Zusammenfassung
Die Filmtheorie der 1920er- und frühen 30er-Jahre in Deutschland lehnt den Rückgriff auf filmisch exponierte Dinge, denen durch wiederholten Gebrauch eine konventionelle Symbolik zugewachsen ist, weithin ab. Während dies anderswo als problemlos oder gar als Chance für filmische Abstraktion und „Begriffsbildung“ gilt, dominiert im deutschen Diskurs mit seiner phänomenologischen (Balázs, Kracauer) und formästhetischen (Arnheim) Tendenz eine tiefe Abneigung gegen „Ideogramme“. Letztere wurzelt teils im sprachkritischen Denken, teils im Gattungsspezifik-Diskurs der klassischen Ästhetik. Am Fall der kreativen Aneignung der hier pars pro toto analysierten Symbolik des Vogelbauers im Kino jener Jahre, auch im deutschen, wird gezeigt, wie die Filmpraxis theoretische Vorbehalte überschreitet und den Boden für spätere Theorieentwicklungen bereitet.
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Notes
- 1.
Eisner verweist hier auf Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (D 1927) von Walter Ruttmann und auf Rennsinfonie (D 1928) von Hans Richter.
- 2.
Es ist bezeichnend, dass Alexandre Astruc (1964, S. 112) seiner 1948 verfassten Schrift zur camera stylo diesen Satz von Orson Welles als Motto voranstellte: „Was mich am Film interessiert, ist die Abstraktion.“ Auf die filmologischen Beiträge von Gilbert Cohen-Seat und Edgar Morin zu diesem Diskurs wird noch eingegangen.
- 3.
Zum Verhältnis von „Weltbild“ und „Filmbild“, vgl. Arnheim (1974, S. 21–47).
- 4.
Arnheim spielt hier an auf Das Lied vom Leben (D 1931), Regie: Alexander Granowski.
- 5.
Diesen Diskurs habe ich anderorts ausführlicher dargestellt, vgl. Schweinitz (2006, S. 197–223).
- 6.
Dieses Thaumatrop mit Vogel/Bauer wird in dem medienhistorischen Film von Werner Nekes Was geschah wirklich zwischen den Bildern? (D 1986) vorgeführt.
- 7.
Der Vogelbauer ist ein Objekt, das letztlich der Ausstellung des Vogels dient.
- 8.
Auch der Vogelbauer in der Exposition von Asphalt lässt sich nicht nur als Sinnbild des bürgerlichen Familienfriedens lesen, wie dies Eisner tut und wie es immer dann der Fall ist, wenn der Bauer als Accessoire der Rentnerhäuslichkeit des Vaters erscheint, sondern in der Einstellung der Exposition (siehe Abb. 1) auch als Hinweis auf das Gefangensein in der urbanen Welt der Moderne.
- 9.
Eine in diesem Sinne besonders ausgeprägte Rolle spielt die Suppenterrine etwa in den Straßenfilmen mit ihren aus der Häuslichkeit ausbrechenden Protagonisten.
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Schweinitz, J. (2022). Der Vogelbauer und das Kino der 1920er Jahre. Kritische Diskurse der klassischen Filmtheorie zu den symbolischen Dingen. In: Bulgakowa, O., Mauer, R. (eds) Dinge im Film. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-35261-5_2
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