlt sich daher, den ersten Kanülenwechsel bereits nach wenigen Tagen vorzunehmen, um eine Verlegung der Kanüle durch Sekret zu vermeiden.

Teilweise erfolgt eine Intubation mit nachfolgender Tracheotomie im Rahmen respiratorischer Komplikationen, wie z. B. einer Aspirationspneumonie. Nicht selten kommt es insbesondere bei sehr rasch progredienten Verläufen sogar vor, dass Patienten vor Diagnosestellung tracheotomiert werden. Solche Situationen stellen dann enorme Anforderungen an das behandelnde Team von Ärzten und Therapeuten hinsichtlich Diagnostik, Aufklärung der Patienten, Initiierung aller notwendigen therapeutischen Maßnehmen und Sicherstellung der Weiterversorgung. Maßnahmen, die normalerweise schrittweise und angepasst an den Krankheitsverarbeitungsprozess des Patienten erfolgen können, müssen in rascher Abfolge simultan abgewickelt werden. Nur äußerst selten ist es möglich, einen bereits intubierten ALS-Patienten im Stadium einer fortgeschrittenen respiratorischen Insuffizienz zu extubieren und auf eine NIV einzustellen, selbst wenn die auslösende Komplikation beseitigt wurde. Wiederholte erfolglose Extubationsversuche belasten den Patienten und sollten nach Möglichkeit vermieden werden; vielmehr gilt es, den Patienten und seine Angehörigen umfassend über die zugrundeliegende Erkrankung zu informieren, um die notwendigen weiteren Entscheidungen treffen zu können, was in der Regel einen Zeitraum von mehreren Wochen in Anspruch nehmen kann.

4 Respiratorische Komplikationen

Typisch für die ALS ist eine relativ gleichmäßige, kontinuierliche Verschlechterung der Paresen einschließlich der respiratorischen Insuffizienz. Wann immer eine akute Verschlechterung der Atemsituation eintritt, muss an pulmonale Komplikationen gedacht werden, zumal diese im Rahmen der ALS häufig sind. Daher muss im Falle einer akuten respiratorischen Verschlechterung umgehend eine Röntgen- oder CT-Diagnostik erfolgen, bei Hinweisen auf einen respiratorischen Infekt sind Blutkulturen und Trachealsekretkulturen anzulegen.

Aufgrund der Minderbelüftung der Lunge in Kombination mit einem oft erheblichen Aspirationsrisiko kommt es bei ALS-Patienten im Laufe der Erkrankung häufig zu Aspirationspneumonien, die aufgrund des zumeist erheblich geschwächten Allgemeinzustands der Patienten tödlich verlaufen können, sofern sie nicht sofort kalkuliert oder – nach Möglichkeit – antibiogrammgerecht behandelt werden. Ebenfalls relativ häufig anzutreffen sind Atelektasen, welche durch eine Kombination aus Husteninsuffizienz und Verlegung der Atemwege durch zähes Sekret oder aspirierte Nahrung entstehen können. Im Falle solcher respiratorischer Komplikationen ist es teilweise erforderlich, einen mechanischen Insufflator-Exsufflator einzusetzen oder die Beatmungsparameter einer vorbestehenden NIV oder IV durch Erhöhung des inspiratorischen Drucks und/oder PEEP anzupassen.

Wenn eine eigentlich gut etablierte nichtinvasive oder invasive Beatmungstherapie plötzlich nicht mehr ausreicht und die angestrebten Atemzugvolumina nicht mehr erreicht werden können, liegt sehr häufig eine akute Verlegung der Atemwege durch zähe Bronchialsekrete vor. Die Auskultation mit Nachweis nichtventilierter Lungenabschnitte kann hier einen schnellen und zuverlässigen Hinweis liefern. Durch intensiven Einsatz des mechanischen Insufflator-Exsufflators und Absaugen kann in der Mehrzahl der Fälle die Situation entschärft werden; selten kann auch eine bronchoskopische Intervention erforderlich sein.

Trotz der in der Regel erheblichen Immobilisierung der ALS-Patienten kommen tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien im klinischen Alltag relativ selten vor. Trotzdem sollte grundsätzlich auch an diese Möglichkeit gedacht und diese im Zweifel mittels CT ausgeschlossen werden. Im stationären Bereich erfolgt pragmatisch eine Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin. Der dauerhafte Einsatz von niedermolekularem Heparin in thromboseprophylaktischer Dosierung im häuslichen Bereich bei immobilisierten ALS-Patienten wird hingegen nicht standardmäßig durchgeführt.

5 Zwerchfellstimulation

Basierend auf nicht publizierten Daten einer US-Studie wurde 2008 die elektrische Zwerchfellstimulation („diaphragm pacing system “, DPS) für die Behandlung von ALS-Patienten mit respiratorischer Insuffizienz in den USA von der Food and Drug Association (FDA) zugelassen. In der Folge wurde das Verfahren auch in Europa stark beworben und auch in Deutschland wurden einige wenige Patienten operiert.

Laparoskopisch werden mehrere Elektroden an den Endästen des N. phrenicus im Bereich des Zwerchfells des Patienten befestigt, über welche postoperativ mit Hilfe eines externen Steuerungsgeräts elektrische Impulse appliziert werden können, wodurch eine kräftige Kontraktion des Zwerchfells induziert wird. Über einen Trainingseffekt soll auf diese Weise die Entwicklung der Atrophie und Schwäche des Zwerchfells verzögert und das Fortschreiten der respiratorischen Insuffizienz verlangsamt werden. Seitens der vertreibenden Firma (Synapse Biomedical, Oberlin, Ohio) wird eine Überlebensverlängerung propagiert. Darüber hinaus belegt eine Publikation eine verbesserte Schlafqualität bei Patienten mit DPS (Gonzalez-Bermejo et al. 2012).

Der angeblich lebensverlängernde Effekt der DPS konnte jedoch in randomisierten klinischen Studien nicht belegt werden. Vielmehr zeigte sich in einer britischen Studie ein kürzeres Überleben (−11,5 Monate) von Patienten mit DPS und NIV im Vergleich zu Patienten mit NIV allein (DiPALS 2015). In einer französischen Studie an Patienten mit beginnender respiratorischer Insuffizienz zeigte sich darüber hinaus, dass DPS gegenüber Patienten mit einer Scheinstimulation (letztere wurden operiert, aber nicht stimuliert) den Beginn der Erfordernis einer NIV-Therapie nicht verzögern kann, vielmehr trat die Beatmungspflichtigkeit signifikant früher ein (Gonzalez-Bermejo et al. 2016). Es zeigte sich darüber hinaus eine erhebliche periprozedurale Komplikationsrate von >50 %; beobachtete Komplikationen waren u. a. Kapnothorax, Pneumothorax, akutes respiratorisches Versagen und thrombembolische Prozesse.

Zusammenfassend kann demnach geschlussfolgert werden, dass die Implantation eines Zwerchfellschrittmachers bei ALS absolut kontraindiziert ist. Unverständlicherweise besteht die FDA-Zulassung nach wie vor, es werden weiterhin Patienten in den USA operiert und eine neue klinische Studie zu dem Thema wurde initiiert.

6 Aufklärung, Entscheidungsfindung und soziale Aspekte

Wie dargestellt, handelt es sich bei der ALS um eine äußerst schwere und komplexe Erkrankung, deren Behandlung ein Team spezialisierter Ärzte und Therapeuten erfordert. Wegen des chronisch fortschreitenden Charakters verändert sich das Krankheitsbild ständig und fortwährend müsse neue Symptome adäquat adressiert und behandelt werden. Daher sollten sich ALS-Patienten je nach Geschwindigkeit der Krankheitsprogredienz in 3- bis 6-monatigen Abständen fachärztlich vorstellen.

Für die meisten Patienten bedeutet die Diagnose ALS und die damit verbundene Gewissheit einer massiv verkürzten Lebenserwartung ein Schock und für eine adäquate Krankheitsverarbeitung wird nicht selten professionelle psychologische Hilfe sowie viel Zeit benötigt. Es ist daher nicht sinnvoll, den Patienten bereits im ersten Aufklärungsgespräch mit sämtlichen Aspekten später Krankheitsstadien zu konfrontieren; vielmehr hat sich in der klinischen Praxis eine stufenweise, dem Stadium der Krankheit und Krankheitsverarbeitung sowie dem individuellen Informationsbedürfnis angepasste Aufklärung bewährt. Die Thematik der fortschreitenden respiratorischen Insuffizienz und der Vorteile einer NIV-Therapie können häufig schon während des ersten Aufklärungsgesprächs thematisiert werden. Mit den Fragen invasiver lebensverlängernder Maßnahmen zeigen sich die meisten Patienten kurz nach Diagnosestellung dagegen gänzlich überfordert.

Die Entscheidungen für oder gegen lebensverlängernde Maßnahmen wie PEG und IV beruht in der Regel auf einem prolongierten Prozess, in dessen Verlauf sich die Entscheidungen nicht selten ändern, u. U. auch mehrfach. Aus diesem Grund sollte nicht nur frühzeitig eine Patientenverfügung erstellt, sondern diese auch regelmäßig auf ihre aktuelle Gültigkeit überprüft werden. In der klinischen Praxis kommt es regelmäßig vor, dass sich schriftlich hinterlegte Patientenverfügungen von dem aktuellen, mündlich kommunizierten Patientenwillen massiv unterscheiden.

Einflussfaktoren sich verändernder Entscheidungen sind neben der fortschreitenden Krankheitsverarbeitung auch die praktischen Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung, das soziale Umfeld des Patienten, nicht zuletzt aber auch Art, Inhalt und Zeitpunkte der ärztlichen Aufklärungsgespräche. Dem aufklärenden Arzt kommt dabei insbesondere auch die Aufgabe zu, relevante Informationen rechtzeitig, vollständig und verständlich zu vermitteln und auf diese Weise dem Patienten zu helfen, Entscheidungen zu treffen, welche dem individuellen Patientenwillen entsprechen.

Einschätzungen von Angehörigen bezüglich des mutmaßlichen Willens von ALS-Patienten entsprechen häufig nicht den Angaben der Patienten selbst. Publizierte Daten zeigen, dass die Lebensqualität von ALS-Patienten von deren Angehörigen tendenziell deutlich unterschätzt und der Todeswunsch überschätzt wird (Lule et al. 2013). Dies betrifft insbesondere auch Patienten mit NIV, IV und PEG. Das gleiche Phänomen lässt sich bei Ärzten mit geringer Erfahrung im Umgang mit todkranken Patienten beobachten (Aho-Ozhan et al. 2017). Die Inzidenz von Depressionen liegt bei ALS-Patienten tatsächlich nur geringfügig höher als in der gesunden Bevölkerung und damit niedriger als bei vielen anderen chronischen Erkrankungen; auch steigt die Depressionsrate in späteren Krankheitsstadien mit stärkeren Beeinträchtigungen und herannahendem Tod nicht an (Rabkin et al. 2005). Die Hypothese, dass die überraschend hohe Bewertung ihrer Lebensqualität durch die Patienten selbst auf einer manifesten oder sich anbahnenden FTD beruht, wurde durch eine Studie widerlegt, die zeigte, dass die Entscheidungsfindung von ALS-Patienten hinsichtlich lebensverlängernder Maßnahmen wie PEG, NIV und IV unabhängig von kognitiven bzw. Verhaltensauffälligkeiten ist (Bohm et al. 2016). Aus den Studienergebnissen lässt sich ableiten, dass die Aufklärung über lebensverlängernde Maßnahmen durch einen in der Palliativmedizin erfahrenen Arzt erfolgen sollte und dass nicht automatisch angenommen werden darf, dass die Meinung der Angehörigen der des Patienten entspricht. Eine allgemein ablehnende Haltung gegenüber lebensverlängernden Maßnahmen aufgrund einer prinzipiell anzunehmenden geringen Lebensqualität vor dem Hintergrund der fatalen Diagnose und der schweren körperlichen Einschränkungen von ALS-Patienten wird durch die aktuelle Datenlage nicht gestützt.

Die Versorgung von Patienten in fortgeschrittenen Stadien der ALS ist äußerst pflege- und kostenintensiv und nicht selten liegen Pflegedefizite vor. Der rasch fortschreitende Charakter der Erkrankung und die erheblichen Pflegeanforderungen, die NIV, IV, Sekretmanagement und PEG mit sich bringen, sollten frühzeitig mit Patienten, Angehörigen, aber auch Kostenträgern kommuniziert, eine umfassende Sozialberatung durchgeführt und eine adäquate Versorgung frühzeitig und umfassend geplant werden. Hierzu gehören u. a. die Etablierung eines behindertengerechten Wohnumfelds, die Sicherung der Behandlungspflege einschließlich Beatmungs-, Sekret- und PEG-Management und eine Ausstattung mit allen benötigten Hilfsmitteln. Hinsichtlich des Umgangs mit den Kostenträgern ist zu beachten, dass diese aufgrund der Seltenheit der Erkrankung häufig mit dem Krankheitsbild nicht ausreichend vertraut sind. Versorgungsengpässe könnten insbesondere dann entstehen, wenn angesichts des rasch fortschreitenden Krankheitsbilds aufgrund langer Bearbeitungslatenzen auf veränderte Situationen nicht rechtzeitig reagiert wird oder bei Etablierung der Versorgungssituation der rapid progressive Krankheitsverlauf nicht adäquat berücksichtigt wird. Eine frühzeitige Miteinbeziehung der Kostenträger in die sozialmedizinischen Planungen ist deshalb anzustreben.

7 Therapie im Finalstadium

Ein Großteil der Patienten mit ALS entscheidet sich in fortgeschrittenen Krankheitsstadien für ein palliatives Vorgehen. Während fast alle Patienten eine NIV und die meisten Patienten eine PEG akzeptieren, wird eine IV von ca. 90 % der betroffenen Patienten in Deutschland nicht gewünscht.

Die Behandlung eines ALS-Patienten ohne Beatmung oder mit NIV im Finalstadium kann in der Regel zuhause durch einen in der Palliativmedizin erfahrenen Hausarzt erfolgen. Viele Patienten haben Angst vor einem qualvollen Erstickungstod, daher ist es wichtig darüber zu informieren, dass dieser bei adäquater medikamentöser Therapie nicht zu befürchten ist. In den meisten Fällen ist ein friedliches Einschlafen im Rahmen einer CO2-Narkose möglich (Neudert et al. 2001). Zur symptomatischen Behandlung von Angst und Dyspnoe werden Opiate und Benzodiazepine eingesetzt (Andersen et al. 2012). Auch die Gabe von reinem Sauerstoff, welche zur Langzeittherapie der ALS absolut kontraindiziert ist (Abschn. 13.2.2), darf im Finalstadium der Erkrankung zum Einsatz kommen. Die Prinzipien der Palliativtherapie eines Patienten ohne NIV können analog auf die Situation übertragen werden, in welcher eine NIV-Therapie nicht mehr ausreicht, um die fortschreitende respiratorische Situation zu kompensieren. Wird eine IV-Therapie beendet, sollte dies hingegen in einem spezialisierten Zentrum mit Hilfe von Ärzten erfolgen, welche über eine ausreichende Erfahrung im Umgang mit dieser Situation verfügen.

Patientenverfügungen können dazu dienen, unerwünschte Situationen herbeizuführen. Hierfür ist die frühzeitige und umfassende ärztliche Aufklärung über alle zur Verfügung stehenden Therapieoptionen und ihre Folgen eine unerlässliche Voraussetzung. Patientenverfügungen sollten so spezifisch wie möglich sein und den Patientenwillen bezüglich NIV, IV und PEG explizit darlegen. Ebenso sollte verfügt werden, unter welchen Umständen etwaige lebensverlängernde Maßnahmen beendet werden sollten; dies gilt insbesondere für die IV, da hierunter regelmäßig Krankheitsstadien erreicht werden, in welcher keinerlei Kommunikation mehr möglich ist. Patienten sollten darüber informiert werden, dass die Beendigung lebenserhaltender Therapien in Deutschland legal ist, und es sollte ihnen Hilfe bei der Erstellung einer Patientenverfügung angeboten werden (Andersen et al. 2012).

3 Myasthene Syndrome, Guillain-Barré-Syndrom und Critical Illness Polyneuropathie/Myopathie

3.1 Guillain-Barré-Syndrom

Definition, Epidemiologie und Klassifikation

Von Guillain , Barre´ und Strohl wurde 1916 eine Erkrankung beschrieben, die durch progressive Lähmung, Verlust der Muskeleigenreflexe und einer cytalbuminären Dissoziation im Liquor gekennzeichnet war. Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) im Sinne einer Polyradikuloneuritis ist in Deutschland und weltweit die häufigste Erkrankung, die zu einer akuten generalisierten Lähmung führt (Sommer et al. 2018; Liu et al. 2018). Als Ursache wird ein autoimmunes, inflammatorisches Geschehen postuliert. Die Erkrankung ist selbstlimitierend. 20–30 % der Patienten mit GBS bedürfen einer mechanischen Beatmung (Van den Berg et al. 2018; Fletcher et al. 2000; Lawn und Wijdicks 1999; Ropper 1986).

Die Inzidenz dieser Erkrankung liegt nach Literaturrecherchen zwischen 0,6–2,4/100.000 Fällen pro Jahr. Sie steigt mit zunehmendem Alter und Männer sind häufiger betroffen als Frauen (1:1,5; Sejvar et al. 2011; Mc Grogan et al. 2009; Soysal et al. 2011).

Die akute inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropahie (AIDP) ist die häufigste Form (90 %) in Europa und Nordamerika und geht mit einer primären Demyelinisierung und einer möglichen sekundären axonalen Beteiligung unterschiedlichen Ausmaßes einher. Die akute motorische axonale Neuropathie (AMAN) tritt in Asien und Südamerika häufiger auf, ist aber in der westlichen Welt in >10 % der Fälle zu verzeichnen. Die akute sensomotorische axonale Neuropathie (AMSAN) ist mit >1 % eine seltene Variante des GBS (Sommer et al. 2018; Winer 2014; Hughes und Cormbloth 2005).

Das Miller-Fisher-Syndrom (Ophthalmoplegie, Ataxie, Areflexie) und die Bickerstaff-Enzephalitis (Ophthalmoplegie, Dysphagie, Ataxie, Bewusstseinsminderung) gelten als verwandte Krankheitsbilder (Bickerstaff und Cloake 1951; Miller-Fisher 1956).

3 Pathophysiologie

Molekulare Mimikry-Theorie

Ganglioside stellen eine große Gruppe von Glykosphingolipiden dar, die sich auf der Zelloberfläche von humanen Nervenzellen befinden. An ein Sphingolipid sind Zuckermoleküle (Glukose, Galaktose) gehängt. An den Galaktosemolkülen befinden sich unterschiedliche Konstellationen mit einem oder zwei N-Acetylneuraminsäuremolekülen. Es gibt unterschiedliche Ganglioside (GM1, GD1a, GD1b, GT1a, GQ1b), die sich durch die Gesamtanzahl und Position der N-Acetylneuraminsäuremoleküle an den Galaktosemolekülen unterscheiden (Yuki 2012).

Einen akuten Infekt 1–3 Wochen vor Ausbruch erleiden 2/3 aller an einem GBS erkrankten Patienten. Nachgewiesene Erreger, die diese Infekte auslösen, sind Campylobacter jejuni, Mycoplasma pneumonia, Haemophilus influenca, das Zytomegalivirus, das Epstein-Barr-Virus und Influenza-Viren (Van Doorn et al. 2008). Das Bakterium Campylobacter jejuni, bei dem die molekulare Mimikry-Theorie im Rahmen einer AMAN am besten erforscht ist, weist gangliosidähnliche Strukturen in Form von Lipooligosacchariden (LOS) an der Zelloberfläche auf. Diese führt zu einer Immunantwort in Form von Antikörperproduktion des Wirtsorganismus, die sich zum einen gegen nichtkörpereigene LOS von Campylobacter jejuni richtet, zum anderen zu einer Autoimmunantwort gegen die sehr ähnlichen Gangliosidstrukturen an der Oberfläche von Nervenzellen führt. Im Weiteren ermöglichen aktivierte T-Zellen mittels Zytokinen und Chemokinen die Öffnung der Blut-Nerven-Schranke, durch die nun die Antikörper eindringen können. Über Aktivierung des Komplementsystems kommt es zum Einstrom von Makrophagen. Diese Autoimmunreaktion führt zu einer Demyelinisierung oder einer Schädigung des Axons (Winer 2014; Sommer et al. 2018). Im Tierversuch mit Kaninchen konnte diese Theorie bestätigt werden (Winer 2014; Yuki 2012).

Symptomatik und Diagnostik des GBS

Bei einem GBS kommt es innerhalb von maximal 4 Wochen zu einer schnell progredienten, bilateralen und symmetrischen Schwäche (Beginn häufig in den unteren Extremitäten). Des Weiteren ist eine Hypo- oder Areflexie zu verzeichnen, die in den ersten 2–3 Tagen und bei einer AMAN fehlen kann. Andere Ursachen für eine Lähmung sollten ausgeschlossen sein.

Zudem weisen Patienten mit einem GBS eine meist milde sensible Symptomatik und Rückenschmerzen (Radikulitis) auf und es kann zu einer Hirnnervenbeteiligung und autonomen Störungen kommen. Fieber sollte zu Beginn nicht auftreten und eine Rückbildung der Symptome nach einer Plateauphase erfolgen (Asbury et al. 1990; Van der Meche et al. 2001; Van Doorn et al. 2008).

Eine Hirnnervenbeteiligung, insbesondere eine bulbäre Symptomatik, sowie autonome Störungen in Form von kardialen Rhythmusstörungen und Entgleisungen des Blutdrucks führen häufig dazu, dass ein Patient auf die Intensivstation aufgenommen werden muss.

Elektrophysiologisch ist eine Unterscheidung zwischen einer demyelinisierenden und einer axonalen Form des GBS möglich. Kriterien der Demyelinisierung sind eine multifokale Verminderung der Nervenleitgeschwindigkeit, ein partialer Leitungsblock, verlängerte distale motorische Latenzen, eine verlängerte F-Wellen-Latenz und erhöhte temporale Dispersionen.

Für die axonale Form wird

  • eine Verringerung der distal provozierten Muskelsummenaktionspotenziale (CMAP) auf <80 % des unteren Limits des Normbereichs in 2 Nerven,

  • eine erhaltene Nervenleitgeschwindigkeit,

  • ein reversibler Leitungsblock und

  • ein demyelinisierendes Kriterium in einem Nerv, wenn die oben beschriebene Reduktion des CMAP weniger als 10 % beträgt,

gefordert (Hughes und Hedden 1999; Nachamkin et al. 2007; Willison et al. 2016; Hedden und Cornblath 1998; Ho et al. 1999).

Der Liquorbefund bei GBS-Patienten zeigt eine cytalbuminäre Dissoziation mit einer Proteinerhöhung im Liquor in 60–85 % in der zweiten Woche und einer Zellzahl von kleiner 10 bzw. 20/mm3 (Asbury et al. 1990; Van der Meche et al. 2001; Van Doorn et al. 2008).

Es lassen sich weiterhin IgG-Antikörper gegen GM1, GM2, GM4, GD1b, GD1a, GalNac-Gd1a, GQ1b, GT1a und Sulfatide nachweisen (Caudie et al. 2002; Hiraga et al. 2005; Rinaldi et al. 2013). Bei der am häufigsten vorkommenden Form des GBS, der AIDP, lassen sich selten Autoantigangliosidantikörper (AGA) nachweisen. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass in Bezug auf die AIDP eher von einer zellulären Immunantwort durch T-Helfer-Zellen, Makrophagen- und Komplementsystemaktivierung und konsekutiven Demyelinisierung ausgegangen wird, während die axonale Schädigung humoral mittels AGA vermittelt wird (Sekiguchi et al. 2012; Zhang et al. 2013; Hughes und Hedden 1999). Bei der AMAN und dem Miller-Fisher Syndrom sind AGA häufiger zu finden (Rinaldi 2011). Es lässt sich bei der AMAN Anti-GM1-, Anti-GM1b und Anti-GD1a-AGA nachweisen (Yuki et al. 1999; Jacobs et al. 2008; Johannis et al. 2014). Dem Miller-Fisher-Syndrom ist der AGA GQ1b zuzuordnen. Es ist zu verzeichnen, dass GQ1b mehr auf okulären Nerven und GM1 mehr auf ventralen als auf dorsalen Nervenwurzeln nachweisbar ist (Winer 2014).

Therapie, Verlauf und Prognose

Patienten mit einem GBS sollten in Kliniken behandelt werden, die über eine intensivmedizinische Versorgung verfügen. Grund hierfür sind das mögliche Auftreten von kardialen Rhythmusstörungen und das Auftreten von respiratorischer Insuffizienz (Walgaard et al. 2010; Willison et al. 2016). Bei Patienten, die zunächst auf einer Normalstation behandelt werden, dient die regelmäßige Bestimmung der Vitalkapazität und der Muskelkraft dazu, bei Verschlechterung der Gesamtsituation die Behandlung auf einer Intensivstation mit Beatmungsmöglichkeit fortzusetzen. Diese kündigt sich durch eine schnelle Progression der Paresen, das Auftreten von bulbärer Schwäche, eine autonome Dysregulation, das Auftreten von Infekten und eine zunehmenden Ateminsuffizienz an (Wijdieks und Klein 2017).

Zur Ermittlung des Risikos für eine mechanische Ventilation dient der Erasmus GBS Respiratory Insuffizienz Score, der aus der Ermittlung des Medical Research Council Score (MCR), der Anzahl der Tage zwischen Schwächebeginn und Krankenhausaufnahme und der Erfassung einer fazialen oder bulbären Schwäche besteht (Walgaard et al. 2010).

Eine Indikation zur Intubation und einer assistierten Beatmung besteht bei

  • Aspirationsgefahr,

  • einem Abfall der expiratorischen Vitalkapazität auf <20 ml/kgKG,

  • wenn der pO2 auf <70 mmHg sinkt bzw.

  • der pCO2 > 45 mmHg ist (Gold et al. 2008; Wijdieks und Klein 2017).

Ist eine Beatmung für mehr als eine bzw. zwei Wochen notwendig, ist eine Tracheotomie indiziert (Sommer und Koeppen 2018; Sommer et al. 2018).

Prädiktoren für das Eintreten einer Langzeitbeatmung sind eine ausgeprägte Parese in den Armen, die dazu führt, dass diese nicht von der Unterlage abgehoben werden können und ein axonales Muster in der Elektrophysiologie (Walgaard et al. 2017).

Weitere intensivmedizinische Maßnahmen sind die enterale Ernährung über eine Magensonde, eine Thrombose- und Pneumonieprohylaxe und eine analgetische Therapie. Des Weiteren sollte bei Hypotonie eine Volumensubstitution und bei einer Hypertonie eine antihypertensive Medikation eingeleitet werden. β-Rezeptorenblocker sind wegen des Bradykardierisikos und der Hypotoniegefahr nicht gut geeignet. Die Indikationsstellung für eine Implantation eines passageren Schrittmachers (Risiko der Bradyarrhythmie und Asystolie) sollte niederschwellig sein (Sommer und Koeppen 2018; Sommer et al. 2018).

Eine Behandlung mit intravenösen Immunglobulinen (2 × 1 g/kgKG an 2 Tagen oder 5 × 0,4 g/kgKG an 5 Tagen) oder einer Plasmapherese (2–4 Behandlungen alle 2 Tage je nach Schweregrad) ist bei Patienten mit einer Gehstrecke <5 m, dem Auftreten von bulbärer Symptomatik oder Ateminsuffizienz und einer schnellen Progression der auftretenden Paresen indiziert. Beide Behandlungsregime gelten als gleichwertig (Chevret et al. 2017; Hughes et al. 2014) und sollten innerhalb der ersten 2, maximal der ersten 4 Wochen nach Auftreten der Symptome angewendet werden. Im Vergleich ergaben die Behandlung mit Plasmapherese, IVIg-Gabe oder Immunadsorption keinen Unterschied im Outcome bei Patienten mit GBS (Diener et al. 2001; Seta et al. 2005). Der therapeutische Einsatz von Glukokortikoiden zeigt keine Verbesserung. Bei leichteren Formen wird eine engmaschige klinische Beobachtung, eine physiotherapeutische und eine analgetische Therapie empfohlen.

Die Krankheit hat ihren Höhepunkt innerhalb der 2.–4. Woche, danach erfolgt ein Plateau und die Rückbildung der Symptome (Sharma und Paul 2016)

Nach durchschnittlich 40–70 Tagen erlangen Patienten, die therapiert wurden, ihre Gehfähigkeit wieder, mit einer vollständigen Erholung ist nach 6 Monaten bei einigen Patienten auch nach 2 Jahren zu rechnen. Nach Sommer et al. können 10–15 % nach einem Jahr noch nicht gehen, 50–70 % verbleiben mit leichteren motorischen oder sensorischen Einschränkungen (De la Cour und Jakobsen 2005; Plasma Exchange/Sandoglobulin Guillain-Barre Syndrome Trial Group 1997; Sommer et al. 2018).

Wichtig

Prognostisch sind Infektionen, Embolien und autonome Dyregulation die häufigsten Ursachen für Todesfälle (Winer 2014).

Die Sterberate in der Akutphase in Nordamerika und Europa beträgt 3–7 % (Willison et al. 2016).

Unterschiedliche Skalen wie der das Hughes Scoring System (HSS), der MCR (Kraftmessung im Bereich von 6 Muskelgruppen) dienen der Evaluation der funktionellen Beeinträchtigung im Verlauf. Ein weiterer Parameter ist die modifizierte Erasmus Outcome Skale (Alter, Vorhandensein von Diarrhö und MRC): Ein hohes Alter, Diarrhö und ein niedriger MCR bei Aufnahme und nach 1 Woche waren korreliert mit einer Gehunfähigkeit nach 4 Wochen, 3 und 6 Monaten (Walgaard et al. 2011).

Weitere ungünstige prognostische Faktoren sind der Nachweis von Campylobacter-Infektionen, starke axonale Schädigung mit ausgeprägter Muskelatrophie, elektrisch unerregbare Nerven und eine Beatmungspflicht (Hedden et al. 2001).

3.2 Myasthenia gravis und Lambert-Eaton-Syndrom

3.2.1 Myasthenia gravis

Definition, Epidemiologie und Klassifikation

Bei der Myasthenia gravis (MG) und weiteren myasthenen Syndromen, zu denen auch das Lambert-Eaton-Syndrom gehört, handelt es sich um eine Störung der neuromuskulären Erregungsübertragung. Nerven und Muskeln sind dabei nicht pathologisch verändert (Von Schneider-Gold et al. 2018). Die am häufigsten gefundene Form stellt die autoimmunantikörpervermittelte Störung dar, bei der sich Autoantikörper gegen den postsynaptischen nikotinischen Acetylcholinrezeptor (Anti-AChR-AK) der motorischen Endplatte richten. Die Autoantikörper sind hier bei 80–90 % der Patienten nachweisbar.

Bei einem kleinen Teil dieser Patienten lassen sich Antikörper gegen muskelspezifische Tyrosinkinase (MuSK), „low densitiy lipoprotein receptor related protein 4“ (LRP4) und Agrin nachweisen (Gilhus et al. 2016). Von einer seronegativen Myasthenia gravis (SNMG) spricht man, wenn kein bekannter oder bisher nachweisbarere Antiköper nachzuweisen ist (Vincent et al. 2001; Drechmann 1994). Auch hier findet sich ein Anteil von Patienten mit positivem Anitikörpernachweis gegen MuSK, LRP4 und Agrin (Von Schneider-Gold et al. 2018).

Weitere Störungen der neuromuskulären Erregungsübertragung können kongenital und toxisch jeweils prä- oder postsynaptisch bzw. synaptisch bedingt sein.

Die Myasthenia gravis ist eine eher seltene Erkrankung, die bei 10 % der Kinder und Heranwachsenden (Andrew 2004; Melzer et al. 2016) und bis ins hohe Alter vorkommt (Slesak et al. 1998; Evoli et al. 2000; Vincent et al. 2001). Die Inzidenz beträgt 0,25–2/100.000 Einwohner (Melzer et al. 2016). Die Prävalenz beträgt 77,7/1.000.000 Einwohner (Spannweite 15–179; Carr und Cardwell 2010). Frauen sind in der 3.–5. Lebensdekade 2- bis 3-mal so häufig betroffen wie Männer und Männer erkranken in der 7.–8. Lebensdekade häufiger eine MG (Casetta et al. 2010; Hedal und Owe 2009). Geschwister und erstgradige Angehörige von Erkrankten haben ein Risiko von 4,5 % eine MG zu entwickeln (Hemminki et al. 2006).

Die modifizierte Klassifikation der amerikanischen Myasthenia-gravis-Gesellschafft unterscheidet die okuläre MG von der generalisierten MG mit milder, moderater und schwerer Manifestation (Klasse I–V) und der bevorzugten Beteiligung von Extremitäten-und Rumpfmskulatur (A) oder der oropharyngialen Muskulatur (B) (MGFA-Klassifikation, Jaretzki et al. 2000).

Eine Klassifikation nach Compston und Vincent beinhaltet klinische, epidemiologische, genetische und thymuspathologische Aspekte sowie das Ansprechen auf eine Thymektomie oder einer Immuntherapie. Nach den obengenannten Kriterien werden hier eine Early-onset-MG (EOMG, Beginn <45 Jahren), eine Late-onset-MG (LOMG, Beginn >45 Jahren), eine thymomassozierte MG (TAMG), eine anti-MuSK-AK-assozierte MG (MAMG) und eine okuläre MG (OMG) unterschieden (Compsten et al. 1980). An Hand dieser Klassifikation wird die Heterogenität der autoimmun vermittelten Myasthenia gravis deutlich.

Pathophysiologie

Ein Aktionspotenzial führt zur Depolarisation der Nervenendigung. Hierdurch kommt es zur Öffnung von Kalziumkanälen. Das einströmende Kalzium bedingt eine Exozytose von Acetylcholin in den synaptischen Spalt. Der postsynaptische Acetylcholinrezeptor, der ein ligandengesteuerter Ionenkanal ist, besteht aus fünf verschiedenen Untereinheiten (α, β, γ, δ, ε). Acetylcholin bindet an die zwei α-Untereinheiten dieses Ionenkanals. Geschieht dieses, öffnet sich der Ionenkanal durch eine Konformationsänderung im transmembranen Bereich. Die einströmenden Kationen führen über eine Depolarisation des postsynaptischen Bereichs zu einer Öffnung von spannungsabhängigen Natriumkanälen und letztlich hierdurch zum Muskelaktionspotenzial.

Bei Gesunden werden zur Gewährleistung der neuromuskulären Überleitung mehr Acetylcholinrezeptoren durch die Botenstoffausschüttung aktiviert, als zur Depolarisation notwendig wären (Sicherheitsfaktor der neuromuskulären Transmission).

Mit der Erfüllung der Koch-Witebsky-Kriterien ist die Myasthenia gravis eine typische Autoimmunerkrankung (Von Schneider-Gold et al. 2018).

Durch verschiedene Schädigungsmechanismen wird die Funktionsfähigkeit des Acetylcholinrezeptors und der motorischen Endplatte beeinflusst:

  • Zum einen kann es durch polyklonale spezifische Antikörper zu einer funktionellen Blockade und zu einer Internalisation des Rezeptors kommen. Hierdurch wird die Rezeptordichte vermindert.

  • Zum anderen binden sie an einen Abschnitt („main immunogenic region“, MIR) der α-Untereinheit des Acetylcholinrezeptors und führen letztlich komplementvermittelt zu einer Zerstörung der Endplattenarchitektur und einer Verbreiterung des postsynaptischen Spalts.

Der Antikörperspiegel korreliert mit der Schwere der Erkrankung (Masuda et al. 2012; Melzer et al. 2016). Durch Autoantikörper gegen MuSK scheint es zu einer Reduktion von intakten Acetylcholinrezeptoren zu kommen (Cole et al. 2008). Die Bedeutung von Autoantikörpern gegen Agrin und LRPA4 ist noch nicht hinreichend geklärt.

Die entzündlichen bzw. neoplastischen Veränderungen am Thymus scheinen bei Myastenia-gravis-Patienten eine wichtige Rolle in der Aktivierung der Autoimmunpathogenese zu sein. Bei einem Großteil der Patienten mit Nachweis von Acetylcholinrezeptorantikörpern finden sich pathologische Veränderungen im Thymus. Bei einer Thymitis im Sinne einer lymphofolikulären Hyperplasie, die bei bis zu 70 % der Patienten nachweisbar ist, produzieren B-Lymphozyten und Plasmazellen Autoantiköper gegen den Acetylcholinrezeptor (Melms et al. 1988; Sommer et al. 1990; Von Schneider-Gold et al. 2018).

Myoide Epithelzellen des Thymus exprimieren Acetylcholinrezeptorkomplexe. Thymomzellen und Thymuskarzinomzellen produzieren ähnliche Epitope an ihrer Oberfläche, die zu einer Interaktion mit immunkompetenten B-Lymphozyten und Plasmazellen führt – mit der Folge der Antikörperbildung gegenüber dem Acetylcholinrezeptor (Von Schneider-Gold et al. 2018).

Die paraneoplastische Myastenia gravis tritt bei Thymomen nicht aber in Folge anderer Tumore auf (Cavalcente und Bermasconi 2012; Marx et al. 2013).

Symptomatik und Diagnostik

Leitsymptom bei der Myasthenie ist eine übermäßige Ermüdbarkeit der jeweils beanspruchten Muskulatur, die fluktuiert und im Tagesverlauf zunimmt.

Patienten mit einer Myasthenia gravis weisen charakteristische Symptome auf. So beginnt das Krankheitsbild häufig mit einer okulären Manifestation (Ptose, Doppelbilder). Die inneren Augenmuskeln (Akkomodationsstörung) sind seltener betroffen. Dass die äußeren Augenmuskeln privilegiert betroffen sind, ist nach Barton und Fouladvand durch eine spezielle Muskelfaserkomposition und mit speziellen strukturellen und immunologischen Eigenschaften der Synapsen begründet (Barton und Fouladvand 2000). Bei 10–20 % der Patienten zeigt sich ausschließlich eine okuläre Form der Erkrankung. Die Mehrheit der Patienten zeigt jedoch nach 2–3 Jahren eine Generalisierung der Erkrankung mit Beteiligung von Schluck-, Atem- und stammnaher Extremitätenmuskulatur. Die Symptomatik ist fluktuierend und nimmt im Verlauf eines Tages zu. In Kombination kann die MG auch mit anderen Autoimmunerkrankungen wie einer rheumatoiden Arthritis, einem systemischen Lupus erythematodes, einem Diabetes mellitus Typ 1 oder autoimmunbedingten Schilddrüsenerkrankungen auftreten (Gilhus 2015).

Zur Diagnosesicherung ist die Erhebung einer ausführlichen Anamnese, einschließlich der Familienanamnese, wichtig. Bei der körperlichen Untersuchung ist die Anwendung des Simpson-Tests (beim Blick nach oben Entwicklung einer Ptose) und des Besinger-Score hilfreich. Hier werden die Haltekraft und die Kraft unterschiedlicher Muskelgruppen, die bulbäre Symptomatik und die Vitalkapazität der Lunge bestimmt. Anhand eines Punktesystems lässt sich die Schwere der Muskelschwäche ermitteln.

Laborchemisch sollte neben Routineparametern, Anti-AChR-AK, Anti-MuSK-Ak, Anti-VGCC-AK, Anti-LRP4-AK. Anti-Agrin-AK sowie im Zweifel Skelettmuskelantikörper, Anti-Titin und Ryanodinrezeptor-AK bestimmt werden.

Der Test mit intravenös verabreichtem kurzwirksamem Edrophoniumchlorid, einem Acetylcholinesteraseblocker (Wirkdauer 3–10 min) ist beweisend für eine neuromuskuläre Übertragungsstörung (Engel 1999; O´Neill 1988), jedoch nicht für eine MG.

Bei Durchführung des Tests ist mit muskarinen Nebenwirkungen (Bradykardie, Hypotonie, Bronchospasmus) zu rechnen, sodass Edrophonimchlorid fraktioniert gegeben werden und immer prophylaktisch eine Ampulle Atropin bereitliegen sollte. Ersatzweise kann bei älteren, multimorbiden Patienten und im nicht stationären Bereich Pyridostigmin oder Neostigmin oral verabreicht werden. Hinweise auf eine myastene Ptose können der Ice-on-eyes und das Recovery-Cogan-Zeichen sein. Diese sind aber nicht spezifisch.

Elektrophysiologisch kann man eine prä- von einer postsynaptischen Störung unterscheiden.

Tritt bei einer supramaximalen, repetitiven Nervenstimmulation des N. accessorius oder N. facialis mit 3 Hz vor und/oder nach muskulärer Arbeit ein Flächendekrement von <10 % oder ein Amplitudendekrement von 12–15 % des motorischen Summenaktionspotenzials (cMAP) zwischen dem 1. und 5. Stimulus auf, ist dies pathologisch. Das Dekrement ist bei 20 % der okulären und in 80 % der generalisierten MG zu finden (Schumm und Stohr 1984; Wiendl 2017). Bei einem positiven Edrophoniumtest zeigt sich in einer elektrophysiologischen Untersuchung eine Abnahme des Dekrements. In der Einzelfaserelektromyographie ist ein erhöhter Jitter und eine Blockierung zu detektieren.

Bildgebend ist ein Thorax-MRT und bei der okulären/bulbären Form ein kraniozervikales-MRT indiziert, um die Frage nach einer entzündlichen oder tumorösen Veränderung im Thymus oder eine intrakranielle Raumforderung oder Entzündung ausschließen zu können. Bei unklarer Diagnose ist eine Liquorpunktion zum Ausschluss eines entzündlichen ZNS-Prozesses, ein EMG, eine Muskelbiopsie zur Detektion einer Myopathie oder Mitochondrienerkrankung und ggf. eine molekulargenetische Untersuchung indiziert (Wiendl 2017).

Myasthene Krise

Eine gefürchtete Komplikation stellt die myasthene Krise dar, die durch bestimmte Medikamente, Operationen, Infekte, Schwangeschaft, nicht korrekter Einnahme der verordneten Medikation oder vor der Menstruation auftreten kann. Es kommt akut zum Auftreten von höhergradigen Paresen, zu einer Ateminsuffizienz und einer Aspirationsgefahr mit der Konsequenz der intensivmedizinischen Überwachung in Intubationsbereitschaft. Bei einem kleinen Teil der Patienten stellt die myasthene Krise die Erstmanifestation der Erkrankung dar. Myasthene Krisen treten unter immunsuppressiver Therapie in unter 2 % der Fälle auf (Owe et al. 2006).

Toyka und Müllges haben schon 1994 einen Behandlungskatalog in Bezug auf die Behandlung der myasthenen Krise entwickelt. Hieraus ergibt sich eine Behandlungsstrategie für Patienten mit respiratorischer Insuffizienz ohne (I) und mit Intubationspflichtigkeit (II).

  • Bei Patienten der Gruppe I empfehlen ein Freihalten der Atemwege und ein suffizientes Sekretmanagement, Kontrolle der Vitalkapazität, O2-Gabe, Verabreichung von Cholinesterasehemmern nach Symptomatik (Berücksichtigung von Tageshöchstmengen und ggf. Gabe von Atropin), Notfalllabor, Antibiose nach Infektdiagnostik (möglichst Aminoglykoside vermeiden) und die Durchführung einer Plasmapherese/Immunadsorption bzw. Gabe von Immunglobulinen.

  • Bei Patienten der Gruppe II ist neben den schon erwähnten Maßnahmen eine Intubation (möglichst transnasal), bei längere Beatmungszeit eine Tracheotomie, ein assistierender Beatmungsmodus (CPAP mit einem PEEP von 3 cm Wassersäule), Sedativa mit kurzer Halbwertszeit und eine hochdosierte immunsupressive Therapie mit einer Glucokortikoidpulstherapie oder einer Kombination aus Cyclosporin A und Azathioprin, ggf. Rituximab und/oder Cyclophosphamid indiziert (Toyka et al. 1994). Die Mortalität unter guter intensivmedizinscher Therapie beträgt bis zu 5 % (Thomas et al. 1997; Lacomis 2005; Jani-Acsadi und Lisak 2007).

Therapie und Verlauf

Das medikamentöse Behandlungskonzept der Myasthenia gravis umfasst zum einen eine symptomatische und zum anderen eine immunsupressive Therapie.

Nach den Leitlinien stehen zur symptomatischen Therapie Pyridostigminbromid in unretardierter und retardierter Form, Neostigmin und Ambenoniumchlorid (Off-Lable-Use) zur Verfügung. Edrophoniumchlorid steht nur zu diagnostischen Zwecken zur Verfügung.

Pyridostigmin wird als Mittel der ersten Wahl eingesetzt. Es steht in oraler und parenteraler Form zur Verfügung. Beim Wechsel der Verabreichungsform sollte auf die korrekte Umrechnung der Dosisäquivalenz (30 mg oraler Dosis entsprechen 1 mg parenteraler Dosis) geachtet werden. Muskarinerge Nebenwirkungen (glatte Muskulatur, Drüsensekretion) sind hier v. a. gastrointestinale (Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö), Harndrang, Speichel- und Tränenfluss, Schwitzen, vermehrte Bronchialsekretion, Miose, Hypotonie und seltener AV-Block.

Nikotinerge (Skelettmuskulatur) Nebenwirkungen beinhalten Muskelfaszikulationen, Spasmen und Muskelschwäche im Sinne eines Depolarisationsblockes. Abenoniumchlorid (Off-Lable-Use) stellt bei Bromidunverträglichkeit eine Alternative zu Pyridostigminbromid dar. Dieses steht jedoch nur in oraler Form zur Verfügung. Es sind weniger muskarinerge aber mehr zentralvenöse Nebenwirkungen als bei Pyridostigminbromid zu verzeichnen. Neostigmin war der erste von M. Walker (1935) eingesetzte Acethylcholinesterasehemmer und oral und parenteral zur Verfügung stand. Schon zur damaligen Zeit wurde Neostigmin wegen seiner zentralnervösen Nebenwirkungen auf Pyridostigminbromid umgestellt (Wiendl 2017).

Als Basistherapie der Immunsupression nach Leitlinie ist eine Behandlung mit Glukokortikosteroiden (GKS) in Kombination mit Azathioprin Mittel der 1. Wahl.

Bei der Gabe von GKS, kann es nach 3–7 Tagen zunächst zu einer Verschlechterung besonders einer bulbären Symptomatik kommen, weswegen eine engmaschige klinische Überwachung nötig ist. Nach behandlungsstrategischen Motiven wird ein langsames Eindosieren von GKS von einer hochdosierten intravenösen GKS-Pulstherapie unterschieden:

  • Bei der langsamen Eindosierung wird als eine Möglichkeit mit einer niedrigen GKS-Dosis (10–20 mg Predisolonäquivalent/d, langsamer Wirkungseintritt) begonnen und die Dosis bis zum Eintritt einer Remission langsam gesteigert (um 5 mg/Woche bis zu einer Zieldosis von 1 mg GKS/kgKG) (Seybold und Drachmann 1974). Eine andere Möglichkeit ist die Eindosierung mit einer Prednisolonäquivalenzdosis von 1 mg/kgKG (schneller Wirkungseintritt) und dem Finden der individuellen Erhaltungsdosis durch langsame Reduktion der GKS-Dosis.

  • Die hochdosierte GKS-Pulstherapie (500–2000 mg Methylprednisolon i.v., ggf. mit Wiederholung nach 5 Tagen) und nachfolgender oraler Erhaltungstherapie ist nach Expertenmeinung nur in einer myasthenen Krise und in Verbindung mit Plasmapherese oder nach Immunglobulingabe einzusetzen (Wiendl 2017).

Bei dem Einsatz von Azathioprin (initial 2–3 mg/kgKG, Erhaltungsdosis 1 mg/kgKG) kommt es erst nach Monaten zu einem Wirkungseintritt. In Kombination mit GKS zeigen sich längere Remissionen und weniger Nebenwirkungen (Palace et al. 1998). Wichtigste Nebenwirkungen einer Azathioprintherapie sind Knochenmarkdepression, Infektanfälligkeit, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Hepatotoxizität, Myo-und Arthralgien, Pankratitis, Alveolitis und Hautexanthem.

Bei nicht suffizientem Ansprechen oder Unverträglichkeit ist eine Therapie mit GKS in Verbindung mit Ciclosporin, Methotrexat, Mycophenolat-Mofetil oder Tacrolimus die 2. Wahl und off-lable (Medikamente in alphabetischer Reihenfolge). Im Rahmen der Eskalationstherapie können als 1. Wahl und off-lable Rituximab und eine Cyclophsphamid-Pulstherapie und als 2. Wahl experimentelle Therapien mit anderen monoklonalen Antikörpern, Proteasominhibitoren, Immunoablation, Myeloablasion und eine Stammzelltransplantation eingesetzt werden (Wiendl 2017).

Intravenöse Immunglobuline(IVIg), eine Plasmapherese und eine Immunadsorption werden bei der myasthenen Krise, extremer Verschlechterung der MG, bei instabiler MG in der Schwangerschaft oder vor Operationen und bei therapierefraktärer schwerer Symptomatik eingesetzt. Die Verfahren haben eine ähnliche Effektivität (Gajdos et al. 1997, 2008, 2012; Sklie et al. 2010; Yoh und Chio 2000). IVIg (0,4 g/kgKG an 5 aufeinander folgenden Tagen oder 1 g/kgKG an 2 Tagen) sind im klinischen Alltag ohne Aufwand verfügbar. Sie verkürzen die Beatmungspflichtigkeit in der myasthenen Krise (Gajdos et al. 1997, 2012).

Die Plasmapherese, bei der unselektiv die nicht korpuskulären Blutbestandteile herausgefiltert werden, ist ein aufwendiges Verfahren, welches der Nutzungmöglichkeit einer nephrologischen oder hämatologischen Abteilung bedarf. Laut Leitlinie sollten 6–8 Behandlungen erfolgen (zunächst täglich, dann zweitäglich Austausch des 1- bis 1,5-fachen Plasmavolumens). Die Substitution mit Humanalbumin ist nach jeder Behandlung nötig. Es kann zu Störungen des Gerinnungssystems kommen.

Bei der Immunadsorption, die eine Alternative zur Plasmapherese darstellt und ähnlicher technischer Voraussetzungen bedarf, wird halbselektiv IgG mit einer Tryptophan-Polyvinyl-Gelmatrix (Heininger et al. 1985) oder Protein-A-Säule (Sklie et al. 2010) entfernt. Selektiv gelingt die Filtration bestimmter IgG-Subklassen mittels einer Protein-A-Sepharose (Grob et al. 1995). Bei dieser Methode müssen keine Plasmaproteine substituiert werden, bei Verwendung der Protein-A-Säule enstehen keine Störungen im Gerinnungssystem und die Austauschvolumina sind größer.

Die Thymektomie scheint bei der EOMG mit generalisierter Ausbreitung (ohne Thymom) in den ersten 1–2 Jahren nach Diagnosestellung am effektivsten zu sein. Sie sollte elektiv und in stabilen Verhältnissen hinsichtlich der MG unter medikamentöser Vorbehandlung erfolgen. Ein sicherer Beweis, dass eine Thymektomie kausaltherapeutisch effizient oder welche Effizienz sie gegenüber einer imunsupressiven Therapie hat, existiert nicht.

Ein Thymom stellt dagegen immer eine Indikation zum Handeln dar. Neben dem Regelfall einer operativen Entfernung steht alternativ bei älteren und mehrfacherkrankten Patienten die palliative Bestrahlung zur Verfügung. Patienten mit inopererablen Tumoren oder Rezidiven können von einer Behandlung mit Somatostatin und Prednisolon oder eine Chemotherapie profitieren (Wiendl 2017).

Patienten mit MG sind durch die Einnahme bestimmter Medikamente von einer Verschlechterung der Symptomatik gefährdet. Erwähnenswert sind hier besonders das Muskelrelaxans Succhinylcholin, da es nicht durch Pyridostigmin antagonisiert werden kann, und Benzodiazepine, da sie die Muskelkraft vermindern. Immer, wenn bei Patienten mit MG ein neues Medikament verabreicht wird, sollte eine engmaschige Kontrolle erfolgen. Eine umfangreiche Liste der Medikamente, die eine MG verschlechtern können, findet sich in den Leitlinien. Hinsichtlich des Vorgehens beim Impfen von MG-Patienten und in der Schwangerschaft wird auf die Fachliteratur verwiesen

In Ergänzung der medikamentösen Therapie zeigen Patienten unter physiotherapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen eine Verbesserung ihres Zustands (Cup et al. 2007). Erfreulicherweise ist es einem Großteil der Patienten (90 %) unter entsprechender Therapie möglich, einem normalen Berufsleben nachzugehen (Von Schneider-Gold et al. 2018). Zu einer spontanen Remission während des Krankheitsverlaufs kommt es nach Oosterhus in 10–20 % der Patienten (Oosterhuis 1997). Auf der anderen Seite ist es früher in etwa 10 % der Fälle im Rahmen einer schweren generalisierten MG, durch die schon beschriebene Zerstörung der motorischen Endplatte, zu einer Ausbildung einer Defektmyasthenie mit schweren Muskelatrophien gekommen. Heute wird dieses seltener beobachtet (Von Schneider-Gold et al. 2018).

3.2.2 Lambert-Eaton-Syndrom

Definition, Epidemiologie und Klassifikation

Beim myasthenen Lambert-Eaton-Syndrom (LEMS) liegt eine präsynaptische autoimmune Störung der neuromuskulären Erregungsübertragung vor, bei der bei einem großen Teil (85 %) der Patienten der Nachweis von Autoantikörpern gegen spannungsabhängige Kalziumkanäle (VGCC) gelingt.

Ursächlich kann beim LEMS eine autoimmune Genese vorliegen. Die Patienten mit einem autoimmunen LEMS sind häufig unter 50 Jahre alt. Bei 50–60 % der Patienten mit LEMS ist ein Tumor (häufig ein kleinzelliges Bronchialkarzinom), im Sinne einer paraneoplastischen Genese, zu finden (O´Neill 1988).

Pathophysiologie

Beim paraneoplastisch hervorgerufenen Lambert-Eaton-Syndrom produzieren Tumorzellen VGCC, die dann mit einem antigenen Stimulus die autoimmunologische Reaktion hervorrufen (Roberts et al. 1985).

Bei der autoimmunen Form des LEMS ist der pathophysiologische Prozess nicht bekannt.

Symptomatik und Diagnostik

Leitsymptome beim Lambert-Eaton-Syndrom sind proximal betonte, belastungsabhängige Schwäche, Hyporeflexie und eine acholinerg-autonome Störung (Wiendl 2017). Die Schwäche und die Hyporeflexie breiten sich von kaudal (untere Extremität) nach kranial (obere Extremität) aus. Im Sinne einer Fazilitation kann sich die Symptomatik bei maximaler Willkürinnervation verbessern.

Elektophysiologisch zeigt sich beim Lambert-Eaton-Syndrom bei der 3/s-Serienstimulation vor Muskelarbeit ein Dekrement. Das cMAP bei LEMS hat eine niedrige Amplitude. Nach maximaler Willkürinnervation über 30 s oder einer 30/s-Serienstimulation ist ein Inkrement im Sinne einer Amplituden und Flächenzunahme des cMAP zu verzeichnen.

Laborchemisch lassen sich bei 85 % der Patienten anti-VGCC-AK nachweisen (Motomura et al. 1995).

Ein Teil der Patienten (25 %) mit autoimmun bedingte LEMS weist noch eine andere Autoimmunerkrankung auf (Wirtz et al. 2004; Ried et al. 2013).

Titulaer und Maddison haben den den DELTA-P Score (Dutch-English LEMS Tumor Association Prediction-Score) entwickelt, der mit den Kriterien einer bulbären Beteiligung, einer erektilen Dysfunktion bei Männer, einem Gewichtsverlust, Rauchen, Alter und dem Kanofsky-Index das Risiko für eine paraneoplastische Genese für ein LEMS ermittelt (Titularer und Maddison 2011).

Therapie

Das medikamentöse Behandlungskonzept des autoimmunen LEMS beinhaltet eine symptomatische und eine immunsuppressive Therapie. Die symptomatische Therapie erfolgt mit Amifampridin (4 × 10 mg bis 5 × 20 mg mit langsamer Eindosierung). Wichtigste Nebenwirkungen sind hier Parästhesien, gastrointestinale Beschwerden, Krämpfe, epileptische Anfälle und kardiale Rhythmusstörungen.

Bei einem unzureichenden Behandlungserfolg der symptomatischen Therapie sollte eine immunsuppressive Therapie mit GKS und Azathioprin genau wie bei der MG, eingesetzt werden (Streib und Rothner 1981; Newsom-Davis und Murray 1984; Sklie et al. 2010). Die Gabe von IVIg wird zur Kurz- und Dauerbehandlung im Rahmen von Expertenwissen empfohlen (Henze et al. 2010; Keogh et al. 2011). Die Plasmapherese zeigt keine überzeugenden Ergebnisse (Newsom-Davis und Murray 1984). Zur Gabe von Ciclosporin A, Rituximab und Cyclophosphamid existieren Einzelberichte. Eine Thymektomie ist keine Therapieoption.

Die Therapie des paraneoplastischen LEMS beeinhaltet neben der symptomatischen Therapie – analog dem autoimmungen LEMS – eine suffiziente Tumorbehandlung (Wiendl 2017).

3.3 Critical Illness Polyneuropathie und Myopathie

Definition, Epidemiologie und Klassifikation

Bei der Critical Illness Polyneuropathie (CIP) handelt es sich um eine akute reversible, selbstlimitierende, vorwiegend axonale sensomotorische Polyneuropathie, die bei schwererkranken Intensivpatienten auftritt und häufig mit einer Critical Illness Myopathie vergesellschaftet ist.

Prädisponierend sind eine Sepsis, ein Trauma, ein „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS), ein systemisches inflamatorisches Response Syndrom (SIRS) und ein Multiorganversagen.

Der Einsatz von Muskelrelaxanzien, bestehende Steroid- oder Aminoglykosidtherapie, Niereninsuffizienz, parenterale Ernährung, niedriges Serumalbumin und Katecholamintherapie stellen weitere Risikofaktoren dar (Dimitriadis et al. 2018). So ergibt sich eine Inzidenz von 70–80 % bei allen Intensivpatienten. Diese steigt bei Patienten mit Multiorganversagen und Sepsis auf nahezu 100 % an (Zink et al. 2009).

Pathophysiologie

Die Pathogenese einer CIP/CIM ist noch nicht sicher geklärt. Nach einem Modell von Shepard et al. (2017) liegen der CIP und CIM ein multifaktorielles Geschehen zu Grunde.

Bei der CIP wird von einer sensomotorischen axonalen Degeneration, bei der CIM von einem Myosinverlust und einer Nekrose bzw. Atrophie von Muskelfasern beim Menschen ausgegangen. Hier sollen mikrozirkulatorische, metabolische und bioenergetische Störungen sowie reversible Kanalopathien eine Rolle spielen (Lacomis 2011; Friedrich et al. 2004; Friedrich 2008).

Zu einer mikrozirkulatorischen Störung führen Vasodilatation, erhöhte Permeabilität, erhöhte Exprimierung von E-Selektin, ein endoneurales Ödem, Hyoxämie, Zytokinproduktion und das Vorhandensein eines Extravasats.

Zu einer metabolischen Störung kommt es durch Hyperglykämie, hormonelle Imbalance, Hypoalbuminämie, Aminosäurendefizit und der Aktivierung von proteolytischen Prozessen. Eine Ionenkanaldysfunktion, Zelldepolarisation, zelluläre Unerregbarkeit, ein gestörtes Kalziumgleichgewicht bedingen eine Beeinträchtigung der elektrischen Erregbarkeit. Zu einem Ausfall von bioenergetischen Funktionen kommt es u. a. bei einer Erschöpfung antioxidatorischer Funktionen, einem Anstieg freier Radikale, mitochondraler Dysfunktion und bei einer Apoptosis (Friedrich 2008).

Letztenendes tragen die genannten Faktoren unabhängig, synergistisch oder gleichzeitig dazu bei, dass die daraus resultierende Ischämie und zytopathische Hypoxie zu der Entstehung einer CIP oder CIM führen kann (Latronico und Bolton 2011; Zink et al. 2009). Eine Sepsis kann über die Ausschüttung von Zytokinen zu einer Erhöhung der Gefäßpermeabilität und damit zu Mikrovaskularisationsstörungen führen, was z. B. die Hypoxämie erhöht (Fenzi et al. 2003).

Die CIP wird als Teil des Multiorganversagens im Rahmen einer Sepsis gesehen.

Das endoneurale Ödem, welches durch eine Hyperglykämie, eine verminderte Ratio von anabolen und katabolen Hormonen, ein niedriger Aminosäurenspiegel und eine Hypoalbunämie können die Muskelschwäche begünstigen (Hermans et al. 2008; Von den Berge et al. 2005; Latronico et al. 2005; Gamrin et al. 1997). Proteolytische Reaktionen, die durch Stress und entzündliche Prozesse protegiert werden, bedingen eine Zerstörung von Aktin und Myosin (Chunkui et al. 2014).

Symptomatik und Diagnostik

Patienten mit einer Critical Illness Myo- oder Neuropathie weisen schlaffe höhergradige Paresen und Muskelatrophien, häufig im Sinne einer distal betonten, symmetrischen Tetraparase auf. Diese führt dazu, dass eine Entwöhnung vom Respirator trotz Fehlens einer pulmonologischen Pathologie nicht möglich ist. Patienten zeigen eine mimische Entgleisung auf Schmerzreize ohne eine motorische Fluchtbewegung auszuführen. Die Muskeleigenreflexe sind abgeschwächt oder erloschen. Sie können aber auch gesteigert sein, wenn im Rahmen der Primärerkrankung eine Schädigung des 1. Motoneurons vorliegt.

Der Liquor zeigt einen Normalbefund oder es kann eine unspezifische leichtgradige Zellzahl- oder Eiweißerhöhung detektiert werden.

Elektrophysiologisch lässt sich bei der CIP eine normale oder fast normale Nervenleitgeschwindigkeit und distalmotorische Latenzen in Vergesellschaftung mit einer Amplitudenverminderung und Verbreiterung des Summenaktionspotenzials nachweisen. Es sind häufig nur motorische Fasern betroffen. Sensible Aktionspotenziale können durch Flüssigkeitseinlagerungen im Gewebe falsch positiv verändert sein. In der Nadelelektromyographie finden sich Spontanaktivität (Fibrillationen und positive scharfe Wellen) (Hund 2008). Eine repetitive Serienstimmulation sollte einen Normalbefund zeigen. Bei der CIM ist es schwieriger, einen eindeutigen elektromyographischen Befund zu erheben, da die Mitarbeit des Patienten häufig durch die schwere Grunderkrankung beeinträchtigt ist. CIP und CIM sind häufig koexistent und so wird elektrophysiologisch eine CIP diagnostiziert, obwohl bioptisch eine CIM vorliegt (De Jonghe et al. 2002). Mit Hilfe der direkten elektrischen Muskelstimmulation könnte eine Myopathie sicher diagnostiziert werden.

In der Biopsie ist bei der CIP eine axonale Degeneration von Typ-1- und Typ-2-Fasern kombiniert mit einer ausgeprägten Denervierungsatrophie der Muskeln zu sehen (Hermans et al. 2007). Histopathologisch lässt sich die CIM im eigentlichen Sinn von einer Thick-filament-Myopathie und einer nekrotisoerenden Myopathie abgrenzen. Eine CIM ist durch eine abnorme Variation von Faserquerschnitten sowie Atrophie und Angulierung der Fasern, internalisiertem Zellkern, Fibrosen und fettigen Degenerationen gekennzeichnet. Bei der Thick-filament Myopathie kommt es elektronenmikroskopisch zum Verlust der dicken Myosinfilamente (Danon und Carponter 1991). Bei der nekrotisierenden Form sind diffuse Nekrosen nachweisbar.

Eine CK-Erhöhung ist bei der CIM im eigentlichen Sinne nicht, bei den übrigen Formen vorhanden.

Die Thick-filament-Myopathie und die nekrotisierende Form wird häufig bei Patienten nach Kortikosteroidgabe und/oder nach Gabe von Muskelrelaxanzien bei Status asthmaticus, Abstoßungsreaktionen oder nach Transplantation gesehen (Rezaiguia-Delclaux et al. 2002).

Therapie und Verlauf

Ein wesentliches therapeutisches Ziel stellt die Behandlung einer Sepsis dar.

Andere gezielte Therapieschemata finden sich nicht (Brunner et al. 2013). Eine intensivierte Insulintherapie mit angestrebten Blutzuckerwerten von <110 mg/dl verminderten das CIP-Risiko bei beatmeten Intesivpatienten (Von den Berge et al. 2005; Hermans et al. 2014). Möglichkeiten die CIP und CIM im Verlauf positiv zu verbessern stellen physiotherapeutische und frühmobilisatorische Maßnahmen dar.

Prognostisch kommt es bei einer CIP zu einem prolongierten Entwöhnen vom Respirator, zu einer erhöhten Reintubationsrate, einer vermehrten Anzahl intubiert verlegter Patienten und zu einer Steigerung der Mortalität (Garnacho-Montero 2005).

Bei den die kritische Erkrankung überlebenden Patienten kommt es zum einen zu einer vollständigen Rückbildung der Symptomatik innerhalb eines Zeitraums von 5 Jahren, zum anderen zu einem Persistieren einer hochgradigen Tertaparese. Abhängig ist der Verlauf von der Ausprägung der axonalen Degeneration (Witt et al. 1991). In 70 % der Fälle kann ein funktionell gutes Ergebnis erzielt werden (Van der Schaaf et al. 2004).