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Kirche der Gewissen oder das Gewissen der Kirche?

Innerkirchlicher Pluralismus in der Spannung zwischen individuellem Gewissensentscheid und Allgemeinverbindlichkeit

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  • First Online:
Pluralität und Pluralismus in der evangelischen Friedensethik

Part of the book series: Gerechter Frieden ((GEFR))

  • 514 Accesses

Zusammenfassung

Die christliche Hochschätzung des Gewissens reicht weit zurück. Zentrale Wegmarken führen von Paulus und dessen Unterscheidung zwischen einem „schwachen“ und einem „starken“ Gewissens (1 Kor 8) über Martin Luthers legendäre Berufung auf sein Gewissen, die er den weltlichen und geistlichen Autoritäten seiner Zeit entgegenschleuderte, bis hin zu einer Gesamtinterpretation des Protestantismus als „Gewissensreligion“ (Holl 1948, S. 35), deren Prinzip die innere Glaubens- und Gewissensfreiheit wurde. Zugleich reicht die christliche Hochschätzung des Gewissens über das Christentum hinaus, indem sie auch das Selbst- und Rechtsverständnis von Menschen prägt, die sich nicht der christlichen Religion zugehörig fühlen.

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Notes

  1. 1.

    Ein Gewissensentscheid kann stets nur individuell sein. Dies spiegelt sich im deutschen Grundgesetz Art. 4 Abs. 1 wider, wenn dort die Gewissensfreiheit als individuelles Freiheitsrecht gefasst wird, das nur vom Einzelnen für sich je persönlich in Anspruch genommen werden kann. Dieser Auffassung steht es jedoch explizit nicht entgegen, dass die Herausbildung der eigenen Meinung sowie die ethische Urteilsbildung, auf die sich ein Gewissensentscheid bezieht, auf die Kommunikation mit anderen angewiesen ist und im Austausch mit anderen Perspektiven erfolgt. Dabei sind zwei Aspekte hervorzuheben. Erstens, Menschen können sich aus gemeinsamen, geteilten Gewissensgründen zu einem gemeinsamen Handeln entschließen. Die Verantwortung für die Gewissensentscheidung geht dabei jedoch nicht auf das Kollektiv über, sondern verbleibt beim Einzelnen. Dem wird aus rechtlicher Perspektive Rechnung getragen, wenn allfällige Strafen etwa bei strafbarem zivilen Ungehorsam aus Gewissensgründen nicht kollektiv, sondern individuell auferlegt werden. Zweitens ist von einem „Kollektivgewissen“, das auszuschließen ist, ein „Kollektivethos“ zu unterscheiden. Dieses Kollektivethos bezieht sich auf gemeinsame, geteilte Lebensinteressen und tiefgreifende Überzeugungen, die sich wiederum aus einer Vielzahl an sozio-kulturellen, religiösen bzw. weltanschaulichen Quellen speisen. Während die Bildung des individuellen Gewissens (vgl. 4.1) nicht unabhängig vom Kollektivethos verläuft, ist es nicht zwangsläufig mit diesem identisch.

  2. 2.

    „Remurmurare malo et inclinare ad bonum“ (Thomas von Aquin 1986, q 16 a. 1 ad 12).

  3. 3.

    Für den „Philosophen des Protestantismus“ Immanuel Kant hingegen ist „ein irrendes Gewissen“ geradezu „ein Unding“. Um die Irrtumsfreiheit des Gewissens nicht zu gefährden, schreibt Kant daher die Anwendung auf konkrete Urteile und Handlungen nicht dem Gewissen selbst zu, sondern dem praktischen Vernunfturteil (Kant 1907, S. 401).

  4. 4.

    „Cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit.“

  5. 5.

    Luther bedient sich hier des Bildes eines Kuchens, dessen Bestandteile nicht mehr voneinander zu trennen sind. „[…] also kann man auch das gewissen nit tadlen, wann es ist ain kuchen worden auß dem wort und glauben“ (Luther 1522, S. 271).

  6. 6.

    Im Alten Testament ist es oftmals das „Herz“, das die Funktion des Gewissens übernimmt (vgl. 1 Sam 24,6; 1 Kön 2, 44).

  7. 7.

    Vgl. Röm 2, 15, 1 Kor. 8, 7–13.

  8. 8.

    Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 12, 45 < 54 f.> .

  9. 9.

    „Conscientia enim not est virtus operandi, sed virtus iudicandi, quae iudicat de operibus.“

  10. 10.

    Dem hohen Gut des Schutzes des Gewissenentscheids durch den Staat entspricht daher dessen Forderung nach Transparenz: „Je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaftspflicht ist, mit der die vorgetragene individuelle Gewissensentscheidung in Konflikt gerät, umso weniger kann der die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat darauf verzichten, im Rahmen des Möglichen die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen.“ BVerGE 48, 127 <168 > II.

  11. 11.

    Zum ethischen Thema wird das gute Gewissen in Ausnahmesituationen, etwa wenn Unrechtsstrukturen den Unrechtscharakter verdecken und somit Unrecht zum Normalfall wird. In Unrechtsstaaten wie dem Naziregime können ethische Begrifflichkeiten wie Tugend oder Pflicht und auch das gute Gewissen pervertiert werden, so dass etwa auch Massenmorde „pflichtbewusst“ und mit „gutem Gewissen“ ausgeführt werden.

  12. 12.

    Befürworterinnen und Befürworter der ersten Position stehen vor der Frage, wie sie den möglichen Einsatz von Atomwaffen durch diejenigen verantworten können, die weniger Skrupel und Hemmungen haben als sie selbst. Mit der zweiten Position geht das ungelöste Problem einher, dass beim Einsatz von Atomwaffen in jedem Fall Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung unumgänglich sind. Die dritte Position steht vor einem Glaubwürdigkeitsproblem, wenn mit Nuklearwaffen nur gedroht, ihr Einsatz aber kategorisch ausgeschlossen wird. Vgl. Werkner (2019, S. 151 f.).

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Schliesser, C. (2022). Kirche der Gewissen oder das Gewissen der Kirche?. In: Stoppel, H., Polke, C. (eds) Pluralität und Pluralismus in der evangelischen Friedensethik. Gerechter Frieden. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35738-2_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-35738-2_6

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