Zusammenfassung
Konflikte gehören zum Berufsalltag von Polizist*innen. Die polizeiliche Einsatzpraxis zeigt: Rechtliche Befugnisse, Mittel und deeskalative Einsatzmodelle sind allein nicht ausreichend, um das Einsatzgeschehen rund um konfliktbehaftete Protestlagen potenziell friedfertiger voranzubringen. Eine effektive Konfliktaustragung kann auf Dauer nur gelingen, wenn die wahrgenommene Distanz zwischen Polizist*innen und bürgerlichen Protestgruppen bzw. polizeilichen Maßnahmenbetroffenen abnimmt. Ein zentraler Zusammenhang besteht zwischen Konfliktpotenzial und polizeilicher Kommunikation, dem sich die Frage nach der Beteiligung unmittelbar anschließt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass partizipative Verfahren immer auch vertrauensbildende Kommunikationsprozesse sind, die vor dem Hintergrund deeskalierende Bewältigungsstrategien und Konfliktlösungsdiskurse anbieten können. Der Autor sieht im reformbedürftigen Kooperationsgespräch für polizeiliche Protestlagen die Möglichkeit, durch strukturelle Veränderungen im Kommunikationsverständnis das Kommunikationsangebot zu optimieren. Nicht ob im polizeilichen Planungsprozess kommuniziert wird, steht zur Diskussion, sondern wie: Wer wird einbezogen, wie ist die Erreichbarkeit, was wird auf welche Weise und unter verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt und erörtert, welche Belange, Interessen und konfliktbehaftete Themen werden zur Sprache gebracht? Insgesamt betrachtet können dialogorientierte Kommunikationsformen die Vorbereitung und Umsetzung von polizeilichen Maßnahmen verbessern und eine kooperative und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Polizei und Zivilgesellschaft ermöglichen.
Reviewys: Alexandra Kibbe, Katharina Lorey
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Notes
- 1.
Deutlich spürbar ins Bewusstsein gerückt ist dies durch den nichts zu rechtfertigenden völkerrechtswidrigen russischen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, der nicht nur eine epochale Zeitenwende mit schwerwiegenden Folgen für die euro-atlantische Sicherheit darstellt, die Europäische Union mit weiteren Migrationsbewegungen und vor allem auch Deutschland mit der Versorgungssicherheit von russischen Energieträgern konfrontiert und weltweit Hungerkatastrophen befeuert.
- 2.
Das Kunstwort „postfaktisch“, eine Lehnübertragung des amerikanisch-englischen post truth, wurde 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres erklärt. Das Wort „postfaktisch“ verweist auf einen tiefgreifenden politischen Wandel, nämlich, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen „die da oben“ oder das „Establishment“ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der „gefühlten Wahrheit“ führt im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg.
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Ich habe mich in diesem Beitrag um eine genderneutrale Ausdrucksweise bemüht. Um allzu sperrige Wortkonstruktionen von männlicher und weiblicher Form zu vermeiden, habe ich mit Genderstern gearbeitet.
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Bericht des Sonderausschusses „Gewalttätige Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg“. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/14.350 vom 20.9.2018, S. 14.
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Ich danke an dieser Stelle Herrn Udo Behrendes vielmals für den fruchtbaren Gedankenaustausch und die geschilderten Eindrücke.
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Im Februar 1981 demonstrierten 100.000 Menschen – trotz eines Verbots – gegen den Bau des Atomkraftwerks im schleswig-holsteinischen Brokdorf. Dabei kam es zu Konfrontationen von Polizist*innen und Anti-Atomkraft-Demonstrierenden. In Anbetracht der Vorfälle in Brokdorf legte das Bundesverfassungsgericht klare Leitlinien für konfliktträchtige Situationen fest: Darin wurde die Polizei zur Zusammenarbeit mit Protestorganisator*innen verpflichtet (Kooperationsgebot). Auch gilt seitdem Demonstrierende differenziert zu behandeln und nicht den gesamten Protestzug für Delikte einzelner Verhaltensstörer oder einzelner gewaltbereiter Gruppen in Haftung zu nehmen (Differenzierungsgebot).
- 7.
https://www.gesetze-im-internet.de/versammlg/index.html (darin: § 14 ff.) (Zugegriffen: 28. März 2022).
- 8.
Diese ausschlaggebenden Feld- und Fachkompetenzen müssen von der Polizeiführung aktiv gesucht und ggf. ausgebildet werden, um auch Kooperationsgespräche zu konfliktbehafteten Themen und Sachverhalten bzw. in konfrontativen Ausgangslagen zum erwünschten Erfolg zu führen. Eine weiterführende Betrachtung über das Rollenverständnis einer neutralen Moderation und Prozessbegleiters sowie über wichtige Grundhaltungen der moderierenden Person scheint mir zweckdienlich.
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Im Gegensatz dazu sieht Heinrich Bernhardt, Polizeipräsident a. D. die Versammlungsfreiheit und staatliche Sicherheitsgewährleistung im Widerstreit und spricht dem freiwilligen und eben nicht obligatorischen „Gebot“ in sicherheitsmäßiger Hinsicht die erwartete Wirkkraft ab (Bernhardt, o. J., S. 3), https://www.gdp.de/id/dp201910/%24file/VersammlungsrechtTeil2.pdf (Zugegriffen: 28. März 2022).
- 10.
Bei einer fehlenden Kooperation seitens des Veranstalters, zumal bei konfrontativer Ausgangslage, wird die Eingriffsschwelle für die Versammlungsbehörde/Polizei für Auflagen deutlich herabgesetzt.
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Die Frage nach engen und weiten Ermessensspielräumen der Polizei ist auch an die juristische Einordnung nach Straftat (Verstoß gegen das sog. Vermummungsverbot) oder Ordnungswidrigkeit (Verstöße gegen Auflagen) gebunden.
- 12.
Siehe weitreichende Brokdorfentscheidung von 1985 (BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985–1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81).
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Küppers, JP. (2023). Partizipatives Konfliktlösungsverständnis: Kooperative Planung und Konfliktbearbeitung durch Partizipation und Kommunikation. In: S. Staller, M., Zaiser, B., Koerner, S. (eds) Handbuch Polizeipsychologie. Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40118-4_25
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