Zusammenfassung
Die bisherige soziologische Dramenanalogie, so die These, erweist sich als defizitär, gerade weil sie ihren experimentellen Charakter verschleiert. Eine Berücksichtigung und Akzentuierung des Dramas als relevante Gattung für literatursoziologische Unternehmen ist dafür die erste Voraussetzung. Anhand der Diagnose und Konjunktur sozioautobiografischer Schreibformen der Gegenwart, werden in einem zweiten Schritt erste Überlegungen zu einer Methodologie der Soziologie des Schauspiels durchgespielt. Diese Experimentalanordnung schärft den Blick dafür, dass in theatralen Praxen gesellschaftliche Prozesse nicht bloß abgebildet, sondern in neuen Konstellationen erscheinen. Die sozioautobiografischen Lektionen führen somit vor, inwiefern Übergänge zwischen Soziologie und Theater als aktuelle Formen kultureller Selbstproblematisierung fungieren.
Ein Mensch verkörpert einen anderen.
Helmut Plessner
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Notes
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In den letzten Jahren sind mitunter auch intensivere Debatten mit anderen, noch nicht erprobten Disziplinen losgetreten worden, wie zum Beispiel zwischen Romanistik und Soziologie. Neuartig ist daran, dass die Stoßrichtung nicht von der Soziologie ausgeht. Beispielhaft das DFG-Projekt „Bourdieus Erben. Zur Rückkehr der Klassenfrage in der französischen Gegenwartsliteratur“: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/449669912?context=projekt&task=showDetail&id=449669912&
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Eine damit in Verbindung zu bringende Intellektuellensoziologie (Moebius 2010a), wie auch exemplarische Fallstudien unter Berücksichtigung der Sozialfigur des Medienintellektuellen (Moebius 2010b) stehen in diesem Feldzusammenhang noch an. So ließen sich beispielsweise erkenntnisversprechende Einsichten gewinnen, wenn Didier Eribon als Medienintellektueller betrachtet würde.
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Für eine Akzentuierung von Literatur als Soziologie, die den literarischen Text als Quelle für soziologische Analysen abseits quantitativer Methodensettings betrachtet, exemplarisch: „Soziologie solle in systematischer Weise auf Belletristik zurückgreifen.“ (Kuzmics und Mozetic 2003: 67).
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Am speziellen Beispiel der Berliner Volksbühne diskutiert: Bogusz, Tanja (2015): „Institution und Utopie. Was die Soziologie vom Theater lernen kann“. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart: Ästhetik, Produktion, Institution Schößler, Franziska/Bähr, Christine, Bielefeld: transcript, S. 157–166.
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https://www.schaubuehne.de/de/produktionen/rueckkehr-nach-reims-2.html [abgerufen am 05.06.2022].
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https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm/ein-mann-seiner-klasse.1278430 [abgerufen am 05.06.2022].
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Einer sozialreformerischen Soziologie oder einer normativen Sozialphilosophie soll hier aber keineswegs der Weg geebnet werden. Vielmehr erweist sich der Dialog zwischen Soziologie und Literatur (Theater) als neuartige Weise Gesellschaftstheorie zu betreiben, in der durch Versinnlichung deutlich wird, wie die von Latour vorbereitete „zirkulierende Referenz“ (Latour) im Sozialen selbst wirkt, und möglicherweise durch eine ›figurative Referenz‹ erweitert werden kann.
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Hiden, R. (2023). Zur Soziologie des Schauspiels (sozioautobiografische Lektionen). In: Magerski, C., Steuerwald, C. (eds) Literatursoziologie. Literatur und Gesellschaft. Literatursoziologische Studien. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-39816-3_10
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Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
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