Zusammenfussang
Was bekommt man zu sehen, wenn sich die Soziologie als die Wissenschaft vom Sozialen mit der Kunst beschäftigt? Wie thematisiert die Soziologie Fragen des Kunstwahrnehmens? Welche Wertungen der Beobachtungswissenschaft Soziologie werden hier sichtbar? Diesen Fragestellungen widmet sich der vorliegende Beitrag. Die Konzeption des Kunstwahrnehmens der Kritischen Soziologie Pierre Bourdieus wird mit der im Umfeld der ANT angesiedelten Position Antoine Hennions konfrontiert, und aus dieser vergleichenden Betrachtung eine Methodologie für das Beforschen von Kunstausstellungsbesuchen entwickelten, die den Fallstricken beider Beiträge entkommt
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Notes
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Als Gegengewicht zur naturalistischen Aufklärung wird in der Romantik die idealisierte Konzeption Rousseaus zur Idee individueller Selbstverwirklichung fortentwickelt. Jeder einzelne wird nun zum „Dombauer an der Kathedrale seiner Persönlichkeit“ (Schmitt 1998 [1919], S. 21). Das Individuum selbst schafft seine Werte und Ziele. Es gibt keine Regeln, die zu lernen sind, keine äußere Kontrolle, es gibt keine Struktur, die man verstehen muss. Vgl. Rousseau 2010 [1829], S. 191–194; Recki 2004, S. 26–28; Vogt 2002. S. 272 f.; Berlin 2013, S. 119.
- 2.
Im Rahmen der Studie wurden in 2019 die Ai Weiwei Retrospektive im K20 und K21 in Düsseldorf, der Ausstellung „Parallax Symmetry“ zu Carsten Nicolai im K21, Cady Noland im MMK in Frankfurt/Main und der Ausstellung „Triumphant Scale“ zu El Anatsui im Haus der Kunst in München von der Autorin dieses Beitrags und sechs Studierenden der Kunstakademie Düsseldorf und der Universität Bielefeld (Freie Kunst und Soziologie) mit jeweils einer Person aus dem erweiterten Bekanntenkreis der Forschenden begangen. Hierbei wurden insgesamt 14 Begehungen durchgeführt.
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Denn in die Dinge und die Körper ist nach Bourdieu die existierende Machtungleichheit im Rahmen einer „doppelten Naturalisierung“ (Bourdieu 2001, S. 232 f.) eingeschrieben. Sie wird im Rahmen der alltagsweltlichen Praxis fortwährend reproduziert und übt so symbolische Gewalt aus. Zum Zwecke der Emanzipation müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse daher der alltagsweltlichen Praxis entrissen werden und differenziert in autonomen Feldern rationalisiert werden.
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Die Felder halten ihre relative Autonomie dadurch aufrecht, dass sie an ihrem autonomen Pol eine eigenständige Sichtweise auf die Welt herstellen und hierbei auf kulturelles Expertenwissen zurückgreifen. Die Praxis der autonomen Wirklichkeitssetzung eines Feldes, basiert so auf einem eigenen, ausdifferenzierten Wissenskanon und eigenen Praktiken des Wahrnehmens. Verlieren dieser Wissenskanon und die Praktiken des Wahrnehmens ihre Autonomie, so läuft das Feld Gefahr Tendenzen der Monopolisierung, wie etwa der Ökonomisierung hilflos zum Opfer zu fallen, da es der ökonomischen Weltsicht keine andere, ähnlich weit entwickelte Weltsicht entgegensetzen kann.
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Zahner, N.T. (2021). Zwischen Sinnlichkeit und Sinn. Kulturen der Kunstbetrachtung. In: Berli, O., Nicolae, S., Schäfer, H. (eds) Bewertungskulturen. Soziologie des Wertens und Bewertens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33409-3_5
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