Zusammenfassung
Der Umgang mit den Widersprüchen und Paradoxien des ganz normalen Organisationsalltags drängt sich Führungskräften in Form Kritischer Situationen auf. Dies insbesondere den Führungskräften auf der mittleren Managementebene (in der Verwaltung also dem Höheren Dienst), in deren Verantwortungsbereich mehrere Organisationseinheiten (Abteilungen, Referate, Teams) mit ihren unterschiedlichen Fachlichkeiten und lokalen Rationalitäten fallen. Zugleich haben es Führungskräfte hier mit einer entsprechend komplexen Umwelt zu tun, die nicht nur aus dem fachbereichsspezifischen Publikum, sondern auch der Politik, den Medien, anderen Verwaltungen, der fachbereichstypischen Rechtsthematik usw. besteht. Die latenten Spannungen in diesen inneren und äußeren Kontexten der (Amts-)Organisation werden in den Kritischen Situationen direkt erfahrbar. In diesem Sinne wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Kritischen Situationen der eigentliche Arbeitsgegenstand einer professionellen Führung sind. Hier bieten sich gleichermaßen die Chance und die Zumutung, die Organisation an eine sich verändernde Umwelt wie auch an die internen Herausforderungen und Entwicklungsbedarfe anzupassen. Dass Führung dabei selbstverständlich auf die Routinen, organisationskulturellen Selbstverständlichkeiten und Immunisierungstendenzen der Organisation stößt, ist unvermeidlich. Aber schließlich: In der entwicklungsorientierten Irritation dieser Schließungsmechanismen und der kontinuierlichen Erzeugung eines Alternativenbewusstseins bei nachgeordneten Führungskräften und Mitarbeitern besteht die Professionalität der Führung im mittleren Verwaltungsmanagement.
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Notes
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Die folgenden Ausführungen orientieren sich an den Ausführungen von Uwe Schimank zum Entscheidungshandeln: Schimank 2005, S. 41–79.
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In diesem Sinne muss man sagen: Eine kritische Situation ist eine sozial konstruierte Wirklichkeit – auch dann, wenn etwa im betrieblichen Qualitätsmanagement Fehler, Qualitätsmängel, Kundenbeschwerden u. ä. Ereignisse statistisch erfasst und objektivierend dokumentiert bzw. inszeniert werden.
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Eine solche schwierige Pionierphase von Verwaltungen lässt sich aktuell gut studieren am Zollkriminalamt, das wichtige Aufgaben vom Bundeskriminalamt (BKA) übernommen und nun – ohne fachliche und entsprechende organisationale Vorerfahrungen – eine „Zentralstelle für Finanzuntersuchungen“ betreiben soll: Für viele Fachleute aus dem BKA, den Landeskriminalämtern sowie der Berufsvertretung der Kriminalisten (BDK) eine Überforderung. Für Verwaltungen gilt also nicht schlechterdings der webersche Idealtypus als immer schon funktionierende Mechanik – auch Verwaltungen „durchleben“ eine mehr oder weniger schwierige „Pionierphase“ und brauchen Zeit, um sich als funktionierende Bürokratie zu etablieren: History matters!
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Es handelt sich hier ja nicht nur um „brauchbare Illegalität“ i. S. Luhmanns (1964, S. 304–314), sondern auch um das mit den Routinen anwachsende Dienstwissen (Erfahrung, Intuition, implizites Wissen), mithin das erfahrungsgeleitete bzw. subjektivierende Arbeitshandeln, das für den kompetenten Aufgaben- und Leistungsvollzug so unerlässlich ist.
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Exemplarisch hierzu etwa der Kölner Polizeiskandal um die Wache „Eigelstein“ im Jahr 2002, s. Behrendes 2014, S. 147–186.
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Barthel, C. (2020). Kritische Situationen – der entscheidende Arbeitsgegenstand der Führung. In: Führung in Verwaltung und Polizei . Springer Gabler, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31982-3_4
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