1.1 Ziele, Erkenntnisinteresse und Fragestellung

Immer mehr stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Menschen, die im Zuge von Flucht, Vertreibung und Migration nach Deutschland einwandern und an vermeintlich fixen Zugehörigkeiten und Grenzen rütteln. Wie kaum eine andere gesellschaftspolitische Frage löst sie Affekte in der breiten Masse der deutschen Gesellschaft aus, welche ihre Anfälligkeit und Verletzbarkeit erkennbar machen. Dies ist umso mehr der Fall, wenn es um die asylrechtlich „Geduldeten“ geht, deren soziale Ausgrenzung bis an den äußersten Rand der Gesellschaft den menschenrechtlichen Rahmen des Systems Asyl infrage stellt. Innerhalb der deutschen Bevölkerung nimmt das Gefühl der Bedrohung durch ausländische Menschen zu (Infratest dimap 2017), und die Themen Migration und Zugehörigkeit werden im öffentlichen Diskurs immer bedeutender. Parallel dazu erstarkt die emotionale und kulturelle Desintegration, also die Empfindung, sich nicht mehr mit dem eigenen Land identifizieren zu können (Bade 2016). Kulturelle Selbstbeschreibungen, die ehemals als „sicher“ galten, zerfallen und lassen einen teils dystopischen Identitätsdruck entstehen, welcher zumeist in der Fluchtmigration die Wurzel sozialer Probleme und Konflikte sieht. Die daraus resultierende Verunsicherung stellt die Rolle und den Wert eingewanderter Menschen für unsere gegenwärtige Gesellschaft infrage. Die Zweifel rühren unter anderem daher, dass Geflüchtete nicht bloß in einem schwer zugänglichen Verhältnis zu westlichen Prinzipien stehen, sondern die Hybridität des neuen, spannungsvollen Raums dafür nutzen, kulturelle Bedeutungen neu zu übersetzen und zu verändern. Obwohl die Zahl geflüchteter Menschen aus den Jahren 2015 und 2016 nicht mal ein Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands beträgt, steigen Überfremdungsängste an und werden von rechten Gruppierungen mit der Identitätsfrage verknüpft. Trotz der Irrationalität solcher Ängste wird die Verunsicherung kontinuierlich größer und schafft einen Nährboden für Ressentiments. Entsprechende Gefühle geben Chauvinismen jeglicher Couleur und simplifizierenden Vergeltungsnarrativen Auftrieb. Ressentiments und ängstliche Zweifel produzieren angesichts der Betonung des Stolzes auf die „eigene Gruppe“ eine gefährliche Selbstüberhöhung, die populistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen in die Hände spielt. Die Glorifizierung der „eigenen Gruppe“ geht mit der Diskriminierung, Segregation und Unterwerfung Geflüchteter einher. Diese Trennung und Unterordnung beginnt im Vorhof der Wohlstandsnationen mit der Institution Asyl. In dieser Zwischensphäre entscheidet sich, wer zum privilegierten Kreis des Westens gehören und mit welchen Rechten und damit Handlungsmöglichkeiten er*sie versehen wird. Die daraus entstehenden systematischen Ungleichheiten werden durch Narrative gerechtfertigt, die notleidende und schutzbedürftige Menschen in „gute“ und „schlechte Flüchtlinge“ kategorisieren. Dabei kommt es zur Etablierung soziokultureller Praktiken und Repräsentationsmechanismen, die Fluchtmigrierende den erwähnten Kategorien zuschreiben. Auf der einen Seite stehen die wenigen, die Asyl „verdienen“ und entsprechend Schutz und Anerkennung erhalten, auf der anderen Seite jene, die sich dieses Menschenrecht „nicht verdient“ haben, weil sie angeblich zu Unrecht geflüchtet sind. Letztere werden zumeist als „Wirtschaftsflüchtlinge“ dargestellt, sprich als Migrant*innen, die freiwillig und ohne Zwang von außen ihre Heimatländer verlassen haben, um den ökonomischen Wohlstand westlicher Staaten auszubeuten. Dieser Diskurs klammert historische, politische und wirtschaftliche Verhältnisse und sich daraus ergebende Mechanismen vollständig aus, verlagert die Schuld auf die Vertriebenen selbst und hierarchisiert diese. In Deutschland prominent, verkennt er indes auf perfide Art die eigene Rolle in dieser komplexen und globalen Dynamik.

Den Flüchtenden wird es in den Ankunftsländern nicht leicht gemacht. So sind langjährige Asylprozesse, die teils über fünf Jahre dauern und in denen abgelehnte Asylbewerber*innen auf behördliche und gerichtliche Urteile warten müssen, nicht selten. Die Aushandlungsprozesse und Kämpfe im Zusammenhang mit der Frage, wer dazugehören darf und wer nicht, verweisen auf aktuelle und weltweit zu beobachtende Konflikte um das Recht auf Rechte und auf ein menschenwürdiges Leben. Diese Konflikte sind besonders in den Jahren 2015/2016 deutlich sichtbar geworden, nachdem für kurze Zeit die gesamte Architektur des Verhältnisses von „Wir“ und „den Anderen“ zusammengebrochen war, und zahllose Menschen im sogenannten „Sommer der Migration“ 2015 die Grenzlinien Europas erreichten. Dies warf ein Schlaglicht auf die marode Struktur des europäischen Grenz- und Migrationsregimes, das angesichts zahlloser Faktoren – deren wichtigste die Folgen des Arabischen Frühlings von 2011, die Fluchtbewegungen aus Syrien und Nordafrika, der Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi sowie der Zusammenbruch des Dublin-Systems waren – immer mehr in Bedrängnis kam und schließlich erschüttert wurde. Das angeschlagene Grenzregime versinnbildlicht dabei das Verhältnis europäischer Wohlstandsnationen zu vertriebenen Menschen und zeigt die verstörende Realität des Flucht- und Migrationsgeschehens auf. Als Kern des Grenzregimes stellt die Instanz „Asyl“ über die erwähnte Auslese und Einteilung in „gute“ und „schlechte Flüchtlinge“ hinaus sicher, dass Asylbewerber*innen eine bestimmte soziale Rolle in den Ankunftsländern zugewiesen wird.

Hier knüpft diese Arbeit an, die dem Prozess der affektiven Identitätsneukonstruktion – verkörpert durch den „abgelehnten Flüchtling“ – im Ankunftskontext des Ziellandes Deutschland besondere Aufmerksamkeit schenkt. Welche Existenz den Fluchtmigrierenden im Zuge des Asylprozesses aufgezwungen wird und welche Auswirkungen die verschiedenen Spielarten von An- bzw. Verkennung auf die Emotionen und die Identität der eingewanderten Menschen haben, steht im Zentrum dieser Arbeit. Auf Grundlage der empirischen Ergebnisse einer einjährigen Feldforschung in Berlin wird der Versuch unternommen, die komplexen Facetten der affektiven Relationierung des Individuums in diesem Prozess der Neufindung zu elaborieren. Dies findet im Rahmen sozialphänomenologisch orientierter Lebenswelt-Analysen statt, die auf mehrphasigen explorativen Interviews mit abgelehnten afghanischen Asylbewerber*innen auf Farsi und Dari beruhen. Neben der ausführlichen Beschreibung und Analyse emotionaler Ausdrucksweisen und Bewältigungsstrategien ist es ein zentrales Anliegen dieser Studie, den Zusammenhang zwischen Anerkennung und Affekten im spannungsgeladenen Raum des Asyls in Berlin herauszustellen. Asylbewerber*innen werden von Beginn an mittels unterschiedlicher Angriffe auf ihr Selbst sozial ausgegrenzt, abgewertet und in ihrer Subjektivität vollkommen verkannt. Dieser Vorgang der Inferiorisierung steht dem ankommenden Menschen bevor, der in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Hegel als „Knecht“ bezeichnet wird. Die Nichtanerkennung seitens des „Herrn“ mündet in einer Bewegung der Selbstunterwerfung des „Knechts“, der in einem Raum voller Spannungen und Ambivalenzen, dem sogenannten „Dritten Raum“ (Bhabha 2000), Stück für Stück seine bisherige Identität und soziale Existenz aufgibt. Auf der These der Unterwerfung des in der Institution Asyl gefangenen Menschen liegt das Augenmerk dieser Arbeit. Um den Prozess der Unterwerfung mit Blick auf affektive Dynamiken adäquat nachzeichnen zu können, werden die Resultate der Forschung konsequent auf das Konzept der „totalen Institution“ von Erving Goffman angewendet. Die Idee der Totalität des Erlebens und Empfindens eines Menschen, der mit dem Eintritt in eine „totale Institution“ gleichsam seine soziale Existenz verliert, entwickelte Goffman in seiner Studie Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und Insassen (1973). Das Konzept der Totalität wird hier auf den Asylbereich übertragen und mit unterschiedlichen Emotions–, Kultur- und Anerkennungstheorien verknüpft, um so neue Einsichten auf die Emotionsarbeit von Geflüchteten – hier aus Afghanistan – zu erhalten. Aus der Perspektive der von den unterdrückten Individuen bewohnten Ränder und Zwischenräume der Moderne und ausgehend von ihren Narrativen werden ihre Emotionen sowie ihre Handlungs- und Widerstandsstrategien mithilfe postkolonialer Ansätze nachgezeichnet. Im Zuge dessen werden Emotionen sowie Ausdrucksweisen und Handlungen, die daraus entspringen, explizit nicht pathologisiert. Die zentralen Forschungsfragen dieser Arbeit lauten:

Wie konstituieren sich die Lebenswelten afghanischer Asylbewerber*innen unter besonderer Berücksichtigung der emotionalen Erfahrung des Asyls?

Wie entsteht Handlungsmächtigkeit im spannungsgeladenen Raum Asyl und welche Strategien verfolgen die Individuen?

Wie drücken sie sich emotional aus; welche Themen beherrschen ihre Lebenswelten?

Entscheidend ist für das hier skizzierte wissenschaftliche Erkenntnisinteresse, dass Geflüchtete aus Afghanistan selbst zu Wort kommen, dass sie ihre Geschichten erzählen und ihre Perspektiven aufzeigen. Es wird nicht der Anspruch erhoben, die Sicht der Institutionsmitarbeiter*innen zu erfassen und wiederzugeben, sondern es geht darum, die emotionale Erfahrung des Asyls aus der Perspektive afghanischer Asylbewerber*innen zu beschreiben. Zu diesem Zweck wurden insgesamt 18 Interviews durchgeführt. Das Herzstück der Arbeit bilden sechs Fallstudien, die auf mehrphasigen Interviews basieren. Zentrales Anliegen der Untersuchung ist es, die Bedeutung von Affekten und Emotionen im spannungsgeladenen Raum Asyl und die konkreten Auswirkungen und Implikationen des Lebens im Zwischenraum für das Individuum, das den psychopolitischen Angriffen ausgesetzt ist, zu veranschaulichen. Beschreibungen und Untersuchungen, welche die radikale soziale Ausschließung Geflüchteter festhalten, bergen eine enorme Sprengkraft, weil sie in höchstem Maße systemkritisch sind und schmerzhaft ins Mark des westlichen Grundverständnisses treffen. Gemeint sind hier vor allem Fragen nach der Wirksamkeit der Menschenrechte im Kontext humanitärer Zuwanderung, nach der Theorie und Praxis des EU-Grenzregimes – und damit der permanenten Produktion eines „Wir“ innerhalb und eines „Ihnen“ außerhalb der Wohlstandsnationen – sowie nach dem prekären Status zahlloser Menschen, die sich als Asylbewerber*innen in jenen Wohlstandsnationen aufhalten. Vor allem wird das Nachdenken über die Zusammenhänge zwischen Emotion, Anerkennung und Identität im Bereich Asyl aus einem neuen Blickwinkel angeregt.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Der erste Teil stellt den heuristischen Rahmen vor und legt wesentliche Informationen zum Asylprozess afghanischer Asylbewerber*innen in Deutschland, das methodische Vorgehen sowie die theoretischen Ansätze dar. Der zweite Teil präsentiert die empirischen Befunde und untersucht diese. Nach der Einleitung, die im Folgenden noch den Stand der Forschung mit einem Fokus auf „totale Institutionen“ und Emotionen darlegen wird, erläutert das zweite Kapitel die wesentlichen Aspekte der gewählten Methodologie. Zunächst werden das Untersuchungsfeld und die Rolle des Forschenden darin beschrieben (Abschn. 2.1). Anschließend geht es um die sozialphänomenologischen Grundlagen von Lebenswelten (Abschn. 2.2), um im nächsten Schritt die Anwendung der Grounded Theory zu erläutern (Abschn. 2.3). Die zentrale Methode, das mehrphasige explorative Interview, wird anschließend aus Sicht der vorliegenden Forschung reflektiert (Abschn. 2.4). Gedanken zu selbstreflexiven Anteilen im ethnografischen Teil schließen das Methodologie-Kapitel ab (Abschn. 2.5).

Das dritte Kapitel behandelt die Situation afghanischer Geflüchteter in Deutschland. Zunächst wird ein Überblick über Afghanistan als Herkunftsland von Geflüchteten gegeben (Abschn. 3.1). Danach stehen rechtliche Aspekte im Mittelpunkt, wobei sich der Blick vor allem auf abgelehnte Asylbewerber*innen in Deutschland richtet (Abschn. 3.2). Der Fokus liegt hierbei auf unterbringungs- (Abschn. 3.2.1) und asylverfahrensrechtlichen (Abschn. 3.2.2) Aspekten. Vor diesem Hintergrund wird das Kapitel mit einer kurzen Reflexion über den Begriff „Flüchtlingskrise“ abgeschlossen (Abschn. 3.3).

Im vierten Kapitel werden die forschungsrelevanten theoretischen Ansätze vorgestellt, die die Analyse maßgeblich beeinflussen. Zum einen handelt es sich um das Konzept der „totalen Institution“ von Goffman (Abschn. 4.1). Zum anderen sind die verschiedenen theoretischen Dimensionen des Phänomens Emotion relevant. Zuerst werden die Begriffe Emotion, Affekt und Gefühl umrissen und unterschieden (Abschn. 4.2.1), um darauffolgend das für die vorliegende Studie verwendete multidimensionale Emotionsmodell zu beleuchten (Abschn. 4.2.2). Im Anschluss werden zwei Theoriestränge aus der interdisziplinären Emotionsforschung resümiert, die für das Verständnis der Interpretationen im empirischen Teil relevant sind: das Emotionsmodell von Jack Katz (1999) (Abschn. 4.2.3) und die Theorie der „existenziellen Gefühle“ von Matthew Ratcliffe (2008) (Abschn. 4.2.4).

Des Weiteren bildet der Postkolonialismus eine wesentliche Grundlage für den Empirie- und Analyseteil (Abschn. 4.3). Hier spielen vor allem die Überlegungen von Gayatri Chakravorty Spivak sowie Homi K. Bhabha eine wichtige Rolle. Ihre kultur- und identitätstheoretischen Gedanken zur „Subalternität“ (Spivak), „Hybridisierung“ im „Dritten Raum“ und zu den spezifischen Strategien wie der „Mimikry“ (Bhabha) sind für den hier gewählten Ansatz maßgebend, (Abschn. 4.4 und 4.5). Anschließend wird Judith Butlers Ansatz zur Subjektwerdung resümiert, um ein Nachvollziehen der selbstunterwerfenden Bewegung des gefangenen Menschen unter die vorherrschende Macht aus einer nicht essenzialistischen Sicht zu ermöglichen (Abschn. 4.6). Geschlossen wird das Theorie-Kapitel mit anerkennungstheoretischen Erläuterungen, die Hegels Herr-Knecht-Figur explizieren und das Begehren des Subjekts nach (sozialer) Anerkennung und somit dessen Verletzlichkeit reflektieren (Abschn. 4.7).

Im zweiten Teil der Arbeit werden die Fallstudien vorgestellt und systematisch mit den theoretischen Ansätzen aus dem ersten Teil verknüpft. Im Vordergrund stehen sechs unterschiedliche Spielarten individueller Unterwerfungsprozesse, die in sechs verschiedenen Hauptkapiteln analysiert werden. Die Hauptkapitel stellen hierbei die zentralen Dimensionen bzw. Hauptkategorien der empirischen Befunde dar und bilden das Gerüst dieser Studie. Jedes Kapitel behandelt unterschiedliche Aspekte totalitärer Dynamiken und Merkmale auf der einen sowie entsprechender affektiver Bezugnahmen und Handlungsstrategien des gefangenen Subjekts auf der anderen Seite. In der Zusammenschau zeigen die sechs empirischen Kapitel die Unterwerfung des in der Institution Asyl gefangenen Menschen durch Angriffe auf dessen Selbstbehauptungskräfte. Nachgezeichnet wird dies an der Figur des gekränkten Flüchtlings. Das multidimensionale System Emotion spielt im Zuge der Kränkung und Neukonstruktion der Identität des unterworfenen Subjekts eine bedeutende Rolle. In seinem Verlangen, anerkannt zu werden, subordiniert sich der in der Institution Asyl gefangene Mensch knechtisch, aber nicht immer harmlos.

1.3 Stand der Forschung

Der Versuch, aus dem Prisma der „totalen Institution“ über die Emotionsarbeit von afghanischen Geflüchteten zu schreiben und dies mit emotions-, anerkennungs- und identitätstheoretischen Ansätzen zu verbinden, stellt ein Novum in der Sozial- und Kulturanthropologie dar. Die Zahl der Studien zu Affekten und Emotionen im Allgemeinen ist innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften in den letzten Dekaden explosionsartig angestiegen. Gefühle, ob als Affekt oder Emotion verstanden, haben Hochkonjunktur in den Wissenschaften. Emotionen wurden schon lange vorher innerhalb der soziologischen Forschung fokussiert und umfassend diskutiert, so etwa bei Max Weber, Talcott Parsons, Georg Simmel, Emile Durkheim, Alexis de Tocqueville, William Graham Summner, Gustave Le Bon, Vilfredo Pareto, Lester Frank Ward und Ferdinand Tönnies. Arlie Hochschild entwickelt schließlich in ihren bahnbrechenden Arbeiten (1979, 1983) in Anlehnung an Goffman ein Konzept von Emotionen als manipulierbare und organisierte Inszenierungen („display rules“ und „feeling rules“), die von soziokulturellen Emotionsnormen beeinflusst werden. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Fragen nach dem Selbst des Subjekts und der Identität, die unter anderem von Susan Shott (1979) und David Heise (1979) übernommen und weiterentwickelt werden. Norman Denzins Klassiker zur Emotionssoziologie On Understanding Emotion (1984) ebnete methodologisch und theoretisch den Weg für weitere herausragende Arbeiten der soziologischen Emotionsforschung. Thomas Scheff integrierte anschließend interaktionistische Konzepte mit psychoanalytischen Ansätzen (1988), und auch Jonathan Turners (1988) Arbeiten trugen wesentlich zum Verständnis von Emotionen bei. Mitte der 1990er Jahre erreichte der emotional turn auch Europa (Senge 2013: 16). Hier haben sich seitdem zahllose Schulen und Ansätze herausgebildet (Shiller 2000; Schnabel 2005; Döveling 2005; Kleres 2009; Scheve 2009; Scherke 2009; Schützeichel 2006, 2008; Neckel 2011; Senge 2012), die vor allem angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen und des „internationalen Kriegs gegen den Terror“ eine neue Bedeutungsdimension erhalten (Senge 2013: 18). Das transdisziplinäre Exzellenz-Cluster Languages of Emotion mit über 200 Wissenschaftler*innen wurde 2008 ins Leben gerufen (ebd.) und brachte die Klassifizierung und Differenzierung des fachspezifischen Wissens voran. Der Sonderforschungsbereich (SFB) 1171 Affective Societies der Freien Universität Berlin untersucht die Bedeutung von Affekten und Emotionen für das soziale Zusammenleben vernetzter Gesellschaften. Die Wissenschaftler*innen des SFB 1171 entwickeln dabei Konzepte, Begriffe und Ideen, an die die vorliegende Studie anknüpft, vor allem in Bezug auf das Verständnis von Affekten (vgl. Abschn. 4.2).

Diese Arbeit untersucht Emotionen und Affekte im Rahmen der „totalen Institution“. Im Bereich Asyl und Flucht ist die Bezugnahme auf das Konzept der „totalen Institution“ nicht neu. Bereits Henning et al. (1982) haben mit Blick auf die „psychische Situation der Asylbewerber aus der Dritten Welt im Sammellager Tübingen“ festgestellt, dass unter anderem psychische Krankheiten, Identitätsverlust, Drogen- und Alkoholmissbrauch und Regressionserscheinungen zu den zentralen Problemen gehören. Goffmans Konzept der „totalen Institution“ wird als ein Erklärungsversuch zum Zusammenhang zwischen psychischen Krankheiten und der Unterbringungsform herangezogen (ebd.: 53), doch kommt es nicht zu einer konsequenten Anwendung. Ebenso bleibt Goffmans Konzept auch bei Kormann und Saur (1997) sowie Dünnwald (2002) eine Randerscheinung. Vicki Täubig (2009) hingegen bezieht erstmals in ihrer Dissertation „Totale Institution Asyl“ das Konzept Goffmans systematisch auf die Asylsituation und untersucht mit ihm in Verbindung mit Migrationstheorien die alltägliche Lebensführung. Sie gelangt zu dem Ergebnis der „organisierten Desintegration“ und führt aus, wie der bürgerliche bzw. „menschliche“ Tod sich auf den verschiedenen Stufen der Arrangements der alltäglichen Lebensführung ereignet. Yvonne Albrecht bietet in ihrer Studie über Gefühle im Prozess der Migration eine reichhaltige Analyse der Emotionen von Migrant*innen aus Nordafrika (2010). Dabei wendet sie Jack Katz’ Perspektiven auf die empirischen Ergebnisse an und verknüpft diese mit Migrationstheorien. Im Bereich Asyl und Migration werden Emotionen gewöhnlich pathologisierend als innerpsychische Phänomene verstanden, wobei die betroffenen Personen implizit als passive „Opfer“ und nicht als handelnde Subjekte aufgefasst werden (z. B. Bhui et al. 2003; Porter/Haslam 2005; Scheifele 2008; Steel et al. 2009; Heeren et al. 2014; Campbell/Steel 2015; Whitsett/Sherman 2017). Studien, die Emotionen im Bereich Flucht und Migration explizit nicht pathologisieren, sind selten. Albrecht betont diesen Aspekt und liefert mit ihrer Analyse ein hervorragendes Beispiel. Ähnlich wie in der Studie von Mona Lindqvist (2013) stehen biografische Interviews von Migrantinnen im Vordergrund, die ihre Emotionsarbeit während des Integrationsprozesses beleuchten. Wettergren fokussiert die emotionalen Karrieren („emotional careers“) von Migrant*innen, die unfreiwillig aus Somalia, Eritrea und Äthiopien nach Europa kamen (Wettergren 2015). In diesem Kontext sind ebenso die Studien zu deservingness innerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie zu erwähnen, an die diese Arbeit anknüpft (vgl. insbes. Casati 2017; Hardy/Phillips 1999; Holmes/Castaneda 2016; Sales 2002; Walardt 2013; Wernesjö 2020). Letztere richten die Aufmerksamkeit auf die anfangs erwähnte Spaltung in „gute“ (deserving) und „schlechte Flüchtlinge“ (undeserving) und untersuchen, inwiefern Diskurse und soziokulturelle Kategorien gebildet werden, die die Vertriebenen selbst zu den „Schuldigen“ machen, ohne politische, wirtschaftliche und historische Zusammenhänge hinreichend zu berücksichtigen.